Spuren – das ist der Titel eines 1930 veröffentlichten Werkes von Ernst Bloch. Wieder muss ich Ovid und seine Ars amatoria zurückstellen, denn dieses Buch fiel mir dazwischen, quasi aus dem Regal vor meine Füße. Unschuldig begann ich zu blättern und entdeckte unsachgemäße Markierungen, die ich einst mit Bleistift auf den vergilbten Seiten hinterlassen hatte. Ich bin sicher, sie sind von mir und nicht wie die in meinem Beitrag zu Lolita. Jedenfalls habe ich mir angewöhnt auf diese Unterbrechungen zu hören. Nicht Folge zu leisten kostet entweder Zeit, Geld, Nerven oder alles zusammen – wer braucht das schon?! Also lasse ich nun bereits das zweite Mal meine Ausarbeitungen zu Ovid liegen und begebe mich mit Spuren auf die Suche: Ich folge Ernst Bloch.
Zu Ernst Bloch
Ernst Bloch (1885–1977) war ein bedeutender deutscher Philosoph und marxistischer Theoretiker, der für seine Arbeiten zur Philosophie der Hoffnung bekannt ist. „B. wollte von Jugend an das Unmögliche wahr machen: Vom schlechten Schüler mit einem Elternhaus, das ihm keine Bildung mit auf den Weg gab, zum bedeutenden Philosophen unseres Jahrhunderts, ganz nach dem Motto der Spuren: „Wie nun? Ich bin. Aber ich habe mich noch nicht. Darum werden wir erst.«“[1] Sein dreibändiges Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung entstand in der Zeit von 1938 bis 1947 und wurde in Amerika verfasst, der erste Band 1953 in der DDR veröffentlicht und in dem er die Rolle der Hoffnung in der menschlichen Existenz und in der Geschichte untersucht.
Bloch glaubte, dass die menschliche Geschichte von einem Streben nach Utopie und einer besseren Zukunft geprägt sei, und er betrachtete die Hoffnung als treibende Kraft des menschlichen Handelns. „Bringt man seine Philosophie auf eine Kurzformel, so muss man sagen: »S ist noch nicht P«; jedes Subjekt hat potentielle Möglichkeiten in sich, die es zu verwirklichen trachtet. Erst wenn das Subjekt alle in ihm liegenden Möglichkeiten realisiert hat, ist es vollendet.“[2] Bloch emigrierte während der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland und lehrte später an verschiedenen Universitäten in Europa und den Vereinigten Staaten. Seine Werke haben einen großen Einfluss auf die Philosophie, Sozialwissenschaften und Literatur des 20. Jahrhunderts gehabt und bleiben bis heute relevant.
Zum Begriff Spuren
„Der Begriff Spuren bezeichnet im Allgemeinen Abdrücke auf dem Boden oder im Schnee, die von Füßen, Rädern, Skiern oder Wildtieren hinterlassen werden. Die erweiterte Bedeutung verweist auch auf die Kondensstreifen von Flugzeugen oder die Furchen eines Gefährts. Im Gebirge oder im Wald kann der Begriff auch Wegstrecken oder Pfade, die keine bestimmte Abgrenzung haben, bezeichnen. Sie tauchen auf und verschwinden und stellen so Zeichen des Durchgangs in wenig bereisten Gegenden dar. Der bildliche Gebrauch des Begriffs Spuren ist sehr breit gefächert, da er auch ein Indiz, einen Rest, eine winzige Menge oder eine Kleinigkeit bezeichnen kann.“[3] Sehr umfangreich über die verschiedenen Bezeichnungen, die an das Wort geknüpft sind und seine Verwendung in verschiedenen Kontexten gibt das Wörterbuch der Gebrüder Grimm Auskunft.[4]
Jedenfalls denkt man auch an einen Ermittler oder an die Figur des Sherlock Holmes oder Agatha Christie, wenn man das Wort Spuren hört. „Der Detektiv, der sich auf die Suche nach den Spuren des Verbrechens begibt, wird so zum Modell für eine besondere Sensibilität – den ‚Spürsinn‘ – mit außergewöhnlichen Fähigkeiten (dem Tastsinn, dem Riechen), um das übersehene Detail, das scheinbar unbedeutende Fragment, zu finden. Insbesondere in seiner mit Umlaut geschriebenen verbalen Form ‚spüren‘ bezeichnet das Wort in diesem Zusammenhang eine Wahrnehmungsfähigkeit, bei der alle fünf Sinne gleichzeitig aktiviert werden. Bezeichnet wird dabei also eine Art Synergie zwischen Körper und Geist, zwischen Gefühl, Beobachtung, Vorstellungskraft, Beweisführung. Es ist eine Synergie, die ermöglicht, über die bloße Sinnenwelt hinaus zu „sehen“ und zu ‚empfinden‘ und daher auch ‚vorherzusehen‘ und ‚vor-herzuempfinden‘.“ [5]
Meine individuellen Spuren
Manchmal wache ich morgens auf und dann habe ich so seltsam auf dem Kissen gelegen, dass ich die Spuren der Nähte noch eine Stunde später, wenn ich schon vor meinem Bildschirm bei der Arbeit sitze, sehen und spüren kann.
Ich trage weiße Spuren auf der Haut. Es sind Narben, die eine Form der externen Einflussnahme, also einer tieferen Durchdringung meiner Haut, bezeugen. Jede dieser Spuren hat eine eigene Geschichte, die ich erzählen könnte.
Einmal, früher, für eine Party hatte ich mir die Augen besonders dunkel mit Mascara geschminkt und als ich traurig war, weinen musste, da hatte ich Spuren im Gesicht. Tränenspuren. Ausdruck von Emotionen. Können auch erzählen.
Markierungen in Büchern hinterlassen Spuren. So wie in den gebrauchten Büchern, die ich kaufe und ich selbst füge zu den vorhandenen Spuren meine eigenen Spuren hinzu, mein eigenes Wissen und meine eigene Neugier und meine Lücken stecken in diesen neuen Spuren, die ich den alten hinzufüge.
Und auch in meinem Exemplar von Blochs Spuren habe ich Spuren hinterlassen. Vielleicht hinterlasse ich Spuren bei anderen.
Zur Stellung von Spuren in Blochs Werk
Ernst Bloch hat sein Werk Spuren als ersten Band seiner Gesamtausgabe gewählt, was ihm die Position des Prologs für sein gesamtes nachfolgendes Denken zuweist.[6] In diesem Sinne scheinen die einführenden Worte zu passen, die noch vor dem Titel und den Verlagsangaben ganz vorne im Werk abgebildet sind:
ZUVOR
Wie nun? Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.[7]
Spuren kann als enigmatischer Text bezeichnet werden, der sich Klassifizierungen entzieht.[8] „Spuren enthält aber vielmehr eine weitere und entscheidende Bedeutung: Die Dimension der Suche und der Unvollkommenheit der Philosophie der Hoffnung wird in der Tat mit einer neuen Denkweise verbunden, in der Erzählung und Überlegung, poetisch-literarische und philosophische Momente sich überschneiden.“[9]
Bloch schrieb in den 1920er- und 1930er-Jahren für Feuilletons mehrere Tageszeitungen, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung und auch Zeitschriften wie Der Neue Merkur. Viele Texte, die sich in Spuren finden, stammen aus Artikeln und Texten dieser Zeit. Nach Laura Boella fällt die Verbindung zu der deutschen Romantradition der Kurzprosa oder der Aphorismen auf.[10] „Dennoch ist bei Bloch das Interesse für die Popularliteratur entscheidend und umfasst Apologien, Sprichwörter, Märchen, Kalendergeschichten, Kolportagen, Feuilleton-, Detektiv- und Abenteuerromane.“[11]
Hier kommt auch wieder die Intertextualität in verschiedenen Variationen und Formen ins Spiel, die sich für das vielfältige Interessengebiet Blochs gut eignen. So etwa „das Stilmittel des Pastiche, der serielle Charakter dieser narrativen Erzählformen, die Präsenz von festen Strukturen und Rahmen, von wiederkehrenden Themen und der Montage, d. h. die Zergliederung und Wiederzusammensetzung von Teilen in neue Einheiten. Dazu kommt die enge Verbindung mit dem Alltagsleben der Menschen, sowohl mit ihrer dunklen Unrast, mit der Leere ihrer Existenz und dem entsprechenden Wunsch nach Ablenkung und Zerstreuung, wie auch mit ihrer Erbauung und Belehrung.“[12]
Spuren als Grundlage des fortschreitenden Denkens
Wenn der Titel eines Buches, das aus einer Sammlung von Texten besteht, die gleichzeitig literarisch und philosophisch sind, dann lässt sich daraus schlussfolgern, dass es mehr ist als ein „bildhafter Ausdruck oder eine Metapher des Noch-Nicht.“[13] Spuren lässt sich auch nicht dem politischen und intellektuellen Engagement Blochs zuordnen, mit dem er versuchte auf den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland und die Ohnmacht der Linken aufmerksam zu machen.[14] Bei Spuren handelt es sich um ein Denken in Spuren, das auch die Philosophen praktizieren, um auf Basis von bekanntem Wissen zu neuen Erkenntnissen zu gelangen und Dinge aus neuen Perspektiven zu betrachten.
Dabei werden „Spuren verfolgt, entdeckt, manchmal verwischt,
neu zusammensetzt und durcheinander [gebracht] – Spuren von kleinen Geschichten, Bilder vom Großstadtleben, vom verschütteten Elend oder der Niedertracht, Witze, Augenblicke des Erstaunens oder Entsetzens, kurze Reportagen über Vergangenheit oder Gegenwart, Details, Indizien, Überlegungen und Anekdoten von großen Philosophen und persönliche Erfahrungen.“[15] Man könnte dieses Vorgehen auch als ein Experimentieren in Gedanken bezeichnen, einem Experimentieren mit fiktionalen oder kontrafaktischen Gegebenheiten, mit denen etwas ins Spiel, ins Denken gebracht wird, was nicht besteht, mit dem aber gedanklich experimentiert werden kann, bis etwas Neues entsteht.
Spuren als experimentelle Realitäten
Die in Spuren dargestellten Spuren sind zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt, sie sind nicht mehr und noch nicht.[16] „Um die Realität in Form von Spuren wahrzunehmen, muss man sie erfahren – man muss emotional davon betroffen und veranlasst sein darüber nachzudenken, sich über den Sinn der Dinge und des Daseins Gedanken zu machen. Es ist also notwendig, eine intensivierte Wahrnehmung zu praktizieren, die jenseits von Gewohnheit und alltäglichen Konventionen liegt. Um eine solche Erfahrung der Realität zu machen, muss man sie erzählen und immer wieder neu erzählen. Nur auf diese Art und Weise, indem man am unendlichen und immer unvollendeten Gewebe der Geschichten webt, indem man mit dem Gedächtnis und der Vorstellungskraft spielt, mit der Vielfalt, den Widersprüchen und den Paradoxa des narrativen Stoffs experimentiert – nur so wird man über die Starrheit des Offensichtlichen und des Üblichen hinausgehen können.“[17]
Und damit sind wir in der Tat wieder angelangt beim Experimentieren in Gedanken, beim mentalen Probehandeln, beim kognitiven Erkunden von Begebenheiten im Geiste, die über schriftliche Artikulation imaginiert werden können und sämtliche Möglichkeiten offen und im Denken wahr werden lassen können. Daher folgt hier noch eine kleine definitorische Einheit zum Gedankenexperiment.
Was ist ein Gedankenexperiment
Bezeichnenderweise heißt diese Webseite Literarische Gedankenexperimente. Das Wort ‘Gedankenexperiment’ wurde nach allgemeiner Auffassung erstmals 1812 von dem Dänen Hans Christian Ørsted, einem Naturwissenschaftlicher und Naturphilosophen in dem Werk Ansicht der chemischen Naturgesetzte durch die neueren Entdeckungen gewonnen gebraucht.[18] „Im G[edankenexperiment] werden bestimmte Umstände mit bestimmten Folgen verknüpft vorgestellt. In Analogie zum «physischen Experiment» wird dabei versucht, mittels Variation der vorgestellten Umstände zu einer Reihe von G. mit gleichen vorgestellten Folgen zu gelangen, was dann die Formulierung einer allgemeineren Kausalbeziehung erlaubt.“[19]
Typen von Gedankenexperimenten
Mit den einführenden Erläuterungen von Georg W. Bertram lassen sich drei verschiedene Typen von Gedankenexperimenten charakterisieren:
„(1) Erklärende Gedankenexperimente illustrieren bestimmte begriffliche Zusammenhänge und machen sie dadurch auf eine anschauliche Weise fassbar.
(2) Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen lassen sich als besondere Formen von Argumentationen für eine Zielthese begreifen, wobei die Besonderheit darin besteht, dass ein kontrafaktisches Szenario in die Argumentation eingeht.
(3) Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen formulierten Szenarien, auf deren Basis sich Begriffe und begriffliche Zusammenhänge prinzipiell unbegrenzt erkunden lassen.“[20]
Weitere Informationen gibt es auch dieser Webseite hier.
Was ist ein Denkbild
Meines Erachtens nach sollte mit der Betrachtung einiger Spuren aus Blochs Spuren der Begriff ‘Denkbild’ zumindest einführend erläutert werden. „Das Denkbild als literarische Form steht in der Nachfolge des neuzeitlichen Emblems und seiner Problematik der graphisch ausgeführten oder eben nicht ausgeführten pictura […].“[21] Ein Denkbild ist insofern ein Denken in Bildern oder aber Bilddenken. „So weist ‚Denkgebilde‘ auf Gestaltung hin, ‚Gedenkbild‘ unterstreicht die Gedächtnisfunktion.“[22] Es eignet sich daher auch für philosophische Betrachtungen und Denkprozesse.
Kurzer Einschub: Walter Benjamin
Genannt werden muss im Zusammenhang mit dem Denkbild auch der Philosoph sowie Literatur- und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940). Benjamins kunsttheoretische Aufsätze sind sehr interessant und ich behalte mir eine genauere Betrachtung und Anwendung der dort formulierten Aspekte als Basis für einen späteren Beitrag vor. Doch gerade mit dem Denkbild ist Benjamins Name verknüpft, denn neben seinen theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Erzählen war er auch selbst Erzähler, wie sich an den Denkbildern der Einbahnstraße, den erzählenden Städtebildern, dem Reisetagebuch der Moskaureise und den unzähligen Prosaminiaturen“[23] zeigt.
Das Denkbild als kleine Form
Gattungstheoretisch wird das Denkbild den literarischen Kleinformen zugeordnet, „die sich als Kurzprosa seit dem späten 19. Jahrhundert entwickeln und sich neben und in Beerbung von älteren kurzen Formen der Prosa wie Aphorismus, Fabel, Anekdote, Essay behaupten.“ [24] Viele literarische Kleinformen existieren bereits in mittelalterlicher Literatur, da mag es signifikante Überschneidungen geben, die ich an dieser Stelle nicht weiter aufführen kann.
Die im Denkbild skizzierten prägnanten Beobachtungen werden zum Schlussfolgern den Rezipienten überlassen und tragen „dabei sowohl eine philosophische Forderung in die Literatur als auch literarische Verfahren in die Philosophie ein.“[25] Ich erkenne in dieser Kognitionsleistung auch den Experimentcharakter, der ja eigenständiges Reflektieren seitens der Rezipienten verlangt. Denn die sich aus der Lektüre ergebenden Schlussfolgerungen sind aufgrund unterschiedlicher Denkarten, den verschiedenen Schichten an Wissen und Erfahrungen und dem zeitgenössischen Kontext ja wohl höchst subjektiv.
Folgend soll eine abgeschlossene Textpassage aus Blochs Spuren Basis nachfolgender Geistestätigkeit werden.
Das Merke
Immer mehr kommt unter uns daneben auf. Man achte gerade auf die kleinen Dinge, gehe ihnen nach.
Was leicht und seltsam ist, führt oft am weitesten. Man hört etwa eine Geschichte, wie die vom Soldaten, der zu spät zum Appell kam. Er stellt sich nicht in Reih und Glied, sondern neben den Offizier, der »dadurch« nichts merkt. Außer dem Vergnügen, das diese Geschichte vermittelt, schafft hier doch noch den Eindruck: was war hier, da ging doch etwas, ja ging auf seine Weise um. Ein Eindruck, der über das Gehörte nicht zur Ruhe kommen läßt. Ein Eindruck in der Oberfläche des Lebens, so daß diese reißt, möglicherweise.
Kurz, es ist gut, auch fabelnd zu denken. Denn so vieles eben wird nicht mit sich fertig, wenn es vorfällt, auch wo es schön berichtet wird. Sondern ganz seltsam geht mehr darin um, der Fall hat es in sich, dieses zeigt oder schlägt er an. Geschichten dieser Art werden nicht nur erzählt, sondern man zählt auch da, was es darin geschlagen hat oder horcht auf: was ging da. Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, das sonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schon ist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Beispiele. Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu erzählt wäre, das in den Geschichten nicht stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt. Manches läßt sich nur in solchen Geschichten fassen, nicht im breiteren, höheren Stil, oder dann nicht so. Wie einige dieser Dinge auffielen, wird hier nun weiter zu erzählen und zu merken versucht; liebhaberhaft, im Erzählen merkend, im Merken das Erzählen meinend. Es sind kleine Züge und andre aus dem Leben, die man nicht vergessen hat; am Abfall ist heute viel. Aber auch der ältere Trieb war da, Geschichten zu hören, gute und geringe, Geschichten in verschiedenem Ton, aus verschiedenen Jahren, merkwürdige, die, wenn sie zu Ende gehen, erst einmal im Anrühren zu Ende gehen. Es ist ein Spurenlesen kreuz und quer, in Abschnitten, die nur den Rahmen aufteilen. Denn schließlich ist alles, was einem begegnet und auffällt, dasselbe.“[26]
Das Merke – Aufgepasst! Hingehört! Merk es dir!
Sich etwas merken oder das Aufmerken sind zwei Begriffe, die ich mit dem substantivierten Titel direkt verbunden habe. Wäre Merke kleingeschrieben, ich hätte es als Imperativ verstanden, auch ohne Ausrufezeichen, also im Sinne eines: Merke dir jetzt, was da kommt. Es steht dort auch nicht Das Merken, sondern eben „Das Merke“.[27] Das ist ein großer Unterschied. Denn entweder geht es um die Aufforderung, sich das Vorgeführte einzuprägen, zu merken oder es geht um ein Signal, das jetzt etwas Wichtiges passiert, das es gilt, aufzupassen. Der Titel ist also sinnkonstituierend für das, was kommt, nämlich, die kleinen Dinge nicht zu vernachlässigen, da sie sonst verloren sind.[28]
Es scheint auch um eine besondere Art der Wahrnehmung zu gehen, auf die die Erzählinstanz uns aufmerksam machen will, auf Zwischentöne, Kleinigkeiten, auf etwas, das wir sonst nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen würde. Und genau das ist es, was jemanden nicht zur Ruhe kommen lässt. Jemand erzählt etwas, das kennt man, und es schafft Eindruck. Man begegnet einer Person und irgendwie spult sich das Gespräch vor und zurück im Kopf, etwas ist doch da hängengeblieben?! Irgendetwas lässt nicht los von dem Gehörten. Etwas schürt Neugier oder Interesse oder Angst – wie auch immer – es rührt auf und evoziert ein fortschreitendes Denken. Lässt sich diesbezüglich die These aufstellen, dass, wenn etwas Eindruck schafft, es wichtig ist in irgendeiner Form? Wenn etwas Eindruck macht, dann trifft es und dringt ein ins eigene Denken. Doch warum? Jetzt wird man doch zum Detektiv, der nachspürt und Spuren sucht.
Das Denken geht um im Erzählen
„[D]er Fall hat es in sich“ [29], heißt es. Das Erzählte hat einen Inhalt, der mehr in sich trägt, als es den Anschein hat und der umgehen kann im Rezipienten oder umgegangen ist und verschriftlicht wurde. Könnte man es peripatetisch nennen? Man könnte auch behaupten, dass etwas „nicht mit sich fertig“ [30] wurde, „auch wo es schön berichtet wird“ [31]. Etwas, das nicht fertig ist, dem fehlt ein Rest, der auch weiterhin fehlt, wenn es erzählt wird. Wem fehlt etwas? Fehlt auch dem Rezipienten etwas bei der Lektüre, wenn er umgeht danach?
Es gibt also eine Geistesbeschäftigung schon vor der Lektüre, die für Außenstehende erst nach dem Aufschreiben stattfinden kann. Die Bewegung im Geiste wird übertragen auf das Gehen im Sinne der menschlichen Fortbewegung: „was ging da“ [32], da ging etwas – da hat sich bereits etwas bewegt, das wollte aufmerken, bewegt sich nun immer weiter, bewegt bei der Lektüre Menschen und bewegt jetzt mich und bewegt zwangsläufig auch diejenigen, die dies hier lesen. Im Geiste oder mit den Augen.
Der Fall im Fall – Der Kasus
Nun, wie interessant, dass ich gerade in meinem letzten Beitrag zu Camillus und Emilia von einem unerhörten Fall sprach, einem unerhörten Fall der Liebe, einer Ehebruchsliebe in der frühneuzeitlichen Novelle Camillus und Emilia. Die einzige deutschsprachige Übersetzung befindet sich im unter der Thematik der ordentlichen und unordentlichen Liebesfälle subsumierenden Buch der Liebe des Frankfurter Verlegers Sigmund Feyerabend. Wenn jetzt also Bloch schreibt „der Fall hat es in sich, dieses zeigt oder schlägt er an“[33], dann steckt im Denkbild auch ein Fall, ein Kasus. Den Begriff des Kasus führte André Jolles 1930 mit seinen Einfachen Formen in die Literaturwissenschaft ein. Er verbindet die Form des Kasus mit dem Denken der Rezipienten, einer Geistesbeschäftigung mit dem, was gelesen wird:
„Für eine solche Form möchte ich den Namen wählen, den sie in ihren Vergegenwärtigungen, in der Jurisprudenz, der Morallehre und auch noch anderswo, besitzt: ich möchte sie Kasus oder Fall nennen. Das, was in diesem Ganzen der widersprechenden Teile vor uns liegt, zeigt den eigentlichen Sinn des Kasus: in der Geistesbeschäftigung, die sich die Welt als ein nach Normen Beurteilbares und Wertbares vorstellt, werden nicht nur Handlungen an Normen gemessen, sondern darüber hinaus wird Norm gegen Norm steigend gewertet.“[34]
Externe Unterstützung (durch Denken)
Der Kasus ist jedoch laut Jolles nicht in sich geschlossen wie beispielsweise ein Sprichwort, sondern er bedarf, um sich selbst auszudrücken, Hilfe von außen.[35]„Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin, daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält — was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens.“[36]
Und hier wäre ein Anschlusspunkt zum Merke von Bloch, denn wie bereits von Jolles erwähnt, braucht der Kasus zum Ausdruck seiner Selbst Unterstützung durch die Rezipienten, es erfordert eine fortschreitende und über die Grenzen von Personen und Medien hinweggehende Geistesbeschäftigung mit dem Gelesenen bzw. Gehörten.
Über den Kasus
Der Kasus ist eine „[e]lementare Bauform des Erzählens: zu beurteilender Stellungnahme auffordernde Falldarstellung,“[37] und insofern auf die kognitive Beurteilung der Rezipienten angewiesen. „Obligatorische Kennzeichen kasuistischer Textorganisation sind die problematisierende Umsetzung der Regel-Fall-Struktur, das in seinem Ausnahmestatus realitätsbezogene Fallbeispiel sowie der daran geknüpfte Appell zur Normen- und Wertereflexion. Fakultativ sind alle weiteren formalen und funktionalen Merkmale (Rahmengattung und -situation, Gestaltung der Konfliktstruktur, Funktionsgebung u. a.). Unter den kleineren Formen des Erzählens grenzt sich der Kasus durch seinen Problemgehalt von den illustrativen Typen des Exempels ab, durch den Verzicht auf Anthropomorphisierung oder Allegorisierung zusätzlich von Fabel und Parabel. Im Theoriekontext der nicht an Gattungen oder Textsorten gebundenen Einfachen Formen begründet der Denkhabitus des Abwägens und Beurteilens den Unterschied zu Legende, Memorabile und Sage.“[38]
Kasus unterscheiden vom Beispiel
Peter von Moos bezeichnet den Kasus als einen Präzedenzfall, der gesetzgeberisch wirken kann.[39] Laut von Moos muss allerdings unterschieden werden zwischen einem Beispiel und einem Fall, der sich durch Diskussion oder Reflexion auf ein Allgemeines beziehen kann und damit entweder offene Fragen stellt oder zu einem lösbaren Problem wird.[40] Bei einem Kasus oder Fall ist das Abweichende Objekt der Betrachtung, das entgegen der geltenden Denkgewohnheiten und Gesetzmäßigkeiten (wie einer Gemeinschaft etwa oder anderen Gruppen), in Frage gestellt wird.[41] Laut von Moos gebe es die Abstraktionsbildung und Regelfindung einerseits; ein Fall werde auf ein normatives System hin angelegt und geprüft sowie das Erkenntnisziel des eigenen Erfahrungswissens andererseits, das sich der Klassifizierung entziehe und sich in historischer Einmaligkeit der lebenspraktischen Erwägung empfehle.[42]
Grenzen der Gattungen bemerken und umgehen
Interessant mag im Zusammenhang mit meinen folgenden Überlegungen die Grundbedeutung des lateinischen Wortes casus als ‚das Fallen‘ oder ‚der Fall‘ sowie im metonymischen Gebrauch das ‚Ereignis‘ oder das ‚Vorkommnis‘ sein.[43] „Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, das sonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schon ist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Beispiele.“[44] Damit ist man gattungspoetologisch beim Kasus oder beim Exempel oder beim Denkbild oder, oder, oder. Man merkt, dass hier die Gattungsgrenzen verschwimmen. Je nach der eingenommenen Perspektive lassen sich diese enger oder offener setzen. Das führt mich zu dem Schluss, dass es darum aber gar nicht geht. Es geht um das Merke, um den Inhalt, um das Kleine, das Übersehene, das nicht Wahrgenommene, das „Eindruck in der Oberfläche macht“[45] und „nicht zur Ruhe kommen läßt.“[46] Bzw. existiert es nur, weil jemand, der Autor, in der Vergangenheit keine Ruhe hatte und sich sein Denken in Schriftform manifestiert hat, das nun wahrgenommen wird vom Rezipienten, in dessen Geist sich das Gelesene zu elektrischen Verbindungen wandelt und möglicherweise wieder Ausdruck findet im Schreiben.
Bloch, die Spuren und der Kasus
Eine derartige Ambiguität und offene Möglichkeit der Reflexion zeigt sich eben auch in den Spuren. Interessant übrigens, dass Jolles und Bloch ihre Werke im Jahr 1930 veröffentlicht haben, das scheint mir eine lustige Koinzidenz oder mit Jung auch Synchronizität zu sein.
Spuren deuten auf ein „Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu erzählt wäre, das in den Geschichten nicht stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt.“[47] In der von mir als Beispiel genannten Novelle Camillus und Emilia wurden die beiden offensichtlich zusammengehörenden Liebenden, die sich nicht nur als Seelengefährten betrachten, sondern auch hinsichtlich ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Natur, ähneln, sie also von Gott wie füreinander geschaffen sind, durch die Verheiratung Emilias an eine gut situierte Partie getrennt wird, die Erfüllung ihrer Liebe durch gesellschaftliche Konventionen also verhindert wird.
Die Affäre, die beide beginnen und die sie glücklich macht und erfüllt, hat jedoch keinen Bestand, es gibt kein Happy End für diese Liebe, die durch die Ehe getrennt wurde. Das ist eine seltsame Wortwahl, nicht wahr?! Aber auf Blochs Ausführungen bezogen, in den Geschichten stimme etwas nicht, weil es mit uns und allem nicht stimme, das passt tatsächlich auch rückwirkend auf diese, durch externe weltliche Einflüsse verhinderte Liebe. Sollte nicht eine Ehe eine Liebe bis in den Tod beschließen? – könnte man fragen. Übrigens auch ein Thema, das Ovid intertextuell souverän mit Blick auf die augusteischen Ehegesetze in seiner Ars amatoria verarbeitet. Diesbezüglich ließe sich auch mit Kafkas Prozeß oder Die Verwandlung nach der Entmenschlichung in gesellschaftlichen Strukturen wie Familie oder Institutionen fragen.
Erzählen als Abfallverwertung
Wenn Bloch jetzt auf den Stil zu sprechen kommt, dann erkenne ich hier unter anderem die Wahl der Gattung, die ein Autor für die Aufbereitung seines Themas wählt. „Wie einige dieser Dinge auffielen, wird hier nun weiter zu erzählen und zu merken versucht; liebhaberhaft, im Erzählen merkend, im Merken das Erzählen meinend. Es sind kleine Züge und andre aus dem Leben, die man nicht vergessen hat; am Abfall ist heute viel.“[48] Was gibt es dahinzuzufügen?! Das, was den Autor umgetrieben hat, wird im Erzählen weiter umtreibend, es treibt weiter um all diejenigen, bei denen diese umtreibenden Kleinigkeiten Eindruck hinterlassen und eindringen in das Selbst und für Merken sorgen, zum Weitererzählen vielleicht treiben. Merken ist imaginieren, merken ist auch erinnern. Im Erzählen fallen andere Dinge auf, die in der Realität, trotz möglicher Ähnlichkeit, nicht auffallen, vielleicht nicht wahrgenommen werden können. Ist unverarbeitete Erinnerung Abfall? Oder ist Abfall das, was wichtig ist – bedenkt man, das im kommunikativen Gedächtnis Wichtiges vor allem auch mündlich tradiert wird, im kulturellen Gedächtnis dann sind wichtige Inhalte verschriftlicht. So habe ich das noch nicht betrachtet: Ist Erzählen Abfall von nicht Vergessenem, das unablässig auf und ab zu gehen scheint im Geiste, umtriebig ist?
Getrieben zur Erinnerung, getrieben zum Konsum
Wer erzählt, hört zu, sieht zu, nimmt wahr – will unterhalten werden. War das nicht die abschließende Bemerkung des frustrierten Autors Christian in Frank Witzels Die fernen Orte des Versagens (hier geht es zum zugehörigen Beitrag), nämlich „dass das Erzählen der Unterhaltung und ausschließlich ihr zu dienen hat.“[49]
Dazu einmal dies:
Warumb die Hund einander fuͤr den Hindern schmecken.
Vor zeiten haben die Katzen vnd Hund ein grossen streit mit einander gehabt / Dann die Hundt gemeint / die Katzen sollten den Hunden in allen dingen / es wer mit essen ein vnnd den anderen / den vorgang lassen / welches aber die Katzen nit thun woͤllen / sondern sich mit ihren scharpffen neglen / zur gegenwer gesetzet / vñ den Hunden in allweg obgelegen / Des die Hund auß dermassen vbel verdrossen / aussgewest / vnd mit einander zu ihrem Koͤnig / so inn fernen Landen gesessen / gezogen / vñ jme den handel / Warumb sie zuͦ jm kom̃en erkleret / auch vmb privilegia / wider die Katzen gebetten / ihr Koͤnig hat die weitte reiß / vñ die grosse schar angesehen / vnd bedacht / vnnd sie gewaltig Privilegiert / Also / das forthin die Hund inn allen sachen / sollten den vorgang haben / vnnd die Katzen erst den lersten / Wie sie nun nahendt bey heymen waren / kamen sie zuͦ einem grossen fliessenden wasser / darüber kein Brugk gienge / vnd auch kein Schiff da ware / darinn sie hetten moͤgen hinüber fahren / war jnen sehr angst / wusten nicht wie sie dem Brieff thon sollten / das er nicht naß wurde / Doch letztlich zuͦ rath wurden / es solt den Brieff einer vnter den schwantz nemmen / so blibe er drucken / der rath jnen allsamen wol gefiel / gaben also einem den Brieff vnter den schwantz / liessen sich in dz wasser / vnd schwamen hinüber / ich weiß aber nicht / wie es der mit dem brieff vbersahe / ye er empfiel jm vnd schwam das wasser hinnab / des ihr keiner gesehen het/ Als sie aber hinüberkamen / fandeñ sie den Brieff nit / giengen vmbher vnnd schmeckten ye einer dem andern für den hindern aber sie fanden jne nicht / Derhalben sie noch heütigs tags / also einander anschmecken / vnnd noch staͤts vermeinen / sie woͤlle den Brieff finden / Aber ich foͤrcht es sey vergebens.[50]
Dieser kurze Text stammt aus dem sogenannten Wegkürtzer des Dichters Martin Montanus, einer Schwanksammlung deren Inhalt wie folgt auf dem Titel ankündigt wird: Ein sehr schoͤn lustig vnd auß dermassen kurztweiliges Buͤchlein / der Wegkuͤrtzer genant / darinn viel schoͤner lustiger vnd kurzweiliger Hystorien / in Gaͤrten / Zechen / vnnd auff dem Feld / sehr lustig zu lesen / geschriben / vnd newlich zusamen gesetzt.[51]
Und was hat das mit Blochs Spuren zu tun?
Bezogen auf die unter Das Merke getätigten Aussagen, es handele sich beim merkenden Erzählen um „kleine Züge und andre aus dem Leben, die man nicht vergessen hat“[52], also um viel Abfall, lässt sich diese inhärente These am bereits 1557 gedruckten Montanus-Schwank demonstrieren. Dass Katzen arrogant, pikiert, eigensinnig, süffisant und freiheitsliebend sind, das ist damals nicht neu und heute auch nicht. Dass Hunde devot, gutwillig, wachsam, aufmerksamkeitsbedürftig und abhängig sind ist auch nicht neu. Hier wurde aber diese, wahrscheinlich seit des durch Domestizierung herbeigeführten und zwangsläufig forcierten Miteinanders von Hund und Katze ein merkendes Erzählen fabuliert und zwar aus dem Kern heraus, dass Hunde sich gegenseitig nun einmal am Hintern schnüffeln. Lässt sich auch heute noch im Park beobachten. „Jeder mag in seinem eigenen Leben die kleinen Uranlässe suchen; sie werden meist ebenso geringfügig, ja kurios und komisch sein.“[53] Aber daraus entstehen eben Geschichten.
Es scheint aber so merk-würdig gewesen zu sein, dass es des Erzählens als würdig erachtet wurde, weil es einen Eindruck gab, der zur Reflexion anregte, zur auch im Kasus erwähnten Geistesbeschäftigung mit der Thematik und einer darüber hinausreichenden Einordnung in die zeitgenössische Lebenswelt. Etwa, wenn es um die Erwirkung von Privilegien geht, für die es beim Herrscher vorzusprechen galt. Inwiefern die devote Haltung der Hundegemeinschaft spezifische Vorbilder hat, kann ich nicht beurteilen. Martin Montanus hat es sein Werk zum Zweck der Unterhaltung erschaffen. Mit Bloch kann die These aufgestellt werden, es handele sich um kleine Dinge, die nicht vergessen wurden, daher als Abfall im Erzählen auftauchen, sie sind noch nicht durchgekaut im Denken, es ist etwas übrig, das nicht kompostiert werden kann. Und hier klingt auch der von ihm benannte Trieb an „Geschichten zu hören, gute und geringe, Geschichten in verschiedenem Tone, aus verschiedenen Jahren, merkwürdige […]“[54]
Erzählen – Ein Netz aus Spuren
Wie ist der Abschluss von Das Merke zu bewerten, sofern das überhaupt möglich ist? „Spurenlesen kreuz und quer“[55], ja, das ist es – Spuren finden sich überall. Spuren von Gelesenem, von Erlebtem, von Gesehenem und Gehörtem, von Unerhörtem und Ordentlichem, Wissenschaftlichem und Alltäglichem, von Wunderbarem und Realem. Überall. Vielleicht bezieht sich „in Abschnitten, die nur den Rahmen aufteilen“[56] auf das Kommende. Denn Spuren ist als Werk an sich aufgeteilt in Abschnitte, verschiedene Begriffe, die in der Tat einen gewissen Rahmen vorgeben für die abschnittsweisenden Spuren. Vielleicht ist auch das kommende Gesamtwerk gemeint, wenn Spuren als eine Art Prolog fungieren soll. Vielleicht sind aber auch die zum Erzählen führenden Spuren des Selbst gemeint, die kreuz und quer ebenfalls von Autoren in „Abschnitten, die nur den Rahmen aufteilen“[57] sich in deren Werken finden. Vielleicht ist auch die Zeiteinteilung gemeint. Viele Vielleichts.
Alles ist eins im Selbst
„Denn schließlich ist alles, was einem begegnet und auffällt, dasselbe.“[58] Das ist ein hochinteressanter Schluss – es kommt hier wieder auf die Perspektive der Betrachtung an. Handelt es sich um eine Negation des Individuellen, eine Negation der kleinen subjektiven Spuren, die doch nicht jedem auffallen, aber doch so wichtig sind für das Merken und Erzählen, die dennoch eine Reflexionsleistung forcieren aus der sich Erzählen generiert? Fällt in allen Spuren doch alles wieder in sich zusammen? Was bleibt denn dann zu merken? Oder aber handelt es sich hier um eine Variante des bekannten Spruchs des Orakels von Delphi – Erkenne dich selbst? Erkenne deine Spuren in den Spuren anderer, die durch das Erzählen dieser anderen Spuren dir offenbart werden?
Ich zitiere (wie bereits in meinem Beitrag zu Tonio Schachingers Echtzeitalter) einen weiseren Menschen als mich: „Wir schreiten durch uns selbst dahin, Räubern begegnend, Geistern, Riesen, alten Männern, jungen Männern, Weibern, Witwen, warmen Brüdern. Doch immer im Grunde uns selbst.“[59] Im 9. Kapitel von Ulysses geht es um das Wissen von und aus Literatur sowie um die Frage nach autobiografischen Anteilen in literarischen Werken. „Der Stückeschreiber, der das Folio dieser Welt verfasste […] ist ohne Zweifel alles in allem in allen von uns […].[60]
Ich denke, das ist es, was Ernst Bloch hier anspricht. Ich denke, er drückt es nur anders aus als seinerzeit James Joyce.
Und daher abschließend
In diesem Sinne möchte ich diesmal keine umfangreichen Schlussfolgerungen anführen, sondern zwei Spuren aus Blochs Spuren:
ZU WENIG
Man ist mit sich allein. Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muß man heraus.“[61]
Aus DIE WASSERSCHEIDE
„Ist da, aus der Gnade seiner selbst? Unterbrach sich der Mann. Nein, auch hier ist zu viel Zufall, und er beleidigt uns. Mindestens unsere Begegnungen sind ungefragt, unser Beginn mit Menschen und das Schicksal daraus (das es ja ohne diesen Beginn nicht gäbe) hängt von den zufälligsten Anlässen ab. Es kann die läppigste Quelle sein und oft erstaunlicherweise nur eine, immer dieselbe; die andern Anlässe fließen dann nicht oder wenigstens nicht weit. […] Selbstverständlich sind noch andre, ja eben weniger zufällige Fäden in diesem Kausalgewebe: aber keiner geht so hindurch, keiner ist vor allem so nachweisbar ursächlich, so sehr alle neuen Anfänge bestimmend.“[62]
Ein potenzieller Ausblick: Black Like Me und Spuren
Eigentlich wollte ich noch das Denkbild oder den Kasus Der Schwarze aufführen und ihn mit Black Like Me von John Howard Griffin verknüpfen. Das wäre sehr interessant geworden und ich behalte mir auch dies für zukünftige Beiträge vor. Black Like Me von John Howard Griffin ist eine autobiografische Erzählung, die 1961 veröffentlicht wurde. Der Autor, ein weißer Mann, entscheidet sich, sein Aussehen zu verändern, indem er seine Haut dunkler färbt, um zu erleben, wie es ist, als Schwarzer in den Südstaaten der USA zu leben. Er verwendet Medikamente und UV-Strahlen, um seine Hautfarbe zu ändern, und verbringt mehrere Wochen in verschiedenen Südstaaten, um den Rassismus und die Diskriminierung aus erster Hand zu erleben.
Während seiner Reise erlebt Griffin eine Vielzahl von Herausforderungen und Diskriminierung, von Vorurteilen in öffentlichen Einrichtungen bis hin zu offener Feindseligkeit auf der Straße. Er dokumentiert seine Erfahrungen in einem Tagebuch, das als Grundlage für das Buch dient. Griffin entlarvt den Mythos der Rassentrennung und zeigt, dass Rassismus ein allgegenwärtiges Problem ist, das das tägliche Leben der Schwarzen in den USA stark beeinflusst.
Black Like Me ist ein einflussreiches Buch, das dazu beitrug, das Bewusstsein für die Rassenproblematik in den USA zu schärfen und zu Diskussionen über Rassismus und Vorurteile anzuregen. Es bietet einen einzigartigen Einblick in die Erfahrungen von Schwarzen im amerikanischen Süden während der Zeit der Rassentrennung und ist ein wichtiger Beitrag zur Literatur über Rassismus und soziale Gerechtigkeit.
DER SCHWARZE
Einer blickte sich schon mehr an, grade indem er irrte. Spät abends kam ein Herr ins Hotel, mit Freunden, alle Betten waren besetzt. Außer einem, doch im Zimmer schlief bereits ein Neger, wir sind in Amerika. Der Herr nahm das Zimmer trotzdem, es war nur für eine Nacht, in aller Frühe mußte er auf den Zug. Schärfte daher dem Hausknecht ein, sowohl an der Tür zu wecken als am Bett, und zwar am richtigen, nicht an dem des Schwarzen. Auf die Nacht nahm man allerhand Scharfes, mit so viel Erfolg, daß die Freunde den Gentleman, bevor sie ihn ins Negerzimmer schaffen, mit Ruß anstrichen und er es nicht einmal merkte. Wie nun der Hausknecht den Fremden geweckt hatte, er rast an den Bahnhof, in den Zug, in die Kabine, sich zu wachsen: so sieht er sich im Spiegel und brüllt: »Jetzt hat der Dummkopf doch den Neger geweckt.« – Die Geschichte wird auch noch anders erzählt. Läuft aber immer auf das Gleiche hinaus. War der Mann nicht verschlafen? Gewiß?, und er war zugleich nie wacher als in diesem Augenblick. So unbestimmt nah an sich selbst und die gewohnte Weiße fiel vom Leib wie ein Kleid, in das man ihn sonst, wenn auch ganz angenehm, gesteckt hatte. Auch die Weißen sehen meist nur dem Zerrbild von sich ähnlich; da sitzt nichts, das Leben ein schlechter Schneider. Dem Neger freilich fiele sein Kleid noch mehr herunter, blinzelte er einmal scharf hin.[63]
[starbox]
Verwendete Literatur:
Bloch, Ernst. Spuren. Frankfurt am Main 1985. (Ernst Bloch Gesamtausgabe Band 1).
Joyce, James: Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main 1975.
Montanus, Martinus (1557): Wegkürtzer. Ein sehr schoͤn lustig vnd auß dermassen kurtzweilig Buͤchlin […].
[ohne Ort und Jahr]. VD 16: M 6236. Exemplar: Staatsbibliothek München, Signatur: Rar. 4131, online unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00001870?page=,1 (zuletzt aufgerufen am 13.02.2024).
Witzel, Frank: Die fernen Orte des Versagens, Berlin 2023.
Sekundärliteratur:
André Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen. Witz. 8., unveränderte Auflage. Tübingen 2006.
Beiküfner, Uta: Benjamin, Walter. In: Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing. 4. Aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2010, S. 47-48.
Bertram, Georg W. (Hg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Stuttgart 2019 (Reclam Taschenbuch Nr. 20414).
Boella, Laura: Spuren. In: Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Herausgegeben von Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer E. Zimmermann. Berlin/Boston 2012, S. 508-513.
Das Buch der Liebe : inhaltendt herrliche schöne Historien allerleÿ alten und newen Exempel, darauss menniglich zu vernemmen, beyde was recht ehrliche, dargegen auch was unordentliche Bulerische Lieb sey, … auffs new zugericht, und in Truck geben, dergleichen vor nie gesehen, daraus: Camillus und Emilia‘, nach Exemplar UB Basel (Signatur: UBH Wack 688, Frankfurt am Main: Sigmund Carln Feyerabendt 1587, fol. 110r, online unter: https://www.e-rara.ch/bau_1/doi/10.3931/e-rara-21652 (zuletzt aufgerufen am 05.02.2024).
Eikelmann, Manfred: ‚Kasus‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke, Bd. 2. Berlin 2007, S. 239-241.
Horster, Detlef: Bloch, Ernst. In: In: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Bernd Lutz. Stuttgart 2015, S. 90-94.
Moos, Peter von: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim, Zürich, New York 1988 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2).
Picker, Marion: Denkbild. In: Handbuch Literatur & Philosophie. Herausgegeben von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt. Berlin/Boston 2021 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 11), S. 401-414.
Schneider, Joachim: Gedankenexperiment. In: HWdPh. Onlineversion Gesamtwerk. Herausgegeben von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. online unter: 10.24894/HWPh.1176 (zuletzt abgerufen am 13.02.2024).
Spur. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, online unter: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=S37828 (zuletzt abgerufen am 13.02.2024), Sp. 235-243.
[1] Horster, Detlef: Bloch, Ernst. In: In: Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Bernd Lutz. Stuttgart 2015, S. 90-94, hier S. 90. [2] Ebd., S. 91. [3] Boella, Laura: Spuren. In: Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Herausgegeben von Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer E. Zimmermann. Berlin/Boston 2012, S. 508-513, hier S. 509-510. [4] Spur. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, online unter: https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=S37828 (zuletzt abgerufen am 13.02.2024), Sp. 235 bis Sp. 243. [5] Boella: Spuren, S. 509-510. [6] Ebd., S. 510. [7] Ernst Bloch. Spuren. Frankfurt am Main 1985. (Ernst Bloch Gesamtausgabe Band 1). [8] Boella: Spuren, S. 510. [9] Ebd. [10] Ebd. [11] Ebd. [12] Ebd., S. 510-511. [13] Ebd., S. 511. [14] Ebd. [15] Ebd. [16] Ebd. [17] Ebd., S. 512. [18] Bertram, Georg W. (Hg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Stuttgart 2019 (Reclam Taschenbuch Nr. 20414), S. 33. [19] Schneider, Joachim: Gedankenexperiment. In: HWdPh. Onlineversion Gesamtwerk. Herausgegeben von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. online unter: 10.24894/HWPh.1176 (zuletzt abgerufen am 13.02.2024). [20] Bertram: Philosophische Gedankenexperimente, S. 45. [21] Picker, Marion: Denkbild. In: Handbuch Literatur & Philosophie. Herausgegeben von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt. Berlin/Boston 2021 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 11), S. 401-414 hier S. 401-402. [22] Ebd., S. 402. [23] Beiküfner, Uta: Benjamin, Walter. In: Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing. 4. Aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2010, S. 47-48, hier S. 47. [24] Picker: Denkbild, S. 411-412. [25] Ebd. [26] Ernst Bloch. Spuren. Frankfurt am Main 1985. (Ernst Bloch Gesamtausgabe Band 1), S. 16-17. [27] Ebd., S. 16. [28] Ebd. [29] Ebd. [30] Ebd. [31] Ebd. [32] Ebd. [33] Ebd. [34] André Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen. Witz. 8., unveränderte Auflage. Tübingen 2006, S 179. [35] Ebd., S 182. [36] Ebd., S 191. [37] Eikelmann, Manfred: ‚Kasus‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke, Bd. 2. Berlin 2007, S. 239-241, S. 239. [38] Ebd. [39] Moos, Peter von: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim, Zürich, New York 1988 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), S. 29. [40] Ebd., S. 29. [41] Ebd., S. 30. [42] Ebd. Laut von Moos gibt es allerdings Mischtypen, daher sei die Unterscheidung relevant. [43] Ebd. [44] Bloch. Spuren, S. 16. [45] Ebd. [46] Ebd. [47] Ebd. [48] Ebd., S. 16-17. [49] Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens, Berlin 2023, S. 80. [50] Montanus, Martinus (1557): Wegkürtzer. Ein sehr schoͤn lustig vnd auß dermassen kurtzweilig Buͤchlin […]. [ohne Ort und Jahr]. VD 16: M 6236. Exemplar: Staatsbibliothek München, Signatur: Rar. 4131, online unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00001870?page=,1 (zuletzt aufgerufen am 13.02.2024), fol. 39r-40r. [51] Ebd., Titel. [52] Bloch. Spuren, S. 17. [53] Ebd., S. 38. [54] Ebd. [55] Ebd. [56] Ebd. [57] Ebd. [58] Ebd. [59] James Joyce: Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main 1975, S. 290. [60] Ebd., S. 290. [61] Bloch. Spuren, S. 11. [62] Ebd., S. 36-37. [63] Ernst Bloch. Spuren. Frankfurt am Main 1985. (Ernst Bloch Gesamtausgabe Band 1), S. 34-35.
Bildquellen
- sea-3705328_1920_katya10_auf pixabay2: sea-3705328_1920_katya10_auf-pixabay2.jpg
Schreibe einen Kommentar