List und Täuschung in Homers Odyssee – Odysseus und andere Figuren

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Das altertumswissenschaftliche Fachlexikon der Neue Pauly führt den listenreichen Odysseus, den griechischen Helden aus Homers Odyssee (entstanden etwa um 750 v. Chr.), dessen Klugheit bereits in der Ilias weitreichende Auswirkungen hatte, folgendermaßen ein: „Sohn des Laërtes und der Antikleia, Gatte der Penelope, Vater des Telemachos. Eine der zentralen Figuren der griech. Myth., in Homers Odyssee Mittelpunkt eines archa. Großepos. Schon diese Tatsache weist auf die Bed[eutung] der O[dysseus]-Gestalt hin, die sich durch die Betonung bes. intellektueller Fähigkeiten von den anderen Figuren des griech. Heroenmythos abhebt. Damit repräsentiert sie einen Archetypen der europäischen Geistesgesch.; entsprechend umfangreich ist ihr Nachleben in Lit. und Kunst nicht nur in der Ant[ike]“[1]

Zur besseren Unterscheidung habe ich die Zitate der Quelltexte kursiv gesetzt.

Odysseus – Erfindungsreichtum und Duldsamkeit

Zentral für die Figur des Odysseus ist wie gesagt seine Intelligenz, seine Klugheit, seine kognitive Genialität. Es ist zudem auch eine Eigenschaft, welche die Figur durch die Jahrhunderte begleitet und ihr in sämtlichen Bearbeitungen in der Literatur, im Film und der Kunst anhaftet. Wer möchte nicht in allen Zeiten für seine Intelligenz im kulturellen Gedächtnis erinnert werden?! Gerade wegen seiner intellektuellen Fähigkeit zur Problemlösung ist er auch in besonderer Weise mit der Göttin Athene verbunden, der Göttin der Weisheit, der Strategie und der Kriegskunst (unter anderem). Odysseus ist bekannt für seine strategischen Fähigkeiten und sein Talent, Probleme mit List und Täuschung zu lösen. Aber Odysseus ist in der Odyssee auch der Dulder. Ganze 41-mal konnte ich den Begriff in dem mir vorliegenden Werk zählen. Denn Odysseus ist eben auch nur ein Mensch, wenn auch ein sehr schlauer, doch er muss ebenfalls das Schicksal eines Menschen erdulden, seine persönliche Heldenreise antreten und sich den Gezeiten nicht nur der Naturkräfte aussetzen, sondern auch dem Menschsein an sich und allem, was es zu bieten hat. Hochmut, Ignoranz, Grausamkeit und mehr, Odysseus erlebt und lebt es. Natürlich hängt all dies auch mit List und Täuschung zusammen, wohl auch der Grund (neben der Tatsache, dass er nun einmal der Protagonist ist), dass er als einziger überlebt die Irrfahrt überlebt.

Vorhaben – List und Täuschung in der Odyssee

Es wird hier um die Figur des Odysseus gehen und welche Rolle List und Täuschung vor allem in Homers Odyssee zum Einsatz kommen. Die Idee dafür kam mir, weil ich für einen Vergleich von dem Adventuregame Monkey Island, Ulysses von James Joyce und Homers Odyssee die KI Chat GPT nach etwaigen Gemeinsamkeiten befragte und zu Antwort eben dies bekam:

Obwohl auf den ersten Blick unverbunden, haben Monkey Island, James Joyce und Odysseus tatsächlich eine interessante Gemeinsamkeit: Sie alle verkörpern das Konzept der List und Täuschung auf unterschiedliche Weise.

Nicht nur hat die KI hier meiner Meinung nach mit dieser These einen Volltreffer gelandet, das Ganze lässt sich auch anderweitig in Beziehung setzen. Aus diesem Grund nehme ich mir die verglichenen Werke jeweils einzeln vor und Homers Odysseus macht den Anfang, weil er auch quasi den literarischen Ursprung für die Vergleiche darstellt.

Odysseus in der Ilias und der Vergils Aeneis

In der Ilias von Homer spielt Odysseus eine bedeutende Rolle, agiert jedoch eher im Hintergrund. Zum Beispiel überzeugt er Achilles‘ Sohn Neoptolemus, am Krieg teilzunehmen, indem er ihm von den Vorzügen des Ruhmes berichtet. Außerdem ist Odysseus maßgeblich an der Idee des Trojanischen Pferdes beteiligt, mit dessen Hilfe Troja eingenommen und der Krieg letztlich beendet werden kann. Allerdings wird von der List des Holzpferdes erst in der Retrospektive in der Odyssee erzählt, dies dann in nachfolgenden Erzählungen wie Vergils Aeneis immer weiter ausgeschmückt. Dort wird übrigens die Odyssee des Trojanes Aeneas erzählt, der zuletzt Rom gründet – es handelt sich hierbei also um einen erzählten Gründungsmythos, der dann auch in deutschsprachiger Form im Eneasroman des Heinrich von Veldeke besteht.

In der Odyssee heißt es im vierten Gesang:

In dem gezimmerten Rosse, worin wir Fürsten der Griechen
Alle saßen, und Tod und Verderben gen Ilion brachten.

Homer: Odyssee. Vollständige Ausgabe. Übertragen von Johann Heinrich Voß. München 1980. 4. Gesang, V. 271-272.

Und im achten Gesang:

Alles was sie getan und erduldet im mühsamen Kriegszug,
Gleich als hättest du selbst es gesehen oder gehöret.
Fahre nun fort, und singe des hölzernen Rosses Erfindung,
Welches Epeios baute mit Hilfe der Pallas Athene,
Und zum Betrug in die Burg einführte der edle Odysseus,
Mit bewaffneten Männern gefüllt, die Troja bezwangen.
(Odyssee, 8. Gesang, V. 490-496)

Und was sagt Vergil über das trojanische Holzpferd?

Dagegen wird dann durch Vergil in der Aeneis die Geschichte im zweiten Buch weiter ausgeschmückt. Laocoon warnt die Trojer vor dem angeblichen Geschenk, als diese es in die Stadt bringen wollen.

›Ihr Unglückseligen, was soll dieser maßlose Wahnsinn, Bürger? Glaub ihr, der Feind sei abgefahren? Oder denkt ihr, auch nur ein Danaergeschenk sei frei von Hinterhältigkeit? So gut kennt ihr Ulixes? Entweder halt sich eingeschlossen in diesem Holzkoloss Achiver verborgen, oder es ist ein Werk, gezimmert zum Angriff auf unsere Mauern, um die Häuser auszuspähen und von oben über die Stadt zu kommen, oder es steckt sonst eine Täusch dahinter: Traut dem Pferd nicht, Teucrer! Was immer erst sei, ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke machen.‹
Publius Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart 2008 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18918), Aeneis. 2. Buch, V. 42-49.

Odysseus, hier Ulixes, hat also einen Ruf unter Freunden und Feinden, er ist der erfindungsreiche Odysseus, sondern durch die Trojaner, die Feinde im Trojanischen Krieg, auch hinterhältig.

Den Frauen die Schuld

Zehn Jahre hat der Trojanische Krieg bereits gedauert – ausgelöst durch den Raub der Helena – die war nämlich mit Menelaos verheiratet. Da könnte man jetzt ein Thema für sich aufmachen: Die Rolle der Frau beim Untergang großer Reiche, Mann unterstellt ihr oft ein Vorgehen mit List und Täuschung. Cleopatra, Kriemhild, Helena – schauen wir genauer hin, liegt die Wurzel allen Übels aber häufig nicht bei der Frau und ihrem Verhalten oder Aussehen an sich, sondern geht aus vom Handeln der Männer. Ein prominentes Beispiel wären Bathseba und König David. Ja, sicher es gibt sie natürlich auch, diese anderen Arten von Frauen, etwa in der Bibel: Delila, Jesebel, Herodias. Und immer gibt es auch mindestens zwei Seiten. Insbesondere der Fall von Susanna im Bade – der auch bezüglich des Rechtsaspektes sehr interessant ist.

List und Täuschung sind in der Odyssee in vielerlei Hinsicht präsent und ich kann im Rahmen dieses Beitrags nur einige gewichtige Aspekte genauer betrachten. Vielleicht ist zunächst einmal ein Blick auf die nicht lineare Erzählstruktur zu werfen, die man möglicherweise auch schon als eine Form der Täuschung einordnen könnte.

Täuschung 1: Die Erzählstruktur und das Erzählen

Die Odyssee besteht aus 24 Gesängen und folgt keiner linearen Abfolge, ist in Episoden unterteilt und es gibt parallele Handlungsstränge, Perspektivwechsel, Rückblenden und Erzählungen in Erzählungen, welche für die Rezipienten verwirrend sein können. Insbesondere beim Zuhören und damit einhergehenden Unterbrechungen dürfte ein konsequentes Folgen schwerfallen. Insofern fällt auch das gesamte Werk unter die Begrifflichkeiten List und Täuschung – und zwar wegen einer Erzählweise, die hinsichtlich ihrer Komplexität sehr interessant ist. Relevant wird das Prinzip der List und Täuschung in der Erzählstruktur beispielsweise, wenn Odysseus seine eigene Geschichte, seine Version der Ereignisse den Phaiaken in der Rückschau erzählt (dazu gleich mehr im entsprechenden Abschnitt). Denn Erzählen hat für Menschen viele verschiedene Funktionen, dienen beispielsweise dem Probehandeln von zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen, dienen der Informationsvergabe, dem Austausch von Wissen, der Kommunikation von Emotionen und Befindlichkeiten mit anderen und sie können auch dem Verteilen von falschen Informationen dienen oder der Lenkung und Manipulation. So beginnt das Werk mit der Anrufung der Musen, setzt die Handlung kurz vor der Rückkehr von Odysseus auf Ithaka ein. Der sitzt zu diesem Zeitpunkt bereits sieben Jahre bei Kalypso auf Ogygia fest wie in der Anrufung deutlich wird, zudem erfährt man auch etwas über die Ereignisse direkt nach Ende des Trojanischen Krieges.

Alle die andern, so viel dem verderbenden Schicksal entflohen,
Waren jetzo daheim, dem Krieg‘ entflohn und dem Meere:
Ihn allein, der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnte,
Hielt die unsterbliche Nymphe, die hehre Göttin Kalypso,
In der gewölbeten Grotte, und wünschte sich ihn zum Gemahle.
(Odyssee, 1. Gesang, V. 11-15)

Die sieben Jahre bei Kalypso sind die letzte Station von Odysseus, bevor er seine Heimat Ithaka erreicht, er hat zu diesem Zeitpunkt seine Odyssee fast hinter sich. Athene bittet die Götter auf dem Olymp darum, der Nymphe den Befehl für Odysseus Fortgang zu geben. Zugleich erfahren Rezipienten auch mehr über das Schicksal von Penelope und Telemachos. Das Heim von Odysseus wird von Freiern belagert, die seinen Besitz verprassen und um Penelope buhlen, während Athene Telemachos, der die Hoffnung über ein Wiedersehen mit seinem Vater zu diesem Zeitpunkt aufgegeben hat, Mut zuspricht und ihm erklärt, dass Odysseus noch lebt. Telemachos reist daraufhin nach Pylos und Sparta, um mehr über den Verbleib seines Vaters zu erfahren. Erst nachdem Kalypso ziehen lassen muss, kann die Erzählung ihren Lauf nehmen, entrinnt Odysseus der Nymphe.

Odysseus, der Sexsklave von Kalypso!?

Also, zehn Jahre Trojanischer Krieg und dann – BÄM – Odysseus hat die Idee, das Trojanische Pferd bringt den Griechen den Sieg. Weitere zehn Jahre ist Odysseus dann auf seinen Irrfahrten unterwegs, ganze sieben Jahre verbringt er bei der Nymphe Kalypso, die ihn quasi als Sexsklaven hält, ihn sogar zu ihrem Gemahl machen will, sind sie und Odysseus Göttin und ihr Geliebter (Odyssee 5. Gesang, V. 194) Nur auf den Befehl von Zeus (dessen Beiname auch Kronion ist) ist sie bereit den Unglücklichen gehen zu lassen.

Als die heilige Nymphe Kronions Willen vernommen,
Dieser saß am Gestade des Meers, und weinte beständig,
Ach! in Tränen verrann sein süßes Leben, voll Sehnsucht
Heimzukehren: denn lange nicht mehr gefiel ihm die Nymphe;
Sondern er ruhte des Nachts in ihrer gewölbeten Grotte
Ohne Liebe bei ihr, ihn zwang die liebende Göttin;
Aber des Tages saß er auf Felsen und sandigen Hügeln,
Und zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern
Und durchschaute mit Tränen die große Wüste des Meeres.
Jetzo nahte sich ihm und sprach die herrliche Göttin:
Armer, sei mir nicht immer so traurig, und härme dein Leben
Hier nicht ab; ich bin ja bereit, dich von mir zu lassen.
(Odyssee 5. Gesang, V. 150-161)

Vorher gibt es aber noch Abschiedssex (und das, während die arme Penelope sich auf Ithaka sämtliche Freier vom Leib halten muss, um ihrem Odysseus auch wirklich treu bleiben zu können.)

[…] da sank die Sonne, und Dunkel erhob sich.
Beide gingen zur Kammer der schöngewölbeten Grotte,
Und genossen der Lieb‘, und ruheten nebeneinander.
(Odyssee 5. Gesang, V. 225-227)

Odysseus – ein vom Krieg Traumatisierter

Man könnte geneigt sein, zu fragen, warum Odysseus nicht bei Kalypso bleibt. Es könnte ihm besser nicht gehen: Kalypso ist unsterblich, sie ist mächtig, sie ist wunderschön, sie bietet ihm ebenfalls Unsterblichkeit an und obendrauf noch jede Menge Sex. Dagegen sieht Penelope alt aus – und zwar nicht nur im sprichwörtlichen Sinne. Menschen altern eben. Was hat Penelope, was bedeutet Heimat gegen all diese Angebote?

Dem Psychiater Jonathan Shay zufolge ist Odysseus stark vom Krieg, seiner Irrfahrt, dem Tod der Gefährten und den erlebten Erfahrungen traumatisiert. Shay arbeitet mit Kriegsveteranen, die unter ernsten posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Und er beweist sehr eindrücklich an zahlreichen Beispielen im Vergleich mit dem Verhalten von Odysseus, dass dieser ebenfalls unter den typischen Symptomen einer schweren PTBS leidet. In diesem Fall aber wohl eher mit einer Form der Selbsttäuschung, die ebenfalls als Symptom betrachtet werden kann. Denn Shay hat in Gesprächen mit Veteranen herausgefunden, dass diese Sex als Ventil nutzen, und dass es einen Unterschied gibt zwischen dem sexuellen Akt an sich und der mit körperlicher Nähe einhergehenden Intimität, welche die Soldaten mit ihrer Ehefrau oder Freundin verbinden, nicht aber mit einer Prostituierten oder flüchtigen Bekanntschaften.

Odysseus bei den Phaiaken – zurück in der Zivilisation

Nachdem Odysseus nun Ogygia auf einem Floß verlassen hat, erleidet er erneut Schiffbruch, denn der Meeresgott Poseidon hat immer noch eine Rechnung mit ihm offen. Das Pferd, das Symbol Poseidons, hat Odysseus listenreich gegen die Trojaner missbraucht bzw. eingesetzt. Und außerdem (dazu komme ich noch) hat er den Kyklopen Polyphem geblendet, den Sohn des Erderschütterers. Bei nur einem Auge ist das fatal und darum hat der Kyklop bei seinem Vater Rache eingefordert. Dennoch erreicht Poseidon das Land der Phaiaken (auch Phäaken), wo er von König Alkinoos aufgenommen wird. Odysseus ist mit seiner Ankunft bei diesem Volk wieder in der Zivilisation angekommen, trifft nach Entbehrungen auf Reichtum und Fülle, denn die Phaiaken sind ein reiches Volk, das Genüssen, dem sportlichen Agon und Kunst frönt. Sie feiern bei Speis‘ und Trank, und schmausten von Tage zu Tage (Odyssee 7. Gesang, V. 99-100), sind der Kunst des Gewebes (Odyssee 7. Gesang, V. 110) bewandert, das Athene selbst sie gelehrt hat, bauen Obst an, keltern Weine und mehr.

Täuschung 2: Kunst, Unterhaltung und die Realität

Als unbekannter Gast wohnt Odysseus auch den Feierlichkeiten bei. Ausgelassen wird der Sieg der Griechen im Trojanischen Krieg zelebriert, die Helden und ihre Taten gewürdigt, die Täuschung mit dem hölzernen Pferd und natürlich singt man auch vom hochberühmten Odysseus (Odyssee 5. Gesang. V. 502). Odysseus hat sich Alkinoos nicht zu erkennen gegeben, hat ihn also hinsichtlich seiner Identität getäuscht. Doch bei dem freudigen Gesang des berühmten Sängers Demodokos kommen Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse ins Bewusstsein zurück, sodass er Emotionen zeigt, die er sich bemüht zu verstecken. Odysseus muss sich also verstellen. Man muss sich hier vor Augen halten, dass er bei den Kämpfen dabei war, er hat das Blut gesehen, die Kämpfe, die Sterbenden und er hat selbst um sein Leben gefürchtet und Verluste erlitten.

Und [Demodokos] sang, wie die Stadt von Achaias Söhnen verheert ward,
Welche dem hohlen Bauche des trüglichen Rosses entstürzten;
Sang, wie sie hier und dort die stolze Feste bestürmten;
Und wie Odysseus schnell zu des edlen Deiphobos‘ Wohnung
Eilte, dem Kriegsgott gleich, samt Atreus‘ Sohn Menelaos,
Und wie er dort voll Mutes dem schrecklichsten Kampfe sich darbot,
Aber zuletzt obsiegte, durch Hilfe der hohen Athene.
Dieses sang der berühmte Demodokos. Aber Odysseus
Schmolz in Wehmut, Tränen benetzten ihm Wimper und Wangen.
Also weinet ein Weib, und stürzt auf den lieben Gemahl hin,
Der vor seiner Stadt und vor seinem Volke dahinsank,
Streitend, den grausamen Tag von der Stadt und den Kindern zu fernen;
Jene sieht ihn jetzt mit dem Tode ringend und zuckend,
Schlingt sich um ihn, und heult laut auf, die Feinde von hinten
Schlagen wild mit der Lanze den Rücken ihr und die Schultern,
Binden und schleppen als Sklavin sie fort zu Jammer und Arbeit;
Und im erbärmlichsten Elend verblühn ihr die reizenden Wangen:
So zum Erbarmen entstürzt‘ Odysseus‘ Augen die Träne.
Allen übrigen Gästen verbarg er die stürzende Träne;
Nur Alkinoos sah aufmerksam die Trauer des Fremdlings,
Welcher neben ihm saß, und hörte die tiefen Seufzer.
(Odyssee, 8. Gesang, V. 514-534)

Alkinoos versteht nicht, wieso Odysseus bei dem Gesang an die Krieger und ihre besungenen Heldentaten trauert. Zuletzt muss Odysseus sich ihm zu erkennen geben.

Ich bin Odysseus, Laertes Sohn, durch mancherlei Klugheit
Unter den Menschen bekannt; und mein Ruhm erreichet den Himmel.
(Odyssee 8. Gesang, V. 19-20)

Odysseus – Ein Veteran mit PTBS

Odysseus verschweigt also gegenüber den Phaiaken zunächst seinen Namen und er täuscht auch Anteilnahme beim Fest vor, verbirgt seine Emotionen, die aufgrund der Erinnerungen an die besungenen Erlebnisse in ihm hochsteigen, bis es nicht mehr möglich ist. Er hat den Krieg hautnah erlebt mit all seinen Schrecken. Und nun sitzt er inmitten dieser reichen, unbekümmerten Menschen, die darüber singen, dabei trinken und feiern, als wäre es ein Spaß gewesen! Es geht um ein und dieselbe Sache – den Trojanischen Krieg – und doch liegt die Wahrnehmung dieses Gegenstands an zwei sich gegenliegenden Polen, die unter diesen Umständen nicht vereint werden können. Die Szene ist in vielfacher Hinsicht interessant – hier wird sie jetzt nur unter der Thematik der List und Täuschung behandelt. Doch natürlich geht es auch um die Reinszenierung von Ereignissen im Rahmen von Festen und Feiern, es geht um Mythenbildung über das Erzählen, das Erzählen an sich als Kunstform, als Etablierung von Bräuchen und Gemeinschaften, über Stiftung von Kultur und Gemeinschaft, es geht um Heldentum, Ruhm und das Nachleben großer Taten. Und es geht auch um das individuelle Erleben des einen Helden, der physisch dabei war, jedoch in seiner eigenen Wahrnehmung eben ganz anderes empfindet. Eine wirklich sehr interessante Gegenüberstellung, das ist genial!

Eigenes Erleben vs. Erzählungen lauschen

Jonathan Shay konstatiert: „Homer makes the same point twice [dass Odysseus seine Emotionen verstecken muss], as if to drive it home. These stories rip Odysseus‘ heart out, while for the Phaeaciancs, they are never more than entertainment.“[2]

Und auch wenn Alkinoos Odysseus bittet, seine Erlebnisse vom Krieg zu erzählen, beginnt er diese direkt mit seiner Irrfahrt, spart den Krieg aus. Und zwar erzählt er von seiner Irrfahrt in der Form von fröhlich-machender Unterhaltung, denn dies verstehen die Phaiaken, auch wenn Alkinoos wünscht, Odysseus möge ihm erzählen, warum er leidet. Odysseus passt sich also mit seinem Verhalten an die lokalen Gegebenheiten an, es sind soziale Täuschmanöver, die aber sein individuelles Selbst schützen, weil es zu schmerzhaft für ihn wäre, an diesen Erlebnissen zu rühren. Und auch wenn er als der besungene und weithin bekannte erfindungsreiche Held von Troja, als der er sich schließlich vorstellt, zu erkennen gibt, so stellt er sich gerade nicht so dar, möglicherweise weil die Erlebnisse vom Krieg zu traumatisch waren. List und Täuschung und Verstellung müssen also nicht notwendigerweise auf Prinzipien der Machterhaltung basieren. Sie können, wie das Beispiel von Odysseus bei den Phaiaken zeigt, auch zum Selbstschutz eingesetzt werden oder aufgrund von psychischen Belastungen wie etwa einem Trauma, mit dem ein spezifisches Ereignis in Verbindung steht.

Täuschung 3: Die List des Odysseus gegen Polyphem

Odysseus erzählt von seiner Irrfahrt und auch von der Begegnung mit dem Kyklopen Polyphem. Zur Erinnerung: Kyklopen, das sind Riesen mit nur einem Auge. Odysseus und seine Crew stranden auf der Insel der Kyklopen und schlachten einige der dort lebenden Ziegen. Anstatt weiterzuziehen, erkunden sie die Insel und finden in einer der Höhlen Käse und Milch. Doch sie werden von den Höhlenbewohnern überrascht – in diesem Fall Polyphem, der zudem noch ein Sohn des Meeresgottes Poseidon ist. Poseidon ist nicht unbedingt gut auf Odysseus zu sprechen, unter anderem auch deswegen, weil er das ihm heilige Pferd für seine List zur Überwindung der Trojaner missbraucht hat. Nach dem Aufeinandertreffen des Kyklopen und Odysseus wird der Gott einen weiteren Eintrag auf seiner Liste ‘Warum ich Odysseus hasse’ hinzufügen. Jedenfalls laben sich die Männer an den in der Höhle gefundenen Köstlichkeiten, man könnte auch sagen, sie bestehlen Polyphem. Man könnte sie sogar als Piraten bezeichnen. Denn der Schiffsbauch ist gefüllt und sie haben sich zuvor an den freilebenden Ziegen der Insel sattgegessen. Dreist erscheint es also, sich einfach in die Höhle eines Fremden zu setzen, dessen Lebensmittel zu konsumieren und auch noch darauf zu warten, was für ein Gastgeschenk dieser Unbekannte den Eindringlingen wohl überreichen würde.

Nachher ist man immer schlauer – auch der kluge Odysseus

Obwohl seine Männer Odysseus zur Weiterfahrt mahnen, hört dieser nicht. In seiner Erzählung an die Phaiaken ruft er sich dies ins Gedächtnis indem er hinzufügt ach besser, hätt ich gehöret! (Odyssee, 9. Gesang, V. 228). Allerdings ist er auch neugierig auf den Bewohner und gespannt darauf, welche Gastgeschenke dieser im wohl überreichen wird. (Odyssee, 9. Gesang, V. 229-230) Odysseus ist also auch gierig! Es ließe sich so ausdrücken. Anders formuliert – vermutlich würde niemand jemandem, der sich ungefragt an seinen Vorräten sattgefressen hat, auch noch ein Geschenk unterbreiten, sondern diesen Jemand vor die setzen oder die Polizei rufen!

Im Nachhinein ist man jedenfalls immer schlauer. Der Kyklop geht nicht zimperlich mit den Reisenden um:
Sondern [der Wüterich] fuhr auf und streckte nach meinen Gefährten [es erzählt Odysseus] die Händ‘ aus,
Deren er zween anpackt‘ und wie junge Hund‘ auf den Boden
Schmetterte: blutig entspritzt‘ ihr Gehirn und netzte den Boden
Dann zerstückt‘ er sie Glied vor Glied und tischte den Schmaus auf,
Schluckte darein, wie ein Leu des Felsengebirges, und verschmähte
Weder Eingeweide, noch Fleisch, noch die markichten Knochen.
(Odyssee 9. Gesang, V. 288-293)

Nach seinem Festschmaus verschließt Polyphem die Höhle und legt sich schlafen. Das Morden geht am nächsten Morgen weiter. An Flucht ist nicht zu denken, die Situation scheint aussichtslos.

Niemand ist mein Name – Odysseus ist Niemand

Doch Odysseus wäre nicht als der listenreiche oder erfindungsreiche Odysseus bekannt, wenn er nicht einen Ausweg finden würde. Und immerhin hat er überlebt, sonst könnte er ja gar nicht davon erzählen. Und trotzdem fiebern wir mit, wie sicher auch König Alkinoos und sein Gefolge, weil Odysseus es nämlich unterhaltsam erzählt, spannend eben: Wie konnte Odysseus und seine Crew entkommen? Am nächsten Morgen bietet Odysseus dem Kyklopen Wein aus seinem Schlauch. Als dieser ihn nach seinem Namen fragt, antwortet er:

Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle,
Meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen.
(Odysse 9. Gesang, V. 366-367)

Der Riese fällt aufgrund des Alkoholkonsums in einen tiefen Schlaf. Dies gibt Odysseus und seinen Männern die Möglichkeit zum Gegenschlag: Sie blenden Polyphem. Der wacht von dem entsetzlichen Schmerz auf, brüllt und heult, sodass alle anderen Kyklopen das Geschrei hören und fragen, was ihn betrübt. Weil aber Polyphem immerzu schreit: Niemand würgt mich, ihr Freund‘, arglistig! Und Keiner gewaltsam! (Odyssee 9. Gesang, V. 408) halten sie ihn für verrückt und raten ihm, er solle sich an seinen Vater Poseidon wenden. Odysseus lacht sich, salopp formuliert, aufgrund dieser List und Täuschung ins Fäustchen und flieht mit seinen Männern, nachdem der Geblendete den Stein vom Eingang der Höhle gerollt hat.

Die Relevanz des Namens

Doch nennt zuletzt Odysseus dem Kyklopen eben doch seinen Namen. Das fällt nicht in die Kategorie ‘dumm gelaufen’, sondern eher in die Kategorie ‘Hochmut kommt vor dem Fall’ oder einfach ein kindisches ‘Ätschebätsche!‘. Wieder sind es die treuen Gefährten, die ihn aufhalten wollen. Doch in einem Anflug von Waghalsigkeit kann Odysseus es nicht unterlassen, können die Gefährten ihn nicht abhalten.

Und ich rief dem Kyklopen von neuem mit zürnender Seele:
Hör Kyklope! Sollte dich einst von den sterblichen Menschen
Jemand fragen, wer dir dein Auge so schändlich geblendet,
Sag ihm: Odysseus, der Sohn Laërtes‘ der Städteverwüstser,
Der in Ithaka wohnt, der hat mein Auge geblendet!
(Odyssee 9. Gesang, V. 501-504)

Um das Ganze einmal in moderne Verhältnisse zu übersetzen: Ein moderner Odysseus hat gerade die Mafia beklaut und ihren stärksten Mann unschädlich gemacht. Anstatt nun im Dunkeln zu verschwinden, schreibt er seine Adresse auf, nimmt einen Stein, umwickelt ihn mit dem Papier und schmeißt ihn dem Clanführer ins Fenster. Oder schreibt ihm per Telegram und teilt seinen googlemaps-Standort und schickt noch ein Bart-Simpson-Eat-my-Shorts-gif. Das genau passiert jetzt nämlich, wenn Polyphem seinen Vater, den Meeresgott Poseidon um Rache anfleht.

Höre mich, Erdumgürter, du bläulichgelockter Poseidon,
Bin ich wirklich dein Sohn, und nennst du rühmend dich Vater,
Gib, daß Odysseus, der Sohn Laërtes‘, der Städteverwüster,
Der in Ithaka wohnt, nicht wiederkehre in die Heimat!
[…]
Laß ihn spät, unglücklich und ohne Gefährten, zur Heimat
Kehren auf fremdem schiff, und Elend finden zu Hause!
(Odyssee 9. Gesang, V. 528-535)

Sehen, was passiert

Und all dies trifft letztlich auch zu. Wie bewertet Jonathan Shay das Verhalten von Odysseus im Rahmen der beschriebenen PTBS, an der viele Kriegsveteranen leiden? Die Antwort ist simpel: „Odysseus just wanted to ‘see what would happen’ in the Cyclops‘ cave.“[3] Im Englischen gibt es die Redewendung ‘living on the edge’, was ungefähr übersetzt werden kann mir ‘an der Grenze leben’. Beschrieben wird damit eine Lebensweise, die gekennzeichnet ist von Risikobereitschaft, der Suche nach Gefahr und dem Streben nach Intensität. „I see the adventure with the Cyclops as an emblem for combat veterans‘ attraction to danger, an attraction that has cost so many their lives after returning home, and tortured those who love them with untold hours of fear for their survival.“[4]

Doch Shay sieht auch die Art und Weise, wie Odysseus sich bei der Ankunft in der Höhle verhält und setzt sie mit dem Verhalten eines Soldaten in Beziehung. Im Krieg müsse sich der Soldat vergewissern, ob der Fremde gewalttätig, gesetzlos, feindlich sei oder freundlich, gottesfürchtig und gesetzestreu.[5] Der scheinbar unverantwortliche Impuls von Odysseus, zu sehen, was passiert, sei also in diesem Kontext plausibel, weil Veteranen dies aus dem Krieg gewohnt seien.[6] „It is as if, having lived in a world whre the dice were constantly rolling, the calm, plan-filled responsibility of civilian life (or fort hat matter, of peacetime military service) is intolerable.“[7]

Täuschung 4: Odysseus‘ Verkleidung als Bettler

Eine der wichtigsten Täuschungen ist Odysseus‘ Verkleidung als Bettler auf Ithaka. Es ist die Göttin Athene, die zu seinem Schutz diesen Schleier über ihn hüllt und ihn so vor den Augen aller verbirgt. Allein sein treuer und altgewordener Hund Argos erkennt ihn ebenso wie die treue Dienerin Eurykleia ihn an einer Narbe erkennt. Narben gehören als individuelles Merkmal zu der entsprechenden Person, vermutlich konnte sie darum nicht verschleiert werden. In der Verkleidung des Bettlers kann Odysseus sich nun der Treue seiner Frau Penelope versichern und zugleich ohne Aufsehen zu erregen in sein Heim gelangen. Der Schweinehirt Eumaios nimmt ihn freundlich auf. Dort trifft er auf seinen Sohn Telemachos, mit dem er einen Plan zur Befreiung und Vernichtung der sein Heim belagernden Freier schmiedet. Zur gleichen Zeit beschließt Penelope, dass derjenige Freier ihre Hand gewinnt, welcher mit dem Bogen von Odysseus am besten umgehen kann.

Diesen Wettkampf will ich den Freiern jetzo gebieten.
Wessen Hand von ihnen den Bogen am leichtesten spannet
Und mit der Senne den Pfeil durch alle zwölf Äxte hindurchschnellt.
(Odyssee 20. Gesang, V. 576-578)

Auch Odysseus ist bei diesem Wettkampf als Bettler anwesend. Telemachos hat vorher alle an den Wänden hängenden Waffen aus dem Raum entfernt. Keinem der Freier gelingt die gestellte Aufgabe, sodass zuletzt der Bettler alias Odysseus sein Glück versuchen darf. Natürlich schafft er es mit Leichtigkeit.

So nachlässig spannte den großen Bogen Odysseus.
Und mit der rechten Hand versucht‘ er die Senne des Bogen;
Lieblich tönte die Senne, und hell wie die Stimme der Schwalbe.
Schrecken ergriff die Freier, und aller Antlitz erblaßte.
Und Zeus donnerte laut, und sandte sein Zeichen vom Himmel:
Freudig vernahm das Wunder der herrliche Dulder Odysseus,
Welches ihm sandte der Sohn des unerforschlichen Kronos.
Und er nahm den gefiederten Pfeil, der bloß auf dem Tische
Vor ihm lag, indes im hohlen Köcher die andern
Ruheten, welche nun bald die Achaier sollten versuchen.
Diesen faßt‘ er zugleich mit dem Griffe des Bogens; dann zog er,
Sitzend auf seinem Stuhle, die Senn‘ und die Kerbe des Pfeils an,
Zielte dann, schnellte den Pfeil, und verfehlete keine der Äxte;
Von dem vordersten Öhre bis durch das letzte von allen
Stürmte das ehrne Geschoß. […].
(Odyssee 20. Gesang, V. 409-423)

Irgendwie hat mich diese Szene und die Verkleidung als Bettler sowie der Wettbewerb an Robin Hood erinnert. Immerhin ist der auch Bogenschütze und verkleidet sich für einen Wettkampf im Bogenschießen. Natürlich ist der Kontext ein anderer. Aber Ähnlichkeiten bestehen durchaus. Ein abschließendes Blutbad gab es aber, glaube ich, bei Robin Hood nicht.

Brutale Rache ohne Gnade

Ohne Zaudern beginnt dann sofort der Kampf, lassen Vater und Sohn ein Gericht der Rache auf die Freier und Abtrünnigen prasseln, zuerst trifft es Antinoos. Wenn man Homer eines nicht vorhalten kann, dann ist es Zimperlichkeit, denn zensiert wird hier nichts. Dazu einige Kostproben. Auch Telemachos lässt die Waffen blutschweifend schwingen:

Und Telemachos sprang auf Leiokritos wütend, und rannt‘ ihm
Seinen Speer durch den Bauch, daß hinten die Spitze hervordrang:
Vorwärts fiel er dahin, und schlug mit der Stirne den Boden.
Aber Athene erhub an der Decke den leuchtenden dunkeln
Menschenverderbenden Schild, und schreckte die Herzen der Freier.
Zitternd liefen sie rings durch den Saal, wie die Herde der Rinder,
Welche auf grasichter Weide die rasche Bremse verfolget,
Im anmutigen Lenz, wenn die Tage heiter und lang sind.
(Odyssee 22 Gesang, V. 294-301)

Odysseus und Telmachos lassen keine Gnaden walten und pflügen sich mit Waffengewalt durch die anwesenden Körper:

Doch die verfolgenden Stößer ereilen sie würgend; da gilt nicht
Streiten oder Entfliehn; es freun sich die Menschen des Schauspiels:
Also stürzten sie wütend sich unter die Freier, und würgten
Links und rechts durch den Saal; mit dem Krachen zerschlagener Schädel
Tönte das Jammergeschrei, und Blut floß über den Boden.
(Odyssee 22. Gesang, V. 305-309)

Dem flehenden Leiodes schlägt Odysseus kurzerhand den Kopf ab:

[…] da nahm er mit nervichter Rechte
Von der Erde das Schwert, das Agelaos im Tode
Fallen lassen, und schwung es, und haut‘ ihm tief in den Nacken:
Daß des Redenden Haupt hinrollend mit Staube vermischt ward.
(Odyssee 22. Gesang, V. 326-329)

Abtrünnige Mägde werden aufgeknüpft. Nur dank der täuschenden Verkleidung gelang es Odysseus, unerkannt in sein Heim vorzudringen, den Plan zur Rache zu schmieden und mit seinem Sohn gemeinsam auszuführen. Auch hier kann die Göttin Athene zum einen als Helferfigur, als göttliche Unterstützerin erkannt werden, zugleich jedoch auch als übergeordnetes Prinzip der Intelligenz und Eingebung, durch die Odysseus von selbst auf die Idee der Verkleidung kommt.

Das Individuelle bleibt erhalten

Interessant ist, dass Odysseus trotz seiner Verkleidung von seinem Hund Argos und seiner Dienerin erkannt wird. Die Identität, das zur Identität zugehörige Individuelle bleibt also in der täuschenden Verkleidung erhalten und ist unverkennbar. So hat er den mittlerweile sehr alten Hund Argos selbst erzogen, es besteht also eine besondere Bindung zwischen Hund und Mensch. Nun ist er alt und liegt von Ungeziefer zerfressen im Mist. Er ist sogar zu schwach, aufzustehen und seinen Herren zu begrüßen, ist der doch dem Tode nahe. Odysseus geht das Schicksal seines treuen Freundes nahe. Er erfährt, dass das Tier nach seiner Abfahrt vernachlässigt wurde, kann jedoch nichts tun. Es wird nicht beschrieben, woran Argos seinen Herren erkannt hat, es wird wohl einmal an der engen Bindung liegen und möglicherweise ist es auch der bekannte Geruch des vertrauten Menschen. Dass gerade Tiere diesbezüglich eine besondere Wahrnehmung haben bespreche ich in meinem Beitrag zu Mein Freund Pax von Sara Pennypacker, wo es um die Freundschaft zwischen dem Jungen Peter und seinem zahmen Freund Pax geht.

Narben, Individualität und ihre Geschichte

Auch eine Narbe, die Odysseus seit einer Eberjagd, bei dem der Eber ihn mit dem Hauer erwischte, ist ein Erkennungsmerkmal, zumindest durch Menschen, welche von diesem Merkmal wissen. So etwa die Pflegerin Eurykleia, der von Penelope befohlen wurde den Bettler die Füße zu waschen. Dabei entdeckt sie natürlich die Narbe und erkennt in dem Bettler Odysseus. An Narben hängen übrigens Geschichten, wie die Geschichte von der Eberjagd und der Narbe von Odysseus (Odyssee Gesang V. 394-467). Narben können sichtbar sein oder unsichtbar. Man sollte niemanden aufgrund seines Äußeren verurteilen oder beurteilen, wenn man nicht wissen kann, welche inneren Narben er trägt und welchen Weg er bislang gegangen ist. Auch das ist in der Odyssee ein Thema. Zum Selbstschutz verheimlicht Odysseus seine Identität und seine inneren Narben (wenn er etwa vom Krieg erzählen soll und es nicht macht), zur Rache täuscht er eine andere physische Identität vor. Beides, außen und innen steht mit List und Täuschung in einer Wechselbeziehung, ist an die jeweilige Figur und ihre Identität geknüpft und steht mit anderen Figuren in Relation.

Täuschung 5: Penelope und die Abwehr der Freier

Dass Penelope Odysseus stets eine treue Ehefrau war, steht außer Frage. Und doch erkennt sie Odysseus erst nach dem Kampf durch ein klärendes Gespräch, ist der Bettler für sie eben das. Es ist das Wissen um ein gemeinsames Geheimnis, das Penelope schließlich die Gewissheit gibt, dass sie ihren Mann vor sich hat. Odysseus hat nämlich das Ehebett um einen Ölbaum herum gebaut und kann genau beschreiben wie er vorgegangen ist und wie das Ehebett aussieht. Das gemeinsame Wissen um etwas, dass ihnen beiden bekannt ist, also zu ihrer Autobiografie gehört, bewirkt das Erkennen. Über das Erzählen wird also Identität markiert, sodass Erkennen möglich ist. Neben physischen Markern wie der Narbe oder dem vertrauten Geruch oder der Bindung eines Tieres gehören auch Erzählungen zu gemeinschaftsstiftenden Handlungen, die sich aus der individuellen Autobiografie speisen, jedoch wo sie gemeinsam erlebt wurden Zusammenhalt stiften. Nun erkennt Penelope ihn. Doch Odysseus macht sich Sorgen, ob in seiner Abwesenheit jemand anders in diesem Bett lag, außer Penelope.

Jetzo, da du, Geliebter, mir so umständlich die Zeichen
Unserer Kammer nennst, die doch kein Sterblicher sahe,
Sondern nur du und ich, und die einzige Kammerbediente
Aktoris, welche mein Vater mir mitgab, als ich hieher zog,
Die uns beiden die Pforte bewahrt des festen Gemaches:
Jetzo besiegst du mein Herz, und alle Zweifel verschwinden.
(Odyssee 22. Gesang, V. 225-229)

Man könnte auch sagen, Odysseus und Penelope nutzen Codewörter, sie nutzen einen individuellen Code, den nur sie kennen und den nur sie richtig einzuschätzen wissen. Und gerade darüber wird erkennen möglich! Penelope kann ihren Mann in der Szene beruhigen. Der Rezipient weiß bereits von ihrer Treue und der Webstuhllist, die sie zum Hinhalten der Freier anwendet, um Zeit für die erhoffte Rückkehr ihres Gatten zu gewinnen. Das ist nämlich bereits im zweiten Gesang zu Beginn des Werkes beschrieben worden:

Seit [Penelope] mit eitlem Wahne die edlen Achaier verspottet!
Allen verheißt sie Gunst, und sendet jedem besonders
Schmeichelnde Botschaft; allein im Herzen denket sie anders!
Unter anderen Listen ersann sie endlich auch diese:
Trüglich zettelte sie in ihrer Kammer ein feines
Übergroßes Geweb‘, und sprach zu unsrer Versammlung:
Jünglinge, die ihr mich liebt, nach dem Tode des edlen Odysseus,
Dringt auf meine Vermählung nicht eher, bis ich den Mantel
Fertig gewirkt (damit nicht umsonst das Garn mir verderbe!)
Welcher dem Helden Laertes zum Leichengewande bestimmt ist,
Wann ihn die finstre Stunde mit Todesschlummer umschattet:
Daß nicht irgend im Lande mich eine Achaierin tadle,
Läg‘ er uneingekleidet, der einst so vieles beherrschte!
Also sprach sie mit List, und bewegte die Herzen der Edlen.
Und nun webete sie des Tages am großen Gewebe:
Aber des Nachts, dann trennte sie’s auf, beim Scheine der Fackeln.
Also täuschte sie uns drei Jahr, und betrog die Achaier.
(Odyssee 2. Gesang, V. 90-106)

Mehr List und Täuschung in der Odyssee

Beispielsweise werden Odysseus‘ Gefährten durch die Zauberin Kirke getäuscht, die mit einer verzauberten Speise alle in Schweine verwandelt. (Wer hat noch diesen Ärzte-Song im Ohr?) Oink, oink! Lustig ist das weniger, ich konnte mir das jetzt einfach nicht verkneifen. Jedenfalls erhält Odysseus hier auch göttliche Hilfe (von Hermes, der ja mitunter auch Gott der Diebe ist), indem er sich mit einem Kraut schützt und die Zauberin mit dieser listigen Hilfe überrumpeln kann. Gekrönt wird das Ganze auch mit Sex – Odysseus hat echt Schwein (wie verhext, ich konnte es schon wieder nicht lassen), jedenfalls kann er seine Gefährten befreien und sie werden zurückverwandelt. Ein Jahr bleiben sie bei Kirke, lassen sich verwöhnen und für die Weiterfahrt stärken. Man könnte auch sagen, sie lassen mit Schlemmen und Vergnügen nach all den Strapazen erst einmal die Sau raus! Gut – jetzt reicht es wirklich.

Durch Täuschung und List werden Odysseus und seine Gefährten auf dem offenen Meer ausgesetzt, wenn sie dem Gesang der Sirenen lauschen. Diese locken Seefahrer mit ihrem lieblichen Gesang auf ihren Felsen und zerfleischen sie dann. Die Sirenen sind wohl auch eine Version der hinterlistigen und todbringenden Frau, die sich Männer erst gefügig machen und sie dann im wahrsten Sinne des Wortes ausweiden. Mit dem berühmten Wachs in den Ohren gelingt aber Odysseus und seinen Gefährten davor bewahren. Übrigens hat auch Jonathan Shay interessante Thesen zu den Frauenfiguren im Zusammenhang mit der PTBS bei Veteranen in der Odyssee neben Kalypso aufgestellt. Vielleicht kann ich sie ein andermal unterbringen. Überhaupt ist die Darstellung der Frauenfiguren und den ihnen zugeordneten Themen sehr interessant. Doch ein andermal.

Fazit zu List und Täuschung in Homers Odyssee

Täuschung und List sind also durchaus tragende Aspekte der Handlung in Homers Odyssee – Chat GPT hat das richtig erkannt bzw. die Wahrscheinlichkeiten korrekt angezeigt. Die Figuren müssen Täuschungen gezielt aus verschiedenen Beweggründen einsetzen, um ihr Leben zu retten, um bestimmte Ziele zu erreichen, um andere zu retten und natürlich auch um die Herrschaft zu bewahren. Letzteres gilt insbesondere für Odysseus und Telemachos, auch Penelope, die als zurückgebliebene Frau während des Heranwachsens von Telemachos die Zügel in der Hand hält und sich erfolgreich gegen die Freier wehren muss. Täuschung und List haben das Ende des Trojanischen Krieges herbeigeführt und Odysseus durch seine Irrfahrten gerettet, mit Listen haben er und seine Familie sich erfolgreich gegen Feinde gewehrt und ihr Heim verteidigt. Und letztlich scheint Lug und Trug auch ein göttliches Prinzip, eine von den Göttern vielfach eingesetzte Methode zu sein. Athene selbst legt den Schleier über Odysseus, der ihn als Bettler erscheinen lässt.

Täuschung und List – ein anthropologisches Prinzip

Man könnte es auch so formulieren: Die Götter täuschen die Menschen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Besonders Athene ergreift für Odysseus und seine Familie Partei und manipuliert die Freier oder erscheint verkleidet als Mentor, um hilfreiche Ratschläge zu geben. Dagegen arbeitet der Meeresgott Poseidon als antagonistisches Prinzip. Und über allem steht Zeus, dessen Entscheidungen über allem stehen. Und doch ist ja letztlich die Odyssee Menschenwerk, Homer als Dichter der zugeordnete Schöpfer, derjenige, der die Geschicke der Figuren von einer externen Ebene aus lenkt und sich auskannte mit anthropologischen Prinzipien der List und Täuschung, des Trugschlusses, aber auch der Möglichkeit bekannte Menschen an ihren individuellen Markern oder Erzählungen und Autobiografien zu erkennen. Ich bin gespannt, inwiefern sich die hier erarbeiteten Thesen und Erkenntnisse auf Leopold Bloom, den Protagonisten aus Ulysses von James Joyce übertragen lassen bzw. ob eine derartige Übertragung möglich scheint. Dazu ein andermal mehr.

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Verwendete Literatur

Homer: Odyssee. Vollständige Ausgabe. Übertragen von Johann Heinrich Voß. München 1980.
Publius Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Edith und Gerhard Binder. Stuttgart 2008 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18918).
Shay, Jonathan: Odysseus in America. Combat Trauma and the Trials of Homecoming. New York 2002.
Visser, Edzard: Odysseus. I Mythologie. In: Bäbler, Balbina/Visser, Edzard: Odysseus. Der Neue Pauly Online, online unter: https://referenceworks.brill.com/display/entries/NPOG/e828400.xml?rskey=9bfGA2&result=1 (zuletzt aufgerufen am 10.05.2024).


[1] Visser, Edzard: Odysseus. I Mythologie. In: Bäbler, Balbina/Visser, Edzard: Odysseus. Der Neue Pauly Online, online unter: https://referenceworks.brill.com/display/entries/NPOG/e828400.xml?rskey=9bfGA2&result=1 (zuletzt aufgerufen am 10.05.2024). Der Zugang zum Neuen Pauly Online ist nur für registrierte Nutzerinnen und Nutzer möglich, daher kann es sein, dass er der hier angegebene Link nicht für jeden freigegeben ist. [2] Shay, Jonathan: Odysseus in America. Combat Trauma and the Trials of Homecoming. New York 2002, S. 15. [3] Ebd., S. 45. [4] Ebd., S. 44. [5] Ebd., S. 45. [6] Ebd. [7] Ebd.

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