Die Lesung zu Südstern von Tim Staffel fand als Blind-Date-Lesung zur Longlist des Deutschen Buchpreises von 2023 in der Bremer Buchhandlung Storm im letzten September statt. Ich hatte mir eine Karte gesichert und wollte eigentlich auch in diesem Jahr wieder an einer dieser Überraschungs-Lesungen teilnehmen. Leider musste ich feststellen, dass die Bremer Buchhandlung Storm geschlossen ist. Das ist sehr schade, die Lesung war wirklich sehr spannend in angenehmer Atmosphäre direkt im Herzen von Bremen. Aber ich habe eine Erinnerung – Südstern, ein Autogramm von Tim Staffel im Buch und den Rückblick an einen lauschigen Abend unter Büchern.
Zum Autor Tim Staffel
Tim Staffel (geboren 1965) ist ein deutscher Schriftsteller und Hörspielregisseur. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaften und lebt seit 1993 in Berlin. Staffel schreibt Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane Terrordrom (1998), Heimweh (2000) und zuletzt Südstern (2023). Für seine Arbeit erhielt er verschiedene Stipendien und Auszeichnungen, darunter das Alfred-Döblin-Stipendium und die Heinz-Dürr-Stiftungsprofessur der Universität Hildesheim sowie mehrmals das Literatur-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Der Film Westerland (2012) stammt als Autor ebenfalls aus der Hand von Tim Staffel, er führte bei dem Film auch Regie. Tim Staffel stand mit Südstern auf der Longlist des Deutschen Buchpreises von 2023.
Zusammenfassung von Südstern
Tim Staffels Roman Südstern erzählt die Geschichten von Vanessa und Deniz im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Vanessa, eine Pharmakologin, liefert leistungssteigernde und schmerzlindernde oder beruhigende Substanzen an diverse Kunden. Sie ist im Grunde Dealerin. Deniz, ein Streifenpolizist, kämpft mit seinem stressigen Job und der Pflege seines kranken Vaters. Ihre Leben kreuzen sich und führen zu einer intensiven Beziehung, die sie beide herausfordert und verändert. Der Roman bietet einen tiefen Einblick in das Leben in Kreuzberg, thematisiert soziale Spannungen, gesellschaftliche Brennpunkte in einer multikulturellen Gemeinschaft und vermittelt Einblicke den herrschenden Zeitgeist. Insgesamt bietet Südstern ein breites Spektrum verschiedenster zeitgenössischer Diskurse und zeichnet ein eindrucksvolles Bild des modernen urbanen Lebens in Berlin.
Zum Aufbau und zur Kapitelstruktur von Südstern
Fünf größere Abschnitte gibt es, die jeweils wieder in einzelne Unterkapitel unterteilt sind. Interessant ist die Erzählperspektive, jeweils durch Vanessa und Deniz als Gedankenstrom dargestellt (das ließe sich auch anders kategorisieren, steht zur Diskussion). Damit es nicht zu Verwechslungen kommt, sind die Anfangsbuchstaben der Abschnitte gefettet. Denn manchmal wechselt die Erzählperspektive auch in einem Unterkapitel zwischen Deniz und Vanessa. Diese Form der Darstellung wird interessant, wenn die beiden zusammen sind und sich tatsächlich unterhalten. Dann wird der Roman, der in seiner Form als innerer oder auch gedanklicher Monolog irgendwie auch strukturell ein Dialog ist, zum tatsächlichen Dialog.
Zur Sprache und Satzbau
Der Roman ist präzise. Kein Wort zu viel, kein Kitsch, kein unnötiges Drama. Tim Staffel hat das Milieu von Kreuzberg eingefangen und mit authentischer Wortwahl abgebildet. Die Gedankenströme sind nicht ausufernd wie bei Joyce, sondern zackig, ehrlich, drängend, auch hart, aber authentisch, realitätsnah. Es ist keine Symphonie, die Leserinnen und Lesern entgegenklingt, sondern der stressige Alltag eines Streifenpolizisten und einer Dealerin unter Druck. Es gibt kein Innehalten, kein Verschnaufen – Zack, zack, zack, schnell und schneller, Staccato, aber kein Marschieren. Die Form verschwimmt etwas und vermischt sich, verläuft ineinander, wenn Deniz und Vanessa sich kennen lernen – und verlieben. Inwiefern es gefällt, ist wohl Geschmackssache, wie ja so vieles im Leben. Es ist kein Schwingen, kein ineinandergreifen gewundener kunstvoll ausformulierter ewiglanger Sätze. Aber es trifft den Zeitgeist Kreuzbergs, es passt zur Arbeit des Polizisten Deniz, der auf seinen Schichten dorthin geschickt wird, wo es brenzlig wird. Der Stil passt auch zur Arbeit einer Dealerin, die – ebenfalls dorthin geht, wo es brenzlig ist – Menschen Stoffe verkauft, damit die irgendwie klarkommen und weitermachen können.
Südstern – ein Berlinroman
„Staffel sein Milljöh“ titelte Rezensent Ronald Düker in der Zeit online. „Ein Meisterwerk aus Sound und Rhythmus: Tim Staffel hat einen hinreißenden Roman über die große menschliche Komödie der deutschen Hauptstadt geschrieben.“[1] Ja, Berlin. Ist Berlin gut getroffen? Ich bin Nicht-Berlinerin, kann es nicht nachvollziehen. Aber ich bekomme ein Bild. Vielleicht beginne ich mit dem Titel. Südstern.
Es gibt im Roman diese eine Stelle, an der Vanessa und Deniz sich losgemacht haben von ihren Pflichten und hinaus gefahren sind in die Natur. Sie liegen beide nackt nebeneinander im Gras.
„Was machst du?, fragt sie.
Ich suche den Südstern, sagt er.“
Aus: Staffel, Tim: Südstern. Berlin 2023, S. 188.
In der Passage geht es vom Wortlaut her um die Sterne, aber es gibt keinen Südstern, nur einen Punkt, um den sich der Südhimmel dreht. Dafür gibt es aber in Berlin einen Südstern, mitten in Kreuzberg. Es handelt sich um einen bereits im 19. Jahrhundert angelegten Stadtplatz, der seit dem 31. Juli 1947 nach kurzfristigen Umbenennungen eben diesen Namen trägt. Sieben Straßen gehen von ihm ab, der Namen kommt also von der sternförmigen Verteilung. Die U7 verbindet Spandau und Rudow miteinander am U-Bahnhof Südstern. Deniz wohnt in der Taborstraße, fährt auf Streife durch die Straßen Kreuzbergs, fährt etwa den Kottbusser Damm runter und biegt in die Lachmann ein. Wenn Vanessa an der Station Möckernbrücke aussteigt und im Übergang zur U7 mit Wohnungslosen ein Straßenbild einfängt, dann sind Leserinnen und Leser in Berlin bei diesen Streifzügen dabei. Ihre beiden Leben und das vieler andere Figuren kreisen um den Berliner Südstern. Das ist nicht der romantisierte Sternenhimmel, den sie weitab der Stadt vom Gras aus beobachten – es ist das rhythmische, ehrliche, auch groteske Leben am Puls Kreuzbergs – Berlins eben.
Die Figuren in Südstern
In Tim Staffels Roman Südstern sind die Hauptfiguren Vanessa Paschke und Deniz Aziz. Vanessa, Mitte 20, ist eine ausgebildete Pharmakologin, die als Drogenkurierin arbeitet. Sie liefert Substanzen, die anderen helfen. Deniz ist ein Streifenpolizist – Freund und Helfer eigentlich – der in einem multikulturellen Viertel Berlins arbeitet und sich um seinen an Parkinson erkrankten Vater kümmert. Beide kämpfen mit ihrem stressigen Alltag und treffen schließlich aufeinander, was ihr Leben nachhaltig beeinflusst. Mit beiden Figuren werden Leserinnen und Leser an Brennpunkte des Lebens geführt, an gesundheitliche, gesellschaftliche, politische, ökologische, interkulturelle und private. Der Begriff helfen ist zentral für die Figuren
Vanessa Paschke
Vanessa ist Pharmakologin, aber das interessiert sie nicht. Sie ist an der Wechselwirkung von Stoffen und Menschen interessiert, sie kennt sich aus mit Substanzen, sie weiß, was Menschen brauchen in ihrer Lebenslage und sie weiß auch, wann sie jemandem lieber nichts aushändigen sollte. Sie hat auch goldene Regeln: „kein persönlicher Kontakt zu Kunden, nicht gierig werden, niemals selbst konsumieren, kein Kredit für niemanden.“ (Südstern, S. 30) Ihr Freund Oliver Lompe ist Abgeordneter, später auch drogenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Mit dem Polizisten Deniz beginnt sie eine Affäre. Beide wissen nicht, dass Vanessa eine Dealerin ist. Damit nicht auffällt, woher sie ihr Geld hat, arbeitet sie als Apothekenkurier und in einer Bar. Und Vanessa hütet auch ihr Klientel, zu denen einige hohe Tiere wie Politiker und auch Ärzte zählen.
Deniz Aziz
Deniz ist Streifenpolizist und schiebt mit seiner Kollegin Jovanna Coric, die er Frau Coric nennt und mit der er regelmäßig aneinandergerät, Schicht um Schicht, mal doppelt, auch drei hintereinander. Abschnitt 52, Kreuzberg-Süd ist ihr Bezirk. Er braucht das Geld, weil er sich um seinen Vater Markus kümmert, der an Parkinson erkrankt ist. Als Polizist mit interkulturellem Background hat er es nicht immer leicht bei der Arbeit. Zwar hat Markus mit Katrin eine Pflegerin, doch es reicht nicht, Deniz kümmert sich trotzdem. Waschen, Kochen, Anziehen und mehr, Deniz leistet neben seinem stressigen Beruf in seiner Freizeit einiges. Die Mehrarbeit übernimmt er, damit er die Pflege zahlen kann und auch die Medikamente. Die Mutter Selda ist verstorben.
Markus Stummer ’Meister Parkinson’
Deniz‘ Vater kann nicht mehr so wie er will. Er ist an Parkinson erkrankt und benötigt Unterstützung, mehr Unterstützung, als Deniz ihm mit seinen Schichten im Streifendienst geben kann. Doch Pflege ist teuer, Medikamente sind teuer, Arztbesuche kosten Zeit, die Beantragung der Pflegestufe und eine Chance auf eine Überweisung in die Parkinson-Spezialklinik. Zwar ist da Katrin, die Deniz als Pflegekraft unter die Arme greift, doch braucht es einfach mehr Unterstützung. Sie hat andere Patienten, viel zu viele brauchen ihre Hilfe. Aber wegen Markus lernen sich Vanessa und Deniz immerhin kennen, als er im Sushi Macchiato strandet, sie ihn aufliest und nach Hause bringt.
Jovanna Coric
Die Kollegin von Deniz ist süchtig nach Schokoladenbonbons und verfällt in ihre Muttersprache, wenn sie ausfallend wird. Auch wegen ihrer Einstellung zu Migranten gerät sie mit Deniz aneinander, obwohl beide einen entsprechenden Hintergrund haben. Für Deniz ist sie Frau Coric, es scheint, als hätte er keine hohe Meinung von ihr. Das liegt auch daran, dass sie sich bei den Einsätzen aus brenzligen Situationen raushalten will, obwohl sie als Polizistin gerade in solchen Situationen durchgreifen müsste. Vielleicht aber hält er sie auch nur für jemanden, der lieber nicht zugreifen will.
Der Bär alias Andreas
Er ist der beste Freund von Vanessas und Felix‘ Vater, zu dem sie keinen Kontakt mehr haben. Zwischen Vanessa und Andreas besteht ein väterliches Verhältnis, er ist ihr Beschützer, ihr Vorbild. Hat im Gefängnis nichts verraten, hat früher die Logistik für Drogenimporte aus Übersee gesteuert und ist somit ein alter Hase/Bär im Geschäft. Doch die Zeiten werden schlechter, im Zuge der Digitalisierung wird alles transparent, da funktionieren die guten, alten Methoden nicht mehr so gut.
Felix Paschke
Vanessas Bruder Felix arbeitet erst als Justizvollzugsobersekretär in der Strafanstalt, wird zuletzt Frührentner. Der Job belastet ihn, es gibt viele Suizide. Sechs Jahre Bundeswehr, vier Auslandseinsätze, dann wollte er zum Personenschutz für die ihm eine sechsjährige Ausbildung im Sicherheitsbereich fehlte. Seine Bewerbung beim Jugendstrafvollzug führte ihn zum Strafvollzug, er erhielt Training für den Umgang mit Inhaftierten der Organisierten Kriminalität mit hohem Gewaltpotenzial. Beamter auf Lebenszeit. Es kommt zu einem Zwischenfall, bei dem Felix einen Inhaftierten zusammenschlägt, in einer Klinik für Psychogene Störungen landet, daraufhin an einer Kunsttherapie teilnimmt und mit 29 Frührentner wird, damit er seinen Dienst nicht mehr aufnimmt.
Lebensechte Nebenfiguren
Es gibt viel mehr Figuren in Südstern, passend zum multikulturellen Kreuzberger Milieu. Nicht nur Deniz trifft in seiner Schicht unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Problemen und versucht zu schlichten, Schaden zu begrenzen – zu helfen. Auch Vanessa hilft, aber auf eine andere Art. Sie hilft Menschen, indem sie ihnen gibt, was sie in ihrer Situation brauchen, womit sie klarkommen und umgehen können. Da ist Fish, der Betreiber des Sushi Macchiato und sein Sohn Puma, Oma Zuppe, die Haschkekse bäckt und selbst etwas gegen die Schmerzen konsumiert. Vanessas ehemaliger Tutor von der Uni, leitet eine der Apotheken aus der Kette seines Vaters. Der Politiker Sebastian Henning braucht Drogen, um dem Druck der Politik zu entkommen und ein ehemaliger Fußballprofi hat Knieschmerzen und muss neben den anliegenden Spielen in der 5. Liga auf dem Bau arbeiten. Das geht nicht allein mit Willensstärke.
Welche Themen werden in Tim Staffels Südstern behandelt?
Ich sehe natürlich das, was ich sehen kann – daher sind die hier aufgelisteten Themen also subjektiver Natur. Wie erwähnt – Berlin, vor allem das Leben in Kreuzberg ist ein großes Thema. Das Leben in der multikulturellen Gemeinschaft, das Leben von Zugezogenen mit interkulturellem Hintergrund wird vor allem durch Deniz‘ Streiffahrten während seiner Schichten eingehend beleuchtet. Die Routen könnten sogar per google maps nachvollzogen werden. Das typische Stadtbild wird abgerundet durch die wilden Tiere, die Berlin bevölkern. „Viele Millionen Wildtiere sind Berlin zuhause. Eine stadttypische Mischung aus Migranten, Einheimischen und Touristen, aus Hausbesetzer und Mietgemeinschaften“[2], heißt es in der Doku Wilde Tiere in Berlin | Berlins Großstadtdschungel auf dem Youtube-Kanal von Real Wild Deutschland im Intro. Tatsächlich wusste ich nicht, dass Füchse, Wildschweine, Dachse, Hasen und andere Wildtiere die Stadt so für sich beanspruchen. Insofern gehören sie ebenfalls zu relevanten Nebenfiguren. Natürlich sind überall Krähen, Nebelkrähen als stille Beobachter anwesend, sie beobachten das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven. Berlin ist eben auch Krähenstadt.
Und es geht auch um Druck und die prekären Zustände des Gesundheitssystems – wobei aber doch erwähnt werden muss, dass wir in Deutschland wohl noch Glück haben, ganz im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen das Wort ‘Gesundheitssystem’ nicht existent ist. Und es geht auch um Engel. Doch eines nach dem anderen. Ich werde mir einige Themen heraussuchen und dazu prägnante Zitate aufführen, damit ein möglichst umfassendes und eindrückliches Bild von Südstern zustande kommt.
Druck von allen Seiten – wie damit klarkommen?
Vor allem geht es auch um Druck, dem Menschen im politischen, gesellschaftlichen und sozialen Leben ausgesetzt sind. Konkurrenzdruck in jeglicher Form. Druck von Vorgesetzten oder von der Kundschaft. Druck durch prekäre Situationen, ungerechte Lebensumstände, Krankheiten, die das Leben dämpfen und begrenzen. Und es geht um Methoden, mit diesem Druck klarzukommen – Drogen, Gewalt, Konsum im Allgemeinen. Und natürlich sind da auch die prekären Zustände im Gesundheitssystem, der Pflege, dem Krankenhaus, der Psychiatrie, bei Ärzten.
Druck ist es neben dem Südstern als Zentrum, den Vanessa und Deniz gemeinsam haben, dem auch alle anderen Figuren auf die eine oder andere Weise ausgesetzt sind. Vanessa ist Dealerin, weil es aufgrund von Druck Verlangen nach Bewältigung desselben gibt. Deniz ist Streifenpolizist und beendet vom Druck gepushte Situationen – mal mehr, mal weniger – meist nachts, weil das mehr Geld bringt.
Tobi, der davon träumt Nervenarzt zu werden
Tobi lebt den Traum seiner Eltern, beide niedergelassene Ärzte, auch seine Schwester hat einen Doktor, seine Promotion steht noch aus. Eigentlich wollte er Kunst studieren, aber dann hätten seine Eltern ihn nicht finanziert, weder die schicke Wohnung in den Paul-Lincke-Höfen, noch das Medizinstudium, in dem die Kommilitonen Ritalin schlucken, um ihren Notenschnitt zu halten. Tobi ist noch Assistenzarzt auf dem Weg zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Erschreckende Fälle, Patientinnen belästigen ihn, mehrere Tage hintereinander im Dienst. Tobi hat Ängste entwickelt, die er aus eigener Kraft nicht bewältigen kann. Darum ist Vanessa bei ihm.
„Das Einzige, das er sich nach 24 Stunden Dienst noch regelmäßig leistet, ist Kokain, deswegen bin ich [Vanessa] hier. Acht Gramm für Tobis Wochenende, er möchte feiern. Montagmorgens kommt er aus deinem Club raus, geht direkt zum Dienst. Tobi kann es kontrollieren, glaubt er. Die meisten Angestellten im Krankenhaus nehmen Citalopram, ein Antidepressivum, es steigert ihren Antrieb, holt sie aus dem Morgentief, sie würden es nie zugeben. Ärzte haben keine Probleme. Auch Tobi ist niemand, der Hilfe annimmt.“ (Südstern S. 86)
Katrin – die pflichtbewusste Pflegerin
Katrin ist die Pflegerin von Markus. Vanessa ist sofort verliebt in sie, weil alles an ihr strahlt. Seit über 30 Jahren arbeitet sie in der Pflege, große Wäsche, kleine Wäsche, danach kellnert sie noch in der Kneipe, weil sie das zum Überleben braucht. Das Geld reicht sonst nicht und sie braucht es auch für ihre Seele, in dem sie sich nach der Pflegearbeit gerne mit Menschen umgibt, die sich zu helfen wissen. Es ist ein Ausgleich. Sie liebt ihre Arbeit. Und doch – werden Patienten handgreiflich, greifen sie an. Sie hat das schon erlebt. Hat mir ihrem Chef gesprochen, sie wolle nicht mehr dorthin. Doch der Chef glaubt ihr nicht.
„Katrin weint, weil es zu viel wird, wenn nicht einmal der Chef sie unterstützt. Ihr geht die Kraft aus manchmal, sie würde es nie zugeben. Ich [Vanessa] kann nicht anders, ich gebe es zu, ich habe Diazepam, Benzos, was immer dir hilft. Ach Engelchen, lacht Katrin. Wenn sie was bräuchte, um sich zu beruhigen, würde sie sich’s aus der Nachtschublade ihrer Kunden holen. Die bekommen die Mittel massenhaft verschrieben, sie merken nicht, wenn etwas fehlt. Katrins Kollegen greifen zu, die jüngeren, aber die meisten trinken. Kaum einer ist dem Druck gewachsen, Pflege ist ein hart umkämpfter Markt, die Konkurrenz ist groß. (Südstern S. 141)
Der Abgeordnete, der keine Schwäche zeigen darf
„Sebastian Henning freut sich, dass ich es einrichten konnte, wir haben uns zu lange nicht gesehen, er benötigt dringend meine Hilfe, ob ich nichts bestellen möchte. […] Er schließt die Augen, atmet tief ein und wieder aus, massiert sich die Schläfen. Wir sind die einzigen Gäste, es riecht nach Wunderbaum und Filterkaffee. Herr Henning möchte noch einen Espresso, ich empfehle ihm, sich eine Auszeit zu nehmen, von allem, er schnäuzt sich in eine Stofftaschentuch. Er darf keine Schwäche zeigen, das muss ich doch verstehen, ob ich ihm was mitgebracht habe. Ich schiebe ihm ein Buch zu, es ist das letzte Mal, sage ich. Ja natürlich, selbstverständlich, nickt er, nur einen Moment noch, er hat so viel zu sagen, es gibt niemanden, mit dem er reden kann, seiner Frau geht es viel besser, sie kümmert sich jetzt nur noch um sich selbst. Es steht nicht gut um die Menschen, glaubt Herr Henning, bis in ihr Innerstes sind sie von dem Wunsch erfüllt, sich einem starken Mann oder einer starken Frau zu unterwerfen, und zugleich will jeder selbst herrschen. Jedem neuen Vorgesetzten, jeder neuen Vorgesetzten möchte man die Füße küssen, solange es nur jemanden gibt, der unter einem steht, nach dem man treten kann. […] Er hat sich kürzlich im Rahmen seiner Abschlussarbeit mit Studien zu Methamphetaminen auseinandergesetzt, die viel potenter sind als Amphetamine sind, gerade in Bezug auf ihre Auswirkungen auf die Ausdauerleistung. Er würde seine Studien gern vertiefen, ob och nicht auch Literatur zum Thema Crystal Meth für ihn bereitstellen kann. Ich kann das nicht, Herr Henning, ich möchte gehen. Ich möchte sie nie wiedersehen. Aber sicher, aber sicher, sagt er und bedankt sich.“ (Südstern, S. 204-205)
Derselbe Herr Henning besorgt sich den Stoff an anderer Stelle. Die Übergabe geht schief, denn Jovanna und Deniz sind vor Ort und kassieren den Dealer ein, während Sebastian Henning sich die Stirn mit einem Taschentuch tupfend danebensteht. Jovanna findet das Crystal Meth. Hennig ist noch der Ansicht, er sei immun, das lässt die Beamten jedoch kalt. Auch die Erklärung, der Druck sei zu hoch gewesen, es handele sich um ein einmaliges Experiment, kann ihm nicht mehr helfen. Die Karriere ist vorbei, der Druck damit allerdings weg.
Mehr Stoffe für mehr Menschen
Vanessa hilft noch mehr Menschen auf ihre engelische Art. Das ist es doch, was Engel tun. Helfen. Engel sind Boten. Vanessa ist Kurier. Himmlische Geschenke. Tilidin, Gras, Indica, Kokain, Citalopram, Ritalin, Trevilor, Spirodent und mehr – Vanessa hat das richtige Mittel für die passenden Menschen, die genau die richtigen Wechselwirkungen auslösen – Glücksgefühle, Wohlbefinden, Wachheit und Konzentration – damit sie dem neuen Tag, ihren Herausforderungen und Mitmenschen gewachsen sind. Tilidin ist ein Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide und macht süchtig. Indica-Cannabis besitzt beruhigende, entspannende und stress-reduzierende Eigenschaften. Citalopram wird als Antidepressivum in der Behandlung von Depressionen eingesetzt. Ritalin hat eine stimulierende Wirkung und wird heute hauptsächlich zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eingesetzt. Spirodent erweitert die Bronchien und erleichtert die Atmung, täuscht die Eiweißsynthese in den Muskel vor für die Leistungsfähigkeit. Das sind längst nicht alle Stoffe, die im Roman genannt werden, aber sie sollen auf die Bandbreit der Symptome verweisen, die sie mit ihrer Wirkung bei Einnahme hervorbringen. Druck hat eben verschiedene Effekte auf Menschen und jeder braucht ein anderes Mittel, das ihm in seiner Situation helfen kann. Aber eigentlich sind es doch Drogen, oder? Es sind doch keine Hilfsmittel?!
Das kennt doch jeder – Drogenmissbrauch
Jeder weiß, was passiert, wenn Drogenkonsum missbraucht wird. Man weiß es. Wer es nicht weiß, hat es gesehen oder davon gehört. Aus Serien, Filmen, Podcasts, Youtube-Videos – es gibt diese Dramen, in denen Jugendliche sterben, weil sie eine Überdosis haben. Das soll abschrecken. Es läuft aber auch in den Nachrichten oder steht in den Zeitungen. Es liegen Spritzen auf öffentlichen Spielplätzen und in Bürgerparks, an Bahnsteigen, auf öffentlichen Toiletten, in Szeneclubs, auf Autobahnrastplätzen. Und auch in Südstern werden Szenen und Szenerien wörtlich gemalt, wird nichts beschönigt, gibt es auch die noch dunkleren Seiten neben den schon dunklen Seiten der Sucht.
Sucht – warum eigentlich?
Neben Druck ist Sucht ebenfalls ein zentrales Thema des Romans. Denn wegen Druck entsteht Sucht, weil Schmerz, psychisch, seelisch, physisch, gelindert werden muss. Was, wenn es doch niemanden mehr interessiert, was mit anderen passiert? Vanessa ist Dealerin, verkauft Drogen. Deniz ist Polizist, buchtet Konsumenten ein, liest die Opfer auf. Vanessas Freund Olli ist Drogenbeauftragter. Er kämpft für die Legalisierung einiger Substanzen, damit sich Jugendliche nicht mehr das schmutzige Zeug reinziehen müssen und daran verrecken.
„Sucht ist die zentrale Krankheit unserer Zeit, glaubt [Olli]. Alle gucken weg, weil alle denken, es betrifft sie nicht. Jeder glaubt, er hat sich selbst im Griff. Niemand hinterfragt, wie wir unser Bedürfnis nach Glück, Sicherheit und Sinn befriedigen. […] Sie sind alle isoliert in ihrem Job, Einzelkämpfer, Olli weiß nicht mehr, wofür sie kämpfen. Um die Stimmen, die Wiederwahl, sie können nicht mal irgendwas. Sie müssen nur wissen, wie sie ihre Konkurrenten ausschalten können, dem war der Henning nicht gewachsen.“ (Südstern, S. 201-211)
Alles ist miteinander verzahnt in Südstern. Die Figuren, die Diskurse, die Drogen. Es sind die Systeme, die krankmachen, weil die Systeme wie das Gesundheitssystem, die Politik, die Behörden, Krankenhäuser, Pharmaindustrie und was nicht sonst noch alles, intern nicht zum Miteinander ausgelegt sind. Das sind diese Systeme nur nach außen hin, der PR wegen, der Öffentlichkeit wegen, damit es einen Anschein gibt an Authentizität und Ehrlichkeit bezüglich einer Humanität, die nicht existiert – nicht in diesen Systemen und auch oft nicht bei Menschen, die an den großen Steuerrädern sitzen. Im Roman sind es wenige Figuren, die Halt geben und einen Rest an Humanität vermitteln.
Die Figuren als Prinzipien
Literarische Figuren können mit verschiedenen Methoden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Ich habe die Figuren hier bereits als menschenähnliche Wesen beschrieben, sie sind, würde man sie in die Realität ziehen, Menschen aus Berlin-Kreuzberg, die ihren Berufen nachgehen. Figuren sind aber so viel mehr, können so viel mehr sein. Beispielsweise können sie als theoretische Konstrukte, als Prinzipien betrachtet werden. Dann ist Dennis der Polizist Teil der exekutiven Gewalt. Vanessas Freund Olli, der Politiker wäre Teil der legislativen, der gesetzgebenden Gewalt. Vanessa wäre Teil des Bürgertums, zu deren Schutz die drei Gewalten Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung zuständig sind. Das wirft Fragen nach der Moral auf. Denn ist Vanessa als Dealerin wirklich jemand, der hilft? Oder schadet sie nicht viel eher den Menschen, denen sie Drogen verkauft? Wie moralisch ist das, was sie macht? Aber die Menschen selbst, die sie beliefert, die sind dankbar. Oder süchtig? Ist Vanessas Arbeit notwendig, weil das System zu brutal ist? Das Gesundheitssystem nicht jeden fängt, viele durchfallen und anderweitig Hilfe benötigen? Gibt es andere Lösungen?
Die Situation in der Pflege
Alt werden wir alle. Den Lauf der Zeit hat noch nie jemand aufhalten können. Und mit dem Alter kommen häufig auch gesundheitliche Beschwerden. Wer mit 80 Jahren heute noch eine Wohnung im zweiten Stock ohne Fahrstuhl bewohnt, ist für sein Alter gut dabei. Die Gene, die Ernährung, der Lebensstil, Krankheiten, Unfälle, Aktivitäten, es kann gut sein, dass irgendwann auch eine Pflegestufe beantragt, ein Facharzt aufgesucht oder eine Kur eingefordert werden muss. Und das ist nicht immer leicht, auch wenn Hilfe dringend notwendig ist. Deniz will für seinen Baba Pflege beantragen. Zur Begutachtung kommt eine Ärztin vom Medizinischen Dienst. Doch es läuft nicht so, wie es laufen sollte. Markus gibt sich alle Mühe, nicht unangenehm aufzufallen. Laufen geht. Essen geht. Reden geht. Geht doch alles. Seine Hilflosigkeit ist ihm peinlich, er kommt doch klar. Deniz hat seine eigene Meinung von der Ärztin. Die Hilfe, die er nötig hat, schreibt er schon während des Gesprächs ab. In seinen Gedanken läuft ein Kontrastprogramm.
Begutachtung der Pflegestufe
Die Ärztin kommt. Sie hat keinen Namen, die Figur bleibt einfach nur die Ärztin. Sie steht stellvertretend für das Gesundheitssystem mit seinen Bewertungskriterien und Algorithmen. „Die Ärztin trägt einen aprikosenfarbenen Rollkragenpullover. Um ihren Hals hängt eine Korallenkette. Ob es stimmt, dass ich im Schichtdienst arbeite. Ja, manchmal zwei Schichten hintereinander. Manchmal sind’s auch drei. […] Auf ihren Fingernägeln ist durchsichtiger Lack, an einem Finger steckt ein silberner Ring mit einem grünen Stein.“ (Südstern, S. 223-224) Deniz bemerkt ihr Lächeln, jedes Mal, wenn sein Baba eine Frage beantwortet und sich weiter und weiter von der erhofften Hilfe entfernt. „Ich verstehe, lächelt die Ärztin. Sie schreibt etwas auf. Oder hakt etwas ab. Oder streicht es durch.“ (Südstern, S. 224)
Wie im wahren Leben – Begutachtungsinstrumente
Im Gespräch geht die Ärztin eine Liste mit Fragen durch, es werden verschiedene Fragen des Lebens behandelt. Kann Markus sich selbst versorgen, hat er einen Bekanntenkreis, wie steht es mit dem Sauberhalten. Das sind nicht nur irgendwelche Fragen. Bei der Bestimmung und Gewichtung des Pflegegrads fließen sechs Module mit einer festgelegten Prozentgewichtung in die Berechnung ein. Es geht um die Bereiche Mobilität (10%), kognitive und kommunikative Fähigkeiten (15%), Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (15%), Selbstversorgung (40%), selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen (20%), Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (15%). Wie die Berechnung konkret vorgenommen wird, weiß ich nicht. Ich will mit dieser Auflistung deutlich machen, dass hier etwas Alltägliches passiert, etwas, das in der Realität tatsächlich so stattfinden könnte. Und ich kenne ältere Menschen, die sich mit Händen und Füßen sträuben, die eigene Hilfsbedürftigkeit während der Begutachtung preiszugeben. Das wird dann nichts mit der Einstufung, darauf folgt die Ablehnung und Angehörige müssen wieder klarkommen.
Und wie sieht es bei Deniz aus?
„Und sonst?, fragt [die Ärztin]. Nichts sonst. Ah ja. Ist ihr eine weitere Notiz wert, meine Aussage. Na dann. Sie klappt den Block zu. Se glaubt, sie hat alles, was sie braucht. Steht auf, zieht ihre Jacke an. Das war alles?, fragte ich. Sie interessiert sich einen Scheiß dafür, warum alle Kanten abgepolstert sind. Ins Bad oder sein Zimmer will sie auch nicht gucken. Muss bei der Begutachtung nicht eine Pflegekraft dabei sein?, frage ich. Nicht unbedingt, mein sie Ich erkläre ich, dass Katrin kommen wollte. Ob sie nicht warten möchte, um mit ihr zu reden. Das wird nicht nötig sein, Herr Aziz, sagte sie. Ich will wissen, was für eine Ärztin sie ist. Sie ist HNO-Ärztin. Spielt keine Rolle, es ändert an den Sachverhalten nichts, behauptet sie. […] Ich finde, es spielt sehr wohl eine Rolle. Nein, das tut es nicht, sie kann es mir versichern. Ich soll mir keine Sorgen machen. Ob ich schon mal über einen Rollator nachgedacht habe. Ein Rollator ließe sich problemlos bewilligen. Ja klar. Sie hören bald von uns, Herr Aziz. Sie lächelt wieder. Glaubt nicht, dass es lange dauern wird, bis eine Entscheidung fällt. Weil sie die längst getroffen hat. Auf Wiedersehen, sagt sie. Reicht mir ihre knochige Hand. Grüßen Sie ihren Vater von mir. Ich wette, sie weiß schon nicht mehr seinen Namen. Auf Nimmerwiedersehen.“ (Südstern, S. 225-226)
Verkehrte Welt? Entindividualisiert im Gesundheitssystem
Es geht bei der Pflege um Menschen. Und doch werden Menschen und ihre Bedürfnisse nach Vorgaben zeitlich eingeteilt und entindividualisiert. Es wird nach Wegen gesucht, den Umgang mit Patienten immer weiter zu optimieren. Doch das sind theoretische Überlegungen und Strukturen, die sich nicht auf die Realität übertragen lassen. Dies zeigt sich beispielsweise an Katrin, die Vanessa von ihren Erfahrungen erzählt.
„In die ambulante Pflege ist sie reingerutscht, es ist ihr einfach so passiert, vor neunundzwanzig Jahren war das, vielleicht war sie ja auserwählt. Fast dreißig Jahre später denkt sei immer wieder, warum tue ich mir das an? Die Antwort bleibt immer dieselbe, sie liebt ihre Arbeit. Deswegen ist sie hier bei mir, rettet mich und vielleicht mit mir zusammen Oma Zuppe. Wir benötigen nur Zeit, aber die ist ein kostbares Gut. Katrin teile sie nach ihrem Ermessen ein, sie schenkt sie denen, die sie mehr als andere brauchen. Wenn Katrin sieht, einem Kunden steht noch eine halbe Stunde zu aber er schläft, es gibt nichts mehr zu tun für sie, dann bleibt sie nicht, sie geht und nimmt die halbe Stunde mit, schenkt sie eine, dem sie eigentlich nicht zusteht. Algorithmen wollen ihr das verbieten, sagt sie, es gab schon einen Testlauf. Katrin bekam ein Tablet, sie drückte auf Start, sobald sie losfuhr, dann drückte sie wieder, als sie beim Kunden ankam. Für eine kleine Körperpflege gewährt der Algorithmus zehn Minuten. Ausziehen, waschen, anziehen, Wäsche sauber halten, Frühstück achten, plaudern. Bei Katrin kommen da mehr als zehn Minuten zusammen, das versteht der Algorithmus nicht. Katrin weigert sich, das Tablet zu benutzen, lieber gibt sie ihre Arbeit auf, sagt sie, gerade weil sie die Menschen, für die sie da sein will so leibt. Selbst wenn Katrin vierzig Fieber hat, geht sie noch zu ihnen, eine Vertretung, falls sie ausfällt, gibt es nicht. (Südstern, S. 139-140)
Das Gesundheitssystem ist ein Markt, der pflegebedürftige Mensch eine Ware. Und gute Pflege ist teuer. Insofern verweist Südstern auch auf reale Brennpunkte der gegenwärtigen Gesellschaft, die sich nicht für immer weglächeln lassen. Denn alt werden wir schließlich alle. Es geht jeden etwas an.
Ein Engel sein in solchen Zeiten
„Ich heiße Vanessa und ich bin ein Engel.“ (Südstern, S. 9). Engel sind Boten Gottes, sie sind Überbringer. Vanessa sorgt mit ihren Lieferungen für das Wohlbefinden ihrer Kundschaft. Insofern stimmt dies wohl. Aber auch Markus bezeichnet Vanessa als Engel, der Bär auch, sogar fremde Menschen. Liegt es an der Ausstrahlung oder will sie helfen? Auch Katrin wird von ihr als Engel bezeichnet. Katrin ist als Pflegerin Helfende. Ein alter Mann, ehemals Engel, bezeichnet Vanessa und sogar Deniz als Engel. Sein Gedankenstrom mischt sich im Roman einmal zwischen den von Vanessa und Deniz. „Wir sind Engel, es ist mir unbegreiflich, warum die beiden das nicht erkennen. Wir sind, wer wir sind, ob sie wollen oder nicht. Egal, wo wir hinkommen, wir sind nicht von dort, war nie anders. Ich dachte es gibt keine Engel mehr, sie sind ausgestorben; ich dachte, ich wäre der letzte, war wohl ein Irrtum.“ (Südstern, S. 191.)
Engel als Wächter, Engel als Helfer, Engel und Intertextualität in Südstern?
Natürlich ist Vanessa kein richtiger Engel. Aber sie wird als allwissender Erzähler eingeführt, daher auch der Vergleich mit Der Himmel über Berlin (1987) bzw. die amerikanische Version wäre City of Angels (Stadt der Engel, 2001), der das Thema abgewandelt aufgreift und auch die Gedankenströme der anderen Figuren über die Engel offenbar werden lässt. Ich hätte bei der Lesung nach dem Vergleich fragen können und ob der ‘Kunstgriff’, den Ronald Düker in seiner Rezension mit Verweis auf Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin von 1987 anspricht, Absicht war.
„Wobei sich Tim Staffel einen vielleicht schamlosen und doch wirkungsvollen Kunstgriff erlaubt, wenn er in Gestalt seiner Heldin („Ich heiße Vanessa und bin ein Engel“) eine vom Filmregisseur Wim Wenders und seinem Drehbuchschreiber Peter Handke erprobte Versuchsanordnung des allwissenden Erzählens noch einmal nachstellt. Wie Otto Sander und Bruno Ganz, Vanessas himmlische Artgenossen in Wenders’ Film Der Himmel über Berlin, schaut sie auf prophetische Weise in den Kopf einer Frau: „Sie zahlt für alle, in zwei Wochen wird sie ein Vorstellungsgespräch bei Amazon haben, das weiß sie nur noch nicht.“ Aber Vanessa weiß es. Literatur ist Engelsarbeit.“[3]
Ich hatte den Vergleich bei der Lesung im letzten September noch nicht. Ich meine auch, mich zu erinnern, dass er sagte, Vanessa sei besonders sensibel, sie hätte so ein Ding. Doch es ist ja so eine Sache mit Erinnerungen. Das Problem mit intertextuellen Anspielungen jedenfalls ist, dass nur die erkannt werden, die bekannt sind.
Der Engel-Kunstgriff
Vielleicht ist es gar kein intertextueller Kunstgriff, vielleicht ist es einfach ein kulturell bekanntes Bild, das hier eine bestimmte Funktion erhält und einige Aspekte des Romans stützt. Etwa die Thematik der Hilfsbereitschaft, der Pflege, dem Wunsch zu helfen. Es gibt ja schließlich Pflegedienste, die den Begriff ‘Engel’ im Unternehmensnahmen eingebettet haben. Und wer hat vielleicht nicht schon auf die Dankbarkeitsfloskel: ‘Du bist ein Engel’ zurückgegriffen? Engel beschützen. Engel bewahren. Und dass Engel nicht nur im religiösen Kontext zum Einsatz kommen, lässt sich wunderbar an Paul Klees Angelus Novus und Walter Benjamins Interpretation beobachten.
Walter Benjamin und Paul Klees Engel
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[4]
Die These Benjamins ist vielfach interpretiert worden. Es gibt aber allgemein viele Bücher und Filme und Kunstwerke, die sich mit Engeln beschäftigen. In Olga Martynovas Der Engelherd sind Engel (die mit der theatralischen Kunstwelt zusammenhängen) auch Beobachter, die aber nicht einwirken können auf die Menschen. Dort bekommen die Engel auch eine ambivalente Konnotation, weil das Werk mit den Morden der NS-Euthanasie verbunden ist. Jedenfalls ist das Motiv, Engel oder auch Dämonen die Gedanken von Menschen lesen zu lassen und auf sie einzuwirken, nicht neu. Es ist wohl auch Sache des subjektiven Geschmacks oder des individuellen Wissenstands wie was genau bewertet und interpretiert wird.
Beschluss zu Tim Staffels Südstern
Südstern ist ein Berlin-Kreuzberg-Roman und er ist ein Roman unserer Zeit. Die Brennpunkte betreffen viele Städte und zeichnen ein Bild vom Druck, der auf vielen Menschen in unterschiedlichsten Bereichen lastet, welche Methoden als Überbrückungslösungen sich etabliert haben, die letztlich doch keine Lösungen sind, weil es an Menschlichkeit fehlt. Ich konnte nicht alle im Roman behandelten Themen ansprechen, es gibt noch so viele mehr. Aber die, die mir hauptsächlich ins Auge gefallen sind, weil auch die Figuren direkt auf sie verweisen, die habe ich angeschnitten. Ich bin froh, dass ich im letzten Jahr Tim Staffel bei seiner Bremer Blind Date-Lesung zuhören könnte und nun auch endlich einen Beitrag zustande gebracht habe. Wer sich der Lektüre widmen will, wird nicht nur viel über Kreuzberg lernen, sondern vielleicht das eine oder andere aus seinem eigenen Leben erkennen. Ob Südstern mit Breaking Bad verglichen werden kann, finde ich fraglich. Die Liebesgeschichte jedenfalls gibt Hoffnung. Die habe ich nun gar nicht großartig erwähnt, aber sie ist vorhanden. Jedenfalls wirft der Roman Fragen auf, er stellt Fragen durch die Situationen, in die er seine Figuren geraten lässt – nicht nur in Berlin.
Verwendete Literatur
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. These IX online auf textlog.de: https://www.textlog.de/benjamin/abhandlungen/ueber-den-begriff-der-geschichte (zuletzt abgerufen am 27.07.2024).
Düker, Ronald: Staffel sein Milljöh. ZEIT NR.47/2023, ZEIT online vom 9. November 2023, online unter : https://www.zeit.de/2023/47/suedstern-tim-staffel-roman-berlin-kreuzberg (zuletzt aufgerufen am 23.07.2024).
Staffel, Tim: Südstern. Berlin 2023.
Wilde Tiere in Berlin | Berlins Großstadtdschungel auf dem Youtube-Kanal von Real Wild, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=TAHxp3_66PI (zuletzt aufgerufen am 25.07.2024).
[1] Düker, Ronald: Staffel sein Milljöh. ZEIT NR.47/2023, ZEIT online vom 9. November 2023, online unter : https://www.zeit.de/2023/47/suedstern-tim-staffel-roman-berlin-kreuzberg (zuletzt aufgerufen am 23.07.2024). [2] Wilde Tiere in Berlin | Berlins Großstadtdschungel auf dem Youtube-Kanal von Real Wild, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=TAHxp3_66PI (zuletzt aufgerufen am 25.07.2024). [3] Düker, Ronald: Staffel sein Milljöh. ZEIT NR.47/2023, ZEIT online vom 9. November 2023, online unter : https://www.zeit.de/2023/47/suedstern-tim-staffel-roman-berlin-kreuzberg (zuletzt aufgerufen am 27.07.2024). [4] Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. These IX online auf textlog.de: https://www.textlog.de/benjamin/abhandlungen/ueber-den-begriff-der-geschichte (zuletzt abgerufen am 27.07.2024).
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