Else Lasker-Schüler – Heimweh – Gedichte des Expressionismus

Es soll hier um Heimweh von Else Lasker-Schüler gehen, und zwar mit Gedichte des […] – das wird ab sofort eine neue Reihe sein, in diesem Fall Gedichte des Expressionismus. Die literarische Epoche ist austauschbar. Das wird sehr spannend, wenn es um Dantes Vita Nova geht, in dem er selbst den Aufbau und Inhalt seiner Gedichte erklärt, welche er seiner Liebe zu Beatrice widmet, die sein Leben erneuert hat. Bei mir fußt die Eröffnung der Reihe nicht auf derart noblen Gesten – ich habe irgendwann einmal gebrauchte Reclam-Bändchen erworben, die ich ungern in meinem Regal verwesen lassen will. Aus diesem Grund beginne ich mit zwei Gedichten des Expressionismus. Else Lasker-Schülers Heimweh von 1914 und Gerrit Engelkes Heimkehr von 1917 (im nächsten Beitrag oder zwischendurch). Warum? Zum einen, weil mir das Material vorliegt und zum anderen kann ich beide Gedichte wegen dem Wort ‚Heim‘ in Beziehung zueinander setzen. Ich will erwähnen, dass ich keinerlei Forschungsliteratur gelesen habe wie sonst. Das soll den Experimentiercharakter unterstreichen und Unvoreingenommenheit implizieren.

Informationen zu Beginn

Einführende Worte zur literarischen Epoche des Expressionismus, zum Begriff sowie zu den jeweiligen Autoren und dem historischen Kontext wird es aber geben. Die einfache Abbildung eines Gedichts reicht für die erste Anschauung und für unvoreingenommen Wahrnehmungen zunächst aus. Doch es ist der Kontext, der für mögliche Deutungen und tiefergehende Interpretationen relevant ist. Daraus ergibt sich dann die entsprechende Reihenfolge. Ich kann in diesem Rahmen allerdings immer nur Schlaglichter setzen.

Else Lasker-Schüler – Heimweh (1914)

1 Ich kann die Sprache
2 Dieses kühlen Landes nicht,
3 Und seinen Schritt nicht gehn.

4 Auch die Wolken, die vorbeiziehn,
5 Weiß ich nicht zu deuten.

6 Die Nacht ist eine Stiefkönigin.

7 Immer muß ich an die Pharaonenwälder denken
8 Und küsse die Bilder meiner Sterne.

9 Meine Lippen leuchten schon
10 Und sprechen Fernes,

11 Und bin ein buntes Bilderbuch
12 Auf deinem Schoß.

13 Aber dein Antlitz spinnt
14 Einen Schleier aus Weinen.

15 Meinen schillernden Vögeln
16 Sind die Korallen ausgestochen,

17 An den Hecken der Gärten
18 Versteinern sich ihre weichen Nester.

19 Wer salbt meine toten Paläste –
20 Sie trugen die Kronen meiner Väter,
21 Ihre Gebete versanken im heiligen Fluß.

Quelle: Else Lasker-Schüler: Heimweh. In: Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016, S. 145-146.

Zum Begriff Expressionismus

Der Begriff Expressionismus kommt aus dem Lateinischen von dem Wort expressio und bedeutet Ausdruck. Erstmals taucht er 1911 im Zusammenhang mit der französischen Malerei auf.[1] Die Durchsetzung im literarischen Bereich geht auf einen Vortrag mit dem Titel Expressionismus in der Dichtung von Kasimir Edschmid im Dezember 1917 zurück, der im März 1918 nachgedruckt wurde in der Neuen Rundschau.[2] Edschmid legt dort „ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Expressionismus als einer intuitiv-ganzheitlichen visionären Kunst, als Neuschaffung der Welt – und vor allem des Menschen – aus dem eigentlichsten Kern ab.“[3] Die aufgestellte Übersicht der dieser Strömung zugehörigen Epochen stimmt laut Peter Sprengel auch mit der deren Vorstellung den heutigen Literaturwissenschaft überein.[4]

Literaten des deutschen Expressionismus

Ich werde hier den Auszug aus Peter Sprengels Übersichtswerk im Zusammenhang mit seiner Feststellung der Übereinstimmungen mit dem Beitrag von Edschmid zitieren.

„[Edschmid] nennt als Lyriker Franz Werfel, Else Lasker-Schüler, Georg Heym, Georg Trakl, Johannes R. Becher, August Stramm, Theodor Däubler, Alfred Wolfenstein, Ernst Blass, Ludwig Rubiner, Oskar Loerke und Ernst Stadler.“[5] Es fehlen laut Sprengel allerdings Gottfried Benn, Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein.[6] „Recht kanonisch gerät auch die Auswahl der Dramatiker, wobei man bedenken muß, daß bis 1917 nur wenige expressionistische Stücke auf die Bühne gelangten und Tollers Die Wandlung noch nicht beendet war. Edschmid nennt nach dem Vorläufer Wedekind Georg Kaiser, Paul Kornfeld, Walter Hasenclever, Fritz von Unruh, Reinhard Sorge und Carl Sternheim.

Unvermutetes begegnet am ehesten in Edschmids Liste der expressionistischen Prosa-Autoren. Neben Döblin und Frank werden hier Heinrich Mann (als Vorläufer), René Schickele, Paul Adler, Albert Ehrensein, Robert Walser, Franz Kafka, Carl Sternheim und Martin Buber genannt (den Verfasser selbst wird man im Geiste hinzurechnen können). Aus heutiger Sicht würde man wohl zögern, Buber in diese Gruppe aufzunehmen, und Walser sicher weglassen – obwohl gerade die Zusammenstellung Walser/Kafka auch eine richtige Erkenntnis bringt. Selbstverständlich gäbe es auch weitere Kandidaten (Benn, Einstein, Jung, Robert Müller), aber die Kanonisierung ist auf dem Gebiet der Prosa wohl am wenigsten abgeschlossen.“[7]

Expressionismus als literarische Epoche

Es handelt sich um eine der Kunstgeschichte entlehnte Bezeichnung.  Bekannte expressionistische Künstler und Künstlerinnen sind Wassily Kandinsky, Franz Marc, August Macke, Egon Schiele, Paul Gauguin, Edvard Munch, Ernst Ludwig Kirchner und Paula Modersohn-Becker. Die literaturhistorische Epoche des Expressionismus wird für Literatur im frühen 20. Jahrhundert genutzt und umfasst „eine Oppositionsbewegung, die sich zwischen 1910 und 1925 gesellschaftskritisch gegen das Bürgertum richtet und sich forciert von formgeschichtlich konventionelleren Zeitströmungen wie Naturalismus und Fin de sie`cle, von Jugendstil, Neoklassizismus, Neuromantik, Symbolismus und Impressionismus absetzt. Programmatische und historische Überschneidungen bestehen hingegen zum Futurismus und Dadaismus. Mitte der 20er Jahre wird die kurzlebige Epoche von der Neuen Sachlichkeit abgelöst.“[8] Der Begriff vereint stilistisch verschiedene heterogene Inhalte und widerstrebende Tendenzen, sodass die durch technischen Fortschritt erweckte Begeisterung zugleich mit einer Zivilisationskritik verknüpft wird oder auch „die Entdeckung des Archaischen in der Kunst“[9] beschreibt.

Stilmittel im literarischen Expressionismus

„Zu den bevorzugten literarischen Techniken des Expressionismus zählen Ausdrucksmittel wie groteske Verzerrung, Dynamisierung des Statischen oder mythologische Überdimensionierung, Aggressivität und Plakativität der Darstellung, symbolstarke Sprachgestik und die Darstellung explodierender Erregungszustände. Harmonievorstellungen werden seziert; im Häßlichen, in der Deformation soll die zeitgenössische Wahrheit zum Vorschein kommen; verbreiteter Desorientierung, Ich-Spaltung und Angst wird Ausdruck verliehen. Gegen die materielle Wirklichkeitsnachbildung, die Wissenschaftsgläubigkeit und den Milieu-Determinismus des Naturalismus führt der intellektuelle Künstler das ,Geistige‘ und die Reduktion auf Essentielles ins Feld; übereinstimmende Themen wie Großstadterfahrung oder soziales Elend werden ins Höhnisch-Groteske übersteigert. Gegen die Feinnuancierung des Impressionismus und artifizielle Sprachkunst des Symbolismus begehren das plakative Wort, der Schrei, der Imperativ auf.“[10]

Zu Else Lasker-Schüler

Geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld als Tochter eines Bankiers und Architekten und starb am 22. Januar 1945 verarmt in Jerusalem, wo sie auf dem Ölberg begraben wurde.[11] Der erste Teil ihres Nachnamens stammt aus der Ehe mit dem Arzt Lasker, von dem sie sich 1899 scheiden ließ. Nach der Scheidung führte sie ein unstetes Wanderleben und war oft in Berlin anzutreffen, dann auch circa zehn Jahre mit dem Begründer des Sturm Herwarth Walden verheiratet.

„Else Lasker-Schüler lebte ‚in der Welt eines phantastischen Orientes, der allmählich ihre wirkliche Welt wurde‘ (Pinthus), und sie lebte, eine liebende, sicher immer wieder verschwendende Seele, in ihren vielen Freunden (Dehmel, Hille, Däubler, Grosz, Marc, Zech, Benn, Trakl, Werfel, Kraus), die sie mit phantastischen Namen bedachte. Etwas von diesem romantisch-bohemehaften Lebensstil war noch vorexpressionistisch, während ihre Verabsolutierung des Inneren, die Suche nach einer Wirklichkeit, die ihr im äußeren Leben nicht begegnete, expressionistische Eigenart hatte. Aus Traum und Imagination schieb sie Metapherngedichte, die wesentlich zur expressionischen Literatur gehören.“[12]

Ich habe bereits in meinem Beitrag zu Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe Peter Hille die einführenden Worte übernehmen lassen. Was sich im Falle Kellers zufällig ergab ist bei Else Lasker-Schüler umso angebrachter, da die beiden eng befreundet waren.

Peter Hille über Else Lasker-Schüler

Else Lasker-Schüler ist die jüdische Dichterin. Von großem Wurf. Was Debora.
Sie hat Schwingen und Fesseln, Jauchzen des Kindes, der seligen Braut fromme Inbrunst, das müde Blut verbannter Jahrtausende und greiser Kränkungen. Mit zierlich braunen Sandalchen wandert sie in Wüsten, und Stürme stäuben ihre kindlichen Nippsachen ab, ganz behutsam, ohne auch nur ein Puppenschühchen hinabzuwerfen.
Ihr Dichtgeist ist schwarzer Diamant, der in ihre Stirn schneidet und wehe tut. Sehr wehe.
Der schwarze Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen ist. Strahlt kindlich, ist urfinster. In ihres Haares Nacht wandert Winterschnee. Ihre Wangen feine Früchte, verbrannt vom Geiste.
Sie tollt sich mit den alterernsten Jahve, und ihr Mutterseelchen plaudert von ihrem Knaben, wie’s sein soll, nicht philosophisch, nicht gefühlsselig, nein – von wannen Liebe und Leben kommt, aus dem Märchenbuch.
Else Lasker-Schüler ist von dunkelknisternder Strähne auf heißem, leidenschaftsstrengem Judenhaupte, und sie berührt so etwas wie deutsche Volksweise, wie Morgenwind durch die Nardengassen der Sulamith überaus köstlich. Wie auch Heine einen Einschlag von deutschen Fäden im Blute hatte, wohl noch stärker als Prinzeß Tino. So daß es bei ihm zu Kampf, fast zur Auflösung kam.
Elses Seele aber steht in den Abendfarben Jerusalems, wie sie’s einmal so überaus glücklich bezeichnet hat.
Jüdische Dichter, schöpferische Dichter aus Judäerblut sind selten. Die Glut einer entlegenen Urseele ursprünglich, stark und bei Schmähungen ungereizt zu erhalten, ist nicht leicht. Heinrich Heine hat zu viel kindliche Gehässigkeit, zu viel geriebene Feuilleton unter seinen Werken.
Ein zweiter Gedichtband ist im Druck. Auf Wiedersehen, Tino.
Tino ist der unpersönliche Namen, den ich für die Freundin und den Menschen fand, die flammenden Geist und zitternde Welt wie sie mit Blumenkelchen umfangende Seele.


Quelle: Peter Hille. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 5. Essays und Aphorismen. Hg. von Friedrich und Michael Kienecker Essen 1986, S. 81-82.

Persönliche Anmerkung

Ich kann natürlich nur von mir sprechen, wenn ich sage, dass mir diese Beschreibung in die Seele ging. Eine derartige Umschreibung, die gewählten Worte und deren Tiefe, das ist Hochachtung, Wertschätzung und Respekt, eine Bekundung von Freundschaft und Liebe. Ich habe dergleichen schon bei Klabunds bzw. Alfred Kerrs Marietta erkennen können, da allerdings auch mit sexuellem Begehren, musischer Leidenschaft. Ich dagegen habe letztens in einem Buch eine alte Karte wiedergefunden, als Lesezeichnen zwischen den Seiten geklemmt hat sie. Es war ein rotes Herz darauf und drin stand in hektisch verfassten Kugelschreiberlettern (es kam mir so vor) Ich liebe dich! Jetzt muss ich grinsen. Das ist schön! Aber wer wünscht sich nicht erkannt zu werden, wirklich erkannt von Anderen in der ureigensten Wahrheit seines Selbst. Das Selbst – in wunderbarer und stimmiger Weise – von einem anderen Blick aus mit Worten ähnlich spiegelartig zurückgeworfen auf die eigene Identität. Wer wünscht sich das nicht? Das geht über Komplimente und einfache Liebesbekundungen hinaus. Das ist Poesie. Eine Poesie der Liebe. Peter Hille hat Else Lasker-Schüler gesehen. Darum passt auch das ausgewählte Gedicht meiner Ansicht nach gut zu seiner Beschreibung. Aber das ist wiederum subjektiv.

Else Lasker-Schüler: Heimweh (1914)

1 Ich kann die Sprache
2 Dieses kühlen Landes nicht,
3 Und seinen Schritt nicht gehn.

4 Auch die Wolken, die vorbeiziehn,
5 Weiß ich nicht zu deuten.

6 Die Nacht ist eine Stiefkönigin.

7 Immer muß ich an die Pharaonenwälder denken
8 Und küsse die Bilder meiner Sterne.

9 Meine Lippen leuchten schon
10 Und sprechen Fernes,

11 Und bin ein buntes Bilderbuch
12 Auf deinem Schoß.

13 Aber dein Antlitz spinnt
14 Einen Schleier aus Weinen.

15 Meinen schillernden Vögeln
16 Sind die Korallen ausgestochen,

17 An den Hecken der Gärten
18 Versteinern sich ihre weichen Nester.

19 Wer salbt meine toten Paläste –
20 Sie trugen die Kronen meiner Väter,
21 Ihre Gebete versanken im heiligen Fluß.

Quelle: Else Lasker-Schüler: Heimweh. In: Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016, S. 145-146.

Fragen an Heimweh von Else-Lasker Schüler

Folgende Fragen habe ich mir zu diesem Gedicht gestellt. Zunächst, ob es ein Heilmittel für das angesprochene Heimweh gibt. Dann, warum das Gedicht der Epoche des Expressionismus zugeordnet werden kann. Und dann noch, was das alles mit Else Lasker-Schüler zu tun gehabt haben könnte.

Mögliche Interpretation zu Heimweh von Else-Lasker Schüler

Das Gedicht Heimweh von Else Lasker-Schüler setzt sich von den strengen, rhythmischen Schemata der vorherigen Epochen und gegenwärtigen Strömungen ab. Unter anderem gibt es keine Reime, kein festes Metrum und auch kein Schema bei der Kadenz. Heimweh besteht aus neun Strophen, wobei drei Strophen (die erste, die dritte und die letzte) drei Verse aufweisen, alle anderen nur zwei. Bis auf eine Verszeile befinden sich im gesamten Gedicht nur Enjambements. Das bedeutet, dass ein Satz über mehrere Verse läuft. Der Satz bricht an einem Versende ab und wird im nächsten Vers fortgeführt. Ein Enjambement ist somit ein abrupter Zeilensprung. Es können auch ganze Wörter auseinandergerissen werden.

Kurzer Exkurs: Die Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte

Die dritte Strophe „Die Nacht ist eine Stiefkönigin“ (V. 6) besteht nur aus diesem einen Vers, einem Satz, und hebt sich damit vom Rest des Gedichts ab. Sie erinnert mich übrigens an Mozarts Die Zauberflöte und die Arie Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen gesungen von der Königin der Nacht. Allerdings handelt es sich bei der Königin der Nacht auch um ein Kaktusgewächs, das im karibischen Raum anzutreffen ist. In Mozarts Zauberflöte ist die Königin der Nacht die Mutter von Pamina und die Gegenspielerin von Sarastro, dem Hüter der Weisheit. Sie ist sowohl mächtig als auch manipulativ. In der berühmten Arie fordert sie Pamina auf, Sarastro zu töten, um ihre vermeintliche Ehre wiederherzustellen. Ihre Figur steht für Dunkelheit, Geheimnis und den Konflikt zwischen Licht und Schatten, der im Verlauf der Oper thematisiert wird. Letztendlich wird sie jedoch von Sarastro besiegt und verbannt, während er als Verkörperung von Weisheit und Güte triumphieren kann.

Die Nacht, Geheimnisse und Weiblichkeit

Man wird wohl Mozarts Figur nicht unbedingt in diesem Gedicht integriert sehen, aber die Grundkonstituenten der Königin der Nacht, die Personifikation von Manipulation und Machtspielen, von dunkler Weiblichkeit, diese mit der Figur einhergehenden Begrifflichkeiten lassen sich übertragen auf diesen einen prominenten Vers in Heimweh. Mich lässt der Begriff Stiefkönigin (V. 6) auch an Märchen denken, in denen diese meist bösartig, hinterhältig und nachtragend geschildert wird. Im Gedicht ist aber die Nacht der Zeitraum, in dem die Heimat imaginiert wird (V. 7). Die allumfängliche und warme dunkle Mütterlichkeit der nächtlichen Dunkelheit ist trügerisch, denn sie enthält den Schmerz der Trennung von der Heimat. Die im Muttertum enthaltene Heimat ist jedoch fort. Im übertragenen Sinne wird hier die Ambivalent der narzisstischen Mutter sichtbar, wie sie beispielsweise im Märchen Rapunzel dargestellt ist.

Stilfiguren in Heimweh von Else Lasker-Schüler

In Heimweh finden sich viele rhetorische Figuren wie zum Beispiel die Alliteration bei „ich bin ein buntes Bilderbuch“ (V. 11). Des Weiteren findet sich der Neologismus bei „Pharaonenwälder“ (V. 7). Zu finden sind ebenfalls viele Personifikationen, wie etwa die Gebete, die im Fluss „versanken“ (V. 21).  oder das Antlitz, das „spinnt“ (V. 13). Bei der Nacht, die zur „Stiefkönigin“ (V. 6) wird, handelt es sich um eine Allegorie und gleichzeitig um einen Vergleich oder auch eine Metapher – es ist Auslegungssache wie bereits auch am Beispiel der Stiefmutter beschrieben.

Das Gedicht wird von einem lyrischen Ich vorgetragen, das seinen Zustand, seine Gefühle und Ansichten dem Leser mitteilt. Heimweh handelt von der Sehnsucht nach einem Zuhause, nach einem Ort, der mit den eigenen Vorstellungen von Heimat übereinstimmt. Es handelt außerdem von der Enttäuschung und dem Schmerz nicht an diesem Ort zu sein, sondern dort, wo sich das lyrische Ich nicht wohlfühlt und scheinbar nicht willkommen ist.

Historischer Hintergrund

Das Gedicht wurde vor etwas mehr als 100 Jahren veröffentlicht und zwar 1914. Seitdem ist in Deutschland viel geschehen, allen voran die beiden Weltkriege, von denen der Erste Weltkrieg gerade 1914 begann. Ein Thema, welches ebenfalls zur damaligen Zeit immer mehr an negativer Bedeutung gewann, war der Antisemitimus. Die deutsch-jüdische Else Lasker-Schüler war also hinsichtlich ihrer Identität betroffen. Schon in der ersten Strophe des Gedichts Heimweh könnte das lyrische Ich, das sich oftmals auch gleichschalten ließe mit Else Lasker-Schüler, sichbeziehen auf das Leben in Deutschland und die mit diesem Leben verbundenen, immer lauter werdenden antisemitischen Töne. Es ließe sich allerdings auch beziehen auch auf die kulturellen oder geographischen Unterschiede, die zwischen Deutschland und Israel herrschen. Das Klima wäre hier als Aspekt zu nennen oder aber auch die deutsche Effizienz oder der aus dem Militarismus bekannte Gleichmarsch, der mit der damaligen exaltierten Militärbegeisterung überall präsent war.

„Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehn. (V. 1-3)

Das lyrische Ich kann nicht aufgehen in der Stimmung des Landes, nicht mit mitgehen im militärischen Gleichmarsch wie auch dem kulturellen oder sozialen. Überhaupt, wenn die Sprache nicht passt, nicht verstanden wird, dann wird Kommunikation erschwert.

Vorfahren, Volk und Identität in Heimweh

Die weiteren Verse beziehen sich auf die mit den Vorfahren verbundene Identität, die in der momentanen Heimat Deutschland immer mehr verlorenzugehen scheint. Deutlich erkennbar ist der Kontrast, der durch die benutzten Worte unterstrichen wird. Die Heimat und Kultur werden geschildert als farbenfroh (V. 11), schillernd (V. 15) leuchtend (V. 9), fast märchenhaft und unwirklich (V. 7-8), wie einem Traum entstiegen. Die Umschreibung der Ist-Situation dagegen erscheint kühl, schmucklos, deutsch akribisch (V. 13-18). In der letzten Strophe wird Trauer über die immer mehr verlorengehende Herkunft offenbart.

Wer salbt meine toten Paläste –
Sie trugen die Kronen meiner Väter,
Ihre Gebete versanken im heiligen Fluß. (V. 19-21)

Die in der Mitte des Gedichts beschriebene Euphorie der heimatlichen Kultur wird als vergänglich dargestellt. Als etwas, das untergehen wird und nur noch als versteinertes Bild (V. 18) in der Erinnerung der Heimat erhalten bleibt. In den erdachten „Pharaonenwälder[n]“ (S. 7), in der Vorstellung von einem bunten „Bilderbuch“ (V. 11). Möglich auch, dass hier das lyrische Ich in seiner kulturellen Zugehörigkeit gespalten ist, was als Gemeinsamkeit mit der realen Autorin deutbar ist.

Ein Heilmittel für Heimweh

Ein Heilmittel für diese Sehnsucht nach Heimat wird sich nicht finden lassen bzw. kann nicht gefunden werden. Die Gebete des lyrischen Ichs „versanken im heiligen Fluß.“ (V. 21) Es ist von einer Sehnsucht die Rede, die sich nicht mit einem einfachen Umzug, einer Ortsänderung stillen lässt. Es ist von einer Sehnsucht die Rede, die nach einer neuen Zeit ruft, nach einem unkonventionellen, offenen Geist in den Köpfen der Menschen. Einem Geist, der mehr Freiraum lässt für Gedanken und fremde Kulturen, für Schillerndes und Versöhnliches. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um das Gedicht einer deutsch-jüdischen Frau im Jahre 1914 handelt und bekannt ist, was in den darauffolgenden Jahren geschehen wird, kann gesagt werden, dass sich die Sehnsucht nicht erfüllt hat.

Beschluss zu Heimweh von Else Lasker-Schüler  

Es ist ein Gedicht, geschrieben von einer Außenseiterin, geboren in eine Epoche, die nicht auf ihre Bedürfnisse und Ansichten zugeschnitten war und in der sie sich dementsprechend unwohl und fehl am Platz fühlen musste. Das kommt in Heimweh durch das lyrische Ich zum Ausdruck. Hier lässt sich auch der Bezug zum Expressionismus finden. Im Gedicht finden sich wesentliche Themen des Expressionismus wie Verfall, Tod, Ich-Zerstörung und die Suche nach Erneuerung und Verbesserung. Wenn das Gedicht mit Bezug zum Thema Antisemitismus gelesen wird, hat es durchaus politische Töne, allerdings ohne eine genaue Zielrichtung, wie es im Expressionismus auch vorkam. In diesem Zusammenhang seien Weltende von Jakob von Hoddis, Cafe von Paul Zech oder An die Völker von Johannes R. Becher genannt. Heimweh von Else Lasker-Schüler lebt von seiner Bildhaftigkeit, durch seine Stilelemente, die sprachlichen Mittel wie die Personifikationen, Vergleiche und Metaphern. Die Wirklichkeit wird in Sinnbildern und subjektiv verzerrt durch die Anschauung des lyrischen Ichs dargestellt. Aufgrund seines inhaltlichen Themas und der stilistischen Darstellung ist die Zugehörigkeit zum Expressionismus bei Heimweh deutlich erkennbar.

Kleiner Nachschlag

Und weil ich zuletzt einige Beispiel genannt habe, kommt hier An die Völker von Johannes R. Becher –  allerdings ohne Kommentare.

An die Völker – Johannes R. Becher

III

Wann schnellt ihr hoch? Wann schwebt in Lüften frei
Ausbalanciert ihr? Bunteste Sonnen drehen.
Der Länder Beete sich um euere Hüften schlingen.
Wann geht ihr auf? Enteilt den Kerkernächten?

Auf eure Gewänder von Shrapnells gestreut
Zischend Gewölk. Wann – da Stockwerk Straßen würgt –
Verlaßt ihr das Gefild, aus finsterem Donnersturm
Zieht euch heraus?! Folgt jener Führer Wink:

Aufflammend Könige. Säulen. Hellste Imperative.
Springt auf! Hah! Rhythmisiert euch! Bohrt euch fest!
Bewegt, verankert, knetet, klärt euch! Steigt!
Ihr Heilige des Schweißes. Zukünftige. Neu geformte.
Die jungen Dichter wirbeln euch Salut.

Erregte Masse. Stoff in Fluß geraten.
Koloß von ungezählten Flügeln hochgeschraubt.
Einst -: Bergklotz. Jetzt-: elastisch Monument gleitend im Ätherraum.
Schart euch! Entteilt! Gehirn zugespitzt! Beginnt!

Kolonnen stampfend gen der Henker Bau.
Die Fahne scheint! Gehirn -: der Zukunft Waffe.
Knickt um der Bajonette rostigen Wald.
Strahlhauch der Liebe jed Gewehr einschmilzt.

Aufzüngeln Hände Palmenhimmel über der Geschütze Rohr verzweigt.
Fortflügeln die Granaten. Selige Schwäne.
Umarmte ziehen, von Gesängen ewigen Friedens tönend, weil in der Runde auf!
Quelle: Johannes R. Becher: An die Völker. In: Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016, S. 96-97.

Verwendete Literatur

Beetz, Manfred: Expressionismus. In: RLW 1. Hg. von Klaus Weimar. Berlin/New York 1997, S. 550-554.
Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016.
Hille, Peter: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 5. Essays und Aphorismen. Hg. von Friedrich und Michael Kienecker Essen 1986.
Lasker-Schüler, Else: Heimweh. In: Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016, S. 145-146.
R. Becher. Johannes: An die Völker. In: Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016, S. 96-97.
Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 190—1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004.


[1] Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 190—1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 107. [2] Ebd. [3] Ebd. [4] Ebd., S. 108. [5] Ebd. [6] Ebd. [7] Ebd. [8] Beetz, Manfred: Expressionismus. In: RLW 1. Hg. von Klaus Weimar. Berlin/New York 1997, S. 550-554, hier S. 550. [9] Ebd. [10] Ebd. [11] Gedichte des Expressionismus. Hg. von Dietrich Bode. Stuttgart 2016, S. 241. [12] Ebd., S. 242.

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