Lolita von Vladimir Nabokov – individuelle Spurensuche

Stilisiert - Lolita Notiz

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.“[1] [Die Fettungen in den Zitaten hier und öfter sind von mir als Ankerpunkte für die Augen gesetzt.]

Ja, heute geht es um Lolita von Vladimir Nabokov. Aber anders als sonst, wird es keine Analyse, auch keine bereitgestellten Zitatblöcke gibt es, sondern es wird eine persönliche Fiktion des Schlussfolgerns (als ob die Geisteswissenschaften etwas anderes wären) auf der Basis handschriftlicher Markierungen, die eine mir völlig unbekannte Person in meinem gebrauchten Exemplar hinterlassen hat. Doch damit dieses fiktionale und subjektive Spurenlesen funktionieren kann, muss ich zuvor noch etwas zum Inhalt erwähnen, kleine Erklärungen vorwegnehmen und den Roman historisch einordnen und wahrscheinlich ist um ein bisschen Analyse nicht umherzukommen. Fangen wir an!

Lolita zusammengefasst

Lolita von Vladimir Nabokov erzählt die Geschichte von Humbert Humbert (ein Pseudonym), einem intellektuellen Pädophilen um die vierzig, der sich von der zwölfjährigen Dolores Haze, genannt Lolita, angezogen fühlt. Humbert heiratet Lolitas Mutter, um in ihrer Nähe sein zu können. Nachdem diese gestorben ist, mimt er den Vater und reist er mit ihr durch die USA. Die Beziehung zwischen Humbert und Lolita ist geprägt von Obsession, Missbrauch und moralischen Konflikten. Lolita versucht schließlich zu fliehen und heiratet später einen Mann namens Dick Schiller. Humbert wird aufgrund anderer Verbrechen inhaftiert und erfährt während seiner Haft, dass Lolita ein Kind von einem Mann namens Clare Quilty erwartet. Der Roman ist bekannt für seine komplexe Erzählstruktur, seinen literarischen Stil und die provokanten Themen, die er bezüglich Liebe, Macht und Moral aufwirft.

Zu Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov (1899-1977) war ein russisch-amerikanischer Schriftsteller, außerdem Literaturwissenschaftler und Schmetterlingsforscher, der für seine besondere Beherrschung der englischen Sprache bekannt ist. Er gehört zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Sein Leben ist von Exilerfahrungen geprägt: 1917 floh er mit seiner Familie vor der Oktoberrevolution nach Deutschland, vor dem Nationalsozialismus floh er mit seiner jüdischen Ehefrau erst nach Frankreich, dann in die Vereinigten Staaten, wo er an unterschiedlichen Universitäten lehrte. Lolita erschien als sein zwölfter Roman, zunächst im französischen Verlag Olympia Press am 15. September 1955, war das Werk den amerikanischen Verlegern im prüden Amerika der 50er-Jahre doch zu explosiv und wurde als pornographisch betrachtet.[2] Einige Verleger wollten, dass Nabokov sein Werk (zu seiner Belustigung) veränderte: Lolita sollte unter anderem ein zwölfjähriger Junge werden, Humbert ein Farmer, diesen in einer Scheune verführt und zwar in „kurzen, kraftvollen, «realistischen» Sätzen“[3].

Kritikerstimmen zu Lolita

Pädophilie ist ein Tabu, damals, natürlich auch heute. Interessant aber, dass sich das Buch nach dem Erscheinen und eklatanten negativen Kritiken in die Höhen der Bestsellerlisten emporschwang: „Es war der schottische Journalist John Gordon, der in der Boulevardzeitung Sunday Express schrieb: ‚Zweifellos das dreckigste Buch, das ich je gelesen habe. Reine hemmungslose Pornographie. Seine Hauptfigur ist ein perverser Kerl, der eine Leidenschaft für ‚Nymphetten‘ hat, wie er sie nennt. Das, erklärt er, sind Mädchen zwischen 11 und 14. Das ganze Buch ist einer erschöpfenden, ungebremsten und absolut widerlichen Beschreibung seiner Machenschaften und Erfolge gewidmet. Gedruckt ist es in Frankreich. Jeder, der es hierzulande verlegte oder verkaufte, würde mit Sicherheit ins Kittchen kommen.‘ Natürlich hatte diese Stellungnahme keine andere Wirkung, als dass die Öffentlichkeit umso aufmerksamer auf das Buch wurde und es sich umso besser verkaufte.“[4]

In den Vereinigten Staaten erschien Lolita dann am 18. August 1958 und stand nach kurzer Zeit auf den Bestsellerlisten, davon über sechs Wochen auf Platz 1.[5]

Die Figur des Humbert Humbert

Bei dem Namen handelt es sich um ein Pseudonym. Er stammt gebürtig aus Paris, wurde 1910 geboren, ist Literaturwissenschaftlicher, konkret Romanist, und begibt sich nach einer gescheiterten Ehe 1940 in die Vereinigten Staaten, um eine Erbschaft anzutreten. „Er schreibt an einer französischen Literaturgeschichte für englischsprachige Studenten und hat auch einen Lehrauftrag an einer amerikanischen Universität in Aussicht, doch in Wahrheit interessiert er sich für etwas ganz anderes. Dieser Mann nämlich leidet an einer sexuellen Störung, die er selbst, er ist ja ein gebildeter Mensch, mit beschönigenden antikisierenden Begriffen als ‚Päderose‘ beziehungsweise ‚Nympholepsie‘ bezeichnet, hinter denen sich in Wirklichkeit aber nichts anderes verbirgt als Pädophilie.“[6]

Humbert bezeichnet sich als „Nympholeptiker“[7], die von ihm ausgewählten Mädchen als „Nymphchen“[8]. Seine Neigung erklärt er selbst mit dem traumatischen Erlebnis des Todes seiner ersten großen Liebe im Kindesalter und rechtfertigt sie auch im Vergleich mit literarischen Größen wie Vergil, Petrarca und seiner Laura, sogar Dante und Beatrice: „Schließlich verliebte sich Dante sinnlos in seine Beatrice, als sie neun war, ein sprühendes Mägdlein in einem karmesinroten Kittelchen, geschminkt und holdselig und juwelengeschmückt; und das geschah 1274 in Florenz bei einem privaten Fest im Wonnemonat Mai.“[9] Dante war allerdings nur ein Jahr älter als Beatrice (wenn ich meiner Quelle glauben kann) und ohne diese schmachtvolle Liebe wären einige Werke mitnichten entstanden. Immerhin hat er Beatrice in seiner Commedia (später Divina Commedia) ein Denkmal für die Ewigkeit in himmlischen Sphären gesetzt.

Das literarische Wissen der Figur

Ich betrachte diesen Vergleich Humberts als Affront, kann sie aber doch einordnen als Rechtfertigung für seine Perversion auf Grundlage seines immensen literarischen Wissens und möglicherweise auch im Zusammenhang mit einer Verehrung für die großen Literaten, in deren Reigen er sich so auf verschmierte Weise einzureihen versucht.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive verfasst, Humbert erzählt aus seiner pervertierten Perspektive und gilt damit als unzuverlässiger Erzähler. Seinen Ausschmückungen ist nicht zu trauen, da sie vor dem Hintergrund seiner schweren psychischen Störung und Perversionen ablaufen, daher zutiefst subjektiv sind. Er legt seinen Missbrauch entsprechend positiv aus, rechtfertigend. Dass er Literaturwissenschaftler ist, zeigt sich an seiner stilistisch ausgefeilten und intertextuell aufgeladenen Sprache und an dem immensen literarischen Wissen, dass er in seine ‚Lebensbeichte‘ einfließen lässt.

Insofern ist es logisch, dass Nabokov diesen Beruf für seinen Protagonisten wählte, kann er letztlich die Figur mit seinem eigenen Wissen ausstaffieren. Bei Beginn der Erzählung befindet er sich Haft, vielleicht sogar in einer Psychiatrie, denn er wird berechtigt des Mordes angeklagt. Er ist ein Mörder. Rezipienten sollten also bemerken, dass sie es mit einem „schwer gestörten, ja wahnsinnigen Verbecher […]“[10] zu tun haben. Humbert missbraucht Lolita, das wird deutlich. Auch wenn er es seinen Gunsten entsprechend auslegt.

Das erzählte Tabu und Vorkehrungen des Autors

Nun gibt es signifikante Parallelen zwischen Nabokov und seiner Figur. Beide sind Literaturwissenschaftler, gebildet und der englischen Sprache hinsichtlich einer ästhetisch stilsicheren Ausdrucksweise mächtig. Ist Humbert das Alter Ego des Autors, der es ihm ermöglicht, geheime Perversionen und Neigungen literarisch auszuleben? Es ist leicht, derartige Schlussfolgerungen in den Raum zu stellen. Dabei hält Nabokov selbst von derlei nicht viel. „Es ist kindisch, ein Werk der Fiktion zu lesen, um Aufschluß über ein Land oder über eine Gesellschaftsklasse oder über den Autor zu erhalten.“[11] Möglich ist es aber und Pädophilie ist ein tabuisiertes Thema, eine Straftat. Vladimir Nabokov war das bewusst. Es ging ihm beim Verfassen seines Werkes ganz und gar nicht um die Verharmlosung oder Verherrlichung eines solchen Themas, sondern um die komplexe literarische Darstellung.[12]

Literaten loten mit dem Schreiben Grenzen des gesellschaftlich Sagbaren aus, bewegen sich in spezifischen Diskursen und an deren Rändern, werfen Fragen in den gesellschaftlichen Raum und forcieren Reaktionen. Sie können mit Worten die von sozialen Normen geformten Membranen durchstechen und aufmerksam machen auf Problematiken und Themen, die abseits der erwünschten Kommunikation in gesellschaftlichen Systemen liegen. Sie experimentieren mit Worten, die literarische Schreibhandlung wird zum manifesten Gedankenexperiment, in das sämtliche Rezipienten mit der Lektüre eingeweiht und einbezogen werden. Danach folgen Diskussion, können begrenzte Diskurse aufgebrochen werden, kann der Fluss der Sprache hinsichtlich nicht genannter Thematiken freier fließen. Natürlich erfordert dies Kraft, Mut und Ausdauer, wie sich an der Verlagsgeschichte von Lolita zeigt, immerhin war die Resonanz zunächst abwertend.

Des Autors Rückversicherungen

Vladimir Nabokov war also bewusst, dass er Reaktionen mit seinem Buch auslösen würde. Aus diesem Grund hat er Frieder von Ammon nach „narrative Vorsichtsmaßnahmen“[13] eingebaut, die verhindern, dass die Geschichte auf ihn zurückgeführt wird und sie, ja, man könnte sie vielleicht auch als ein Gedankenexperiment bezeichnen, bei dem die Reaktion der Gesellschaft selbst zum Versuchsobjekt wird und der experimentelle Aufbau die Veröffentlichung darstellt.

Zwei Strategien macht von Ammon als Vorsichtsmaßnahmen aus und die erste habe ich bereits erwähnt: Humbert ist als Erzähler in seinem Wahnsinn nicht zu trauen, er erzählt seine Geschichte unter bestimmten Umständen aus der Haft hinaus.[14] Er ist ein unzuverlässiger Erzähler und erzählt aus seiner subjektiven Perspektive, seiner pädophilen Neigung heraus. Damit grenzt Nabokov sich konkret von seiner Figur ab.

Auch ist die Geschichte in ein fiktives Herausgebervorwort eingebettet, das Leser noch vor Beginn der Erzählung lesen, sofern sie chronologisch vorgehen und nichts überschlagen. Ein gewisser Dr. phil. John Ray jun. hat das Manuskript des zuvor verstorbenen Humbert Humbert von seinem Freund, dem Anwalt des Toten, erhalten. Und er wird deutlich, was er von dem Toten hält:

„Kein Zweifel, er ist ein Scheusal, er ist verworfen, er ist ein leuchtendes Beispiel moralischen Aussatzes […] Er ist anomal. Er ist kein Gentleman. Aber wie zauberisch kann seine swingende Violine ein zärtliches Mitleid mit Lolita heraufbeschwören, so daß wir von dem Buch hingerissen sind, während wir seinen Autor verabscheuen!“[15]

Doch Ray räumt dem Manuskript selbst einen Wert ein: „Als klinischer Fall wird Lolita in psychiatrischen Fachkreisen zweifellos klassischen Rang einnehmen. Als Kunstwerk geht das Buch über eine reine Beichte weit hinaus. Noch wichtiger indessen als die wissenschaftliche Bedeutung und der literarische Wert ist uns die moralische Wirkung, die es auf jeden ernsthaften Leser ausüben dürfte, denn in dieser zerquälten persönlichen Studie steckt eine allgemeingültige Lehre […]: Lolita sollte für uns alle – Eltern, Sozialarbeiter, Erzieher – Anlass sein, uns mit noch größerer Wachsamkeit und Hellsicht der Aufgabe zu widmen, eine gesündere Generation in einer weniger unsicheren Welt großzuziehen.“[16] Der moralische Impetus scheint epochenübergreifend Gültigkeit beanspruchen zu wollen.

Moral als epochenübergreifende Intention

Beispielsweise fühlte sich Georg Spalatin (1484-1545), Humanist, Reformator und Theologe bei der Drucklegung des frühneuhochdeutschen Prosaromans (Druck 1535) Die schöne Magelone auch dazu verpflichtet, die Rezipienten auf eine Moral hinter der Liebesgeschichte des provenzalischen Grafensohns Peter und der Königstochter Magelone aus Neapel hinzuweisen. Denn Magelone stiftet den Ritter zur Flucht aus der Heimat an, brennt also mit ihm durch, und zerstört so das Königreich ihrer Eltern und ihre Herrscherlinie, da sie die einzige Erbin ist:

Nicht allein darumb das es ein seer lustig vnd lieblich buͤchlein ist, sonder auch das es fast züchtig geet, vnd das billich ein exempel dar auß genommen solt werden [Fettung von mir], teütsche buͤcher für frawen vnd junckfrawen zeschreiben; dann es ist gewiß ein wars altes sprichwort: »Man darf den teüffel nit malen, dann er findt sich selbs wol.«[17]

Ein Unterschied liegt hier lediglich in der Intention und ihrer Zuordnung: Spalatin meint es ernst, Nabokov sichert sich ab und meint es, aus Perspektive der Herausgeberfigur auch ernst bzw. legt möglicherweise dieser Figur seine eigene moralische Intention in den Mund. Doch dazu gleich mehr. Ich denke, es geht darum, etwaige Empörungen über das Verfasste zu relativieren, um eine bzw. mehrere andere Sichtweisen zuzulassen. Das ist sehr umsichtig.

Hier ist auch Frieder von Ammon zuzustimmen: „Doch – und dies lehrt die Literaturgeschichte immer wieder aufs Neue – kann die Struktur eines Textes noch so komplex und subtil sein, die Leser – zumindest diejenigen, für die von vornherein feststeht, dass sie sich empören wollen – greifen doch nur das heraus, was ihre Vorurteile bestätigt; der Rest wird einfach ignoriert.“[18] Und genau das werde ich jetzt bespielhaft veranschaulichen.

Objekte der Veranschaulichung

Erwähnt hatte ich es, ich kaufe gebrauchte Bücher. Ich mag gelesene, markierte, abgewetzte, abgeriebene, eselsohrgeknickte Bücher. Manchmal erkenne ich Kaffeeflecken und bin dankbar für die mir Menschen, die, ähnlich mir selbst (vielleicht), auch so gespannt waren auf den Inhalt, dass sie, die Tasse in der Hand haltend, umblättern wollten, und ungeschickterweise ein Tröpfchen oder mehr auf das Papier verschütteten. Das macht mir nichts. Es hat etwas Ehrenvolles, etwas Respekthaftes, finde ich. Es zeugt von der Qualität eines Buches, wenn es voller Spannung, Neugier und Ungeduld gelesen wurde, wenn es durch viele Hände ging und Nutzungsspuren zeigt, Notizen, Markierungen, Krickeleien enthält (Schmierfinken und Paddelchen abgezogen).

Spuren des Individuellen im Allgemeinen

Worauf ich hinauswill: Das Lesen von Spuren des Individuellen in gebrauchten Büchern birgt eine irisierende Faszination, die ich für vergleichbar halte mit dem Beobachten von Menschen. Menschen mit Büchern zu vergleichen, also etwas Lebendiges aus Fleisch und Blut mit etwas Leblosem, das aus einst lebendem Material hergestellt wurde – geht das überhaupt? Ich finde schon. Immerhin werden literarische Figuren auch mit Menschen verglichen, bieten Bücher und Filme die Möglichkeit, sich mit dem Dargestellten zu identifizieren.

Auch ein Buch und die darin handelnden Figuren lernt man erst mit dem Umblättern jeder einzelnen Seite genauer kennen, mit dem Eintauchen in die Geschichte. Und ist es nicht bei Menschen eben genauso? Mit jedem Gespräch und jeder Beobachtung eröffnen sich vormals nicht gekannte Informationen, gibt es neue Einblicke. Eine ganze Welt erschließt sich für diejenigen, die aus sich heraus und in Kontakt treten, anstatt einfach nur die eigenen Gedanken und kindlich unverarbeitete Neurosen auf Menschen und/oder Bücher zu projizieren.

Allerdings, und eigentlich ist das Allgemeingut bzw. sollte es sein, das Schließen vom Titel oder Cover auf den Inhalt ist zu unterlassen. Wer zu voreingenommen ist, der übersieht nicht nur viel, sondern auch Relevantes. Das gilt für Menschen gleichfalls. Wie oft wird vom Äußeren auf das Innere geschlossen, einfach so, entgegen des eigenen Wissens und Gewissens, ohne konkret gefragt zu haben. Wer fragt, der erhält von der Quelle selbst eine Antwort, je nachdem, wie er die Frage stellt, wird die Antwort ausfallen. Lose Schlussfolgerungen sind eben oft Blindgänger. Dazu zählen auch meine nachfolgenden Überlegungen.

Handschriftliche Notizen – allerliebst

Für meinen Bär
ein (hoffentlich akzeptables) Vorlesebuch zum Entspannen.
In Liebe
von Deiner Katze
9.6.98

Das steht auf der ersten Seite in meinem gebrauchten Exemplar von Lolita, handschriftlich notiert (Foto anbei). Beim ersten Aufschlagen fand ich es witzig. Dazu eine Anekdote.

Ich hatte einst einen Bekannten, der wurde von guten Freunden Bär genannt. In Cliquen und engeren Freundeskreisen entwickeln sich ja manchmal seltsame Kosenamen, die, selbst wenn sie für Außenstehende irritieren, im innersten Kreis der Freundschaft als Liebesbekundung gelten. Ich hatte also diesen Bekannten, der wurde Bär genannt und er nannte mich Kätzchen. Ich weiß nicht mehr warum. Niemand sonst nannte mich so. Eine meiner besten Freundinnen nannte mich Engel (als dreimaliger Verkündigungsengel beim jährlichen Krippenspiel nachvollziehbar). Doch weiter. Also Bär und Katze – Bärchen und Kätzchen – ja, witzig fand ich diese Notiz in meinem Buch, denn sie barg Erinnerungen.

Doch abgesehen von dieser persönlichen Koinzidenz, wer bitte schreibt genau so etwas in Lolita? Das kann doch nur jemand gewesen sein, der keine Ahnung hat, worum es in dem Buch geht. Oder?

Lolita ein „Vorlesebuch“?

Und dieses Buch, die sexualisierten und um zwölfjähriges Mädchen kreisenden Gedanken eines Mannes um die vierzig, eine Geschichte über Betrug, Mord und Macht wird in meiner handschriftlichen Notiz als „(hoffentlich akzeptables) Vorlesebuch“ bezeichnet. Hand aufs Herz – ich hatte nach dem erst witzigen Eindruck mit den Erinnerungen an meine verblasste Jugend die wildesten Assoziationen. Bär und Katze – das müssen nicht zwangsläufig zwei Erwachsene gewesen sein. Sollte da etwa…? Hatte da etwa …? Allerdings müssen es auch nicht einmal Frau und Mann gewesen sein. Die wildesten Assoziationen zu der Notiz galoppierten, sich gegenseitig aufscheuchend, durch meine Gedanken.

Ein alterndes Literaturwissenschaftlerpaar hatte sich in der langjährigen Ehe in erotischer Hinsicht zu Tode gelangweilt und suchte neue Anstöße mit intellektuellem Tiefgang für gemeinsamen Austausch im Schlafzimmer – Lolita einmal anders? Oder war es der verstörende Liebesbeweis einer verknallten Lehramtsstudentin, die sich aus dem gewohnten Terrain um Grüffelo oder Pippi Langstrumpf herausgewagt hatte, um ihrem Objekt der Begierde, dem frisch geschiedenen Dozenten auf der Weihnachtsfeier ein ihrer Meinung nach, eindeutiges Geschenk zukommen zu lassen? Oder es war schlicht ein Insiderwitz, eine Art von Humor, den ich nicht verstand. Nicht, dass ich jemals herausfinden würde, unter welchen Umständen diese Notiz verfasst wurde.

Vorurteile und das offensichtlich Gemeinte

Zwangsläufig malte ich mir akzeptable Vorlesestunden von Katze und Bär mit Lolita aus: Das Mädchen, ich meine natürlich eine Frau, eine alte Frau – natürlich! Also Katze – mit dem Rücken an ein großes Kissen gelehnt auf einem breiten Südstaatenbett sitzend, ein Bein elegant über das andere geschlagen, der Fuß sich langsam mit den hypnotisierenden roten Zehennägeln drehend, in der Hand dieses, jetzt mein, Buch: Lolita. Sie leckt sich beim Lesen die Lippen aber nur ganz sacht. „Hätte ich mein Ziel erreicht, so wäre meine Ekstase ganz sanft gewesen, ein Fall innerer Verbrennung, dessen Hitze sie selbst dann kaum gespürt hätte, wenn sie hellwach gewesen wäre.“[19] Neben ihr, neben dem Bett sittsam sitzend auf einem Stuhl, ein Mann im normalen Alter, wobei, was ist schon normal, also der Bär (vielleicht?), und hört schauend zu und sieht die sich beim Lesen bewegenden roten Lippen an, die so rot sind wie die Zehennägel an den sich gierig windenden Füßen. Er sieht und hört.

„Und so, zwischen versuchsweisen Annäherungen und verwirrten Wahrnehmungen, die sie entweder in Augenflecken aus Mondschein oder in ein flauschig blühendes Gebüsch verwandelte, träumte ich, ich wäre wieder wach, träumte, ich läge auf der Lauer.“[20] Und jetzt sieht er ihr zu, wie sie sie die elegante Hand an die Lippen führt, seicht einen Finger abspreizt und ihn sich mit dem Nass ihrer Zunge befeuchtet, damit sie weiterlesen kann und die nun entstandene Stille, die sich auszudehnen scheint, schnell beendet und …

BULLSHIT

Dies ist eine Illusion. Das hat mit Nabokovs Werk nichts zu tun! Es sind an aus dem Kontext gegriffenen Formulierungen festgemachte Assoziationen, die keiner wissenschaftlich fundierten Analyse standhalten würden. Es ist Fiktion! Und zwar meine. Dazu noch ziemlich schlecht, bedenkt man meine Einführung.

Zusammenhänge erfragen, der möglichen Wahrheit nahekommen

Die missglückte Katze-Bär-Vorlesestunde kann nicht so stattgefunden haben. Warum nicht? Weil ich bis dato versäumt habe, weitere Fragen zu stellen. Es gibt nämlich weitere Markierungen im Buch. Vladimir Nabokov hat ein Nachwort zu seinem Roman verfasst, in dem er selbst auch auf die Möglichkeit eingeht, Leser und Literaturwissenschaftlicher könnten auf die Idee kommen, hier autobiographische Züge beobachten oder ihm eine Absicht beim Verfassen unterstellen zu wollen. „Nun ich gehöre zufällig zu jenen Autoren, die zu Beginn der Arbeit an einem Buch keine andere Absicht verfolgen, als sich das Buch vom Halse zu schaffen, und die, wenn man sie ersucht, seinen Ursprung und seine Entwicklung dazulegen, nur auf so traditionelle Begriffe wie Wechselwirkung zwischen Inspiration und der Kunst der Kombination zurückgreifen können – was sich zugegebenermaßen anhört, als erkläre ein Zauberkünstler einen Trick dadurch, daß er einen anderen vorführt.“[21]

Die Entstehung von Lolita

Die Idee für Lolita kam Nobokov laut seinem Nachwort durch einen „Zeitungsartikel über den Menschenaffen im Jardin des Plantes […], der, nachdem ihn ein Wissenschaftler monatelang getriezt hatte, die erste je von einem Tier hingekohlte Zeichnung hervorbrachte: Die Skizze zeigte die Gitterstäbe des Käfigs der armen Kreatur.“[22] Der initiale Gedanke, so Nabokov stünde in keiner Beziehung zu der sich aus der aus diesem Gedanken ergebenden Kurzgeschichte mit einem mitteleuropäischen Mann, einem französischen Nymphchen, die in Paris und der Provence spielte. Grob folgt die Handlung der Kurzgeschichte der späteren von Lolita, der Mann, Arthur wirft sich jedoch unter die Räder eines Lastwagens. Nabokov gefiel diese Geschichte nicht, er zerstörte sie. 1949 hatte der erste Impuls ihn jedoch nicht losgelassen und er setzte sich abermals mit dem Thema auseinander und veränderte einige Details, diesmal auch in englischer Sprache, war die vormalige Kurzgeschichte noch auf Russisch verfasst.

Das Nymphchen war nun auch teils irischer Abstammung, auch sollte der Mann immer noch die Mutter heiraten. Die Idee breitet sich zum Roman aus, entwickelte sich jedoch langsam, da dem Autor andere Dinge dazwischenfunkten.[23] Er habe das Manuskript des Öfteren verbrennen wollen, gesteht Nabokov, „als mich der Gedanke innehalten ließ, daß das Gespenst des vernichteten Buches für den Rest meines Lebens in meinen Akten spuken würde.“[24] Es ist übrigens sehr interessant, dass Nobokov hier das Wort ‚Akten‘ verwendet, einem Begriff der sich unter dem zusammenfassenden Begriff ‚Verwaltung‘ einordnen lässt und der auch in Frank Witzels Die fernen Orte des Versagens, zu dessen Lesung ich am nächsten Sonntag eine Karte besitze, eine spezifische Bedeutung hat. In dem Werk wird die Produktion von Literatur als Kreislauf beschrieben, als Verwaltungsakt, an dem Literaten Anteil haben.[25] So sei es um Literatur bestellt, „dass Literatur heute eben vor allem aus Verwaltungsakten besteht […].“[26] Doch darauf jetzt bereits weiter eingehen zu wollen, wäre nicht zielführend.

Lolita – Pornographie?

Nabokov jedenfalls fährt fort, weist auf die schockierten Reaktionen amerikanischer Verleger hin und erörtert dann mit Bezug auf den Begriff der ‚Pornographie‘, wie diese sich in Literatur zeigt und warum sein Werk davon abzugrenzen sei. Seine Ausführungen zeigen, warum ich weiter oben die schlüpfrige Katze-Bär-Vorleseszene aus der handschriftlichen Notiz ableiten konnte.

Obszönität muß sich mit Banalität paaren, weil jede Art ästhetischen Genusses von primitiver sexueller Stimulierung ersetzt werden muß, die nach der landläufigen Phrase verlangt, um direkt auf den Patienten einzuwirken. Alte strenge Regeln müssen Pornographen befolgen, damit sie ihrem Patienten zu der gleichen sicheren Atmosphäre der Befriedigung verhelfen, die zum Beispiel auch Krimifans zu schätzen wissen – Fans jener Geschichten, in denen sich zum Mißfallen des eingefleischten Kriminalroman-Lesers, wenn der Autor nicht aufpaßt, künstlerische Originalität als der wirkliche Mörder entpuppen könnte […]. So muß in pornographischen Romanen die Handlung auf die Kopulation von Klischees beschränkt werden. Stil, Struktur, Bilder dürfen den Leser nie von seiner dumpfen Lust ablenken. Der Roman muß aus dem Wechsel sexueller Szenen bestehen. Die Passagen dazwischen dürfen nicht mehr sein als Verbindungsnähte für das Verständnis, logische Brücken einfachster Bauart, kurze Einführungen und Erklärungen, die der Leser vermutlich überspringt, auf deren Vorhandensein er aber Wert legt, um sich nicht übers Ohr gehauen zu fühlen (eine Denkweise, die auf die Gewöhnung an die «wahren» Märchen der Kindertage zurückgeht). Überdies müssen die sexuellen Szenen im Buch einer ansteigenden Linie folgen, neue Variationen bringen, neue Kombinationen, neue Geschlechter und ein stetiges Anwachsen der Beteiligtenzahl (in einem Stück des Sades rufen sie den Gärtner hinzu), so daß das Buch gegen Ende reicher an Unzucht ist als die ersten Kapitel. Gewisse Techniken in den ersten Kapiteln von Lolita (so zum Beispiel Humberts Tagebuch) verführten einige meiner ersten Leser zu der irrigen Annahme, daß der vorliegende Roman ein schlüpfriges Buch wäre. Sie erwarteten eine zunehmende Folge erotischer Szenen; als diese aufhörten, hörte auch die Leser auf und waren gelangweilt und enttäuscht.“[27]

Entwertung durch Bezeichnung als pornographisches Werk

Lolita sollte also nicht als obszön oder pornographisch kategorisiert und damit entwertet werden. Doch scheint es einen allgemein in der Gesellschaft vorherrschenden Konsens darüber zu geben, was in diese literarische Sparte gehört bzw. welche Handlungen oder Gedankengänge entsprechend zu bewerten sind. Daher ist es sehr wichtig, dass Nabokov diese Dynamiken im Zusammenhang mit dem Entstehen seines Romans erläutert; ebenso die Begrifflichkeit in ihrem literarischen Kontext erörtert, damit meine Ausführungen zu der genannten handschriftlichen Notiz diesbezüglich relativiert werden können. Es scheint also, oberflächlich betrachtet, ein Wissen, eine indirekte Abmachung darüber zu geben, was sich gehört und was nicht, was als pornographisch gilt und was nicht. Darüber hinaus ist auch alles mit spezifischen Erwartungen verbunden, mit subjektiven sowie den der allgemeinen Bevölkerung zugrundeliegenden sozialen Normen und Werten verknüpft.

Keine Moral in Lolita

„Ich lese und schreibe keine didaktische Prosa, und trotz der Versicherung John Rays hat Lolita keine Moral im Schlepptau. Für mich existiert ein Werk der Fiktion nur in dem Maße, wie es mir gewährt, etwas ich rundheraus ästhetische Lust nennen möchte – ein Gefühl, irgendwie mit anderen Seinszuständen in Berührung zu sein, bei denen Kunst (Neugier, Zärtlichkeit, Güte, Harmonie, Leidenschaft) die Norm ist. Es gibt nicht viele solche Bücher.“[28]

Nabokov distanziert sich also von der Aussage des fiktiven Herausgebers, von seiner narrativen Abgrenzungsstrategie, zumindest in der Rolle des Autors des Buchs (in die er sogar erwähnt zu schlüpfen[29]). Die Erwähnung einer weiteren Rolle, in die er als Autor schlüpfen kann, macht das gesamte Nachwort, trotz aller vermeintlich autobiographischen Details dann doch wieder zu einer biographisch-möglichen Option. Sie könnte auch fiktiv sein, erscheint allerdings dem Autor und seiner Biographie näher.

Die Aufforderung im fiktiven Herausgebervorwort, Lolita als moralisierend zu lesen, werden folgsame Leser sicher während der gesamten Lektüre im Kopf haben. Das Nachwort dagegen … vielleicht schaffen es einige nicht einmal bis dahin, sondern enden nach den schlüpfrigen Ausführungen im Teil von Humberts Tagebuch, wie Nabokov erwähnte, in ihren Erwartungen enttäuscht letztlich bei anderen Büchern. Auch muss bedacht werden, dass ich nicht weiß, ob es sich auch in allen Ausgaben befindet, die jemals veröffentlicht wurden.

Weitere Markierungen in Lolita

Ich komme zurück zu meiner handschriftlichen Katze-Bär-Notiz. Denn die zwei weiteren Markierungen, die Katze vorgenommen hat, finden sich tatsächlich in Nabokovs. Markiert sind sie mit jeweils senkrechten schwarzen Strichen ausgerichtet an mehreren Zeilen am Buchrand. Die erste befindet sich vor Nabokovs Aussage, es hätten neben den vielen Lämmern, die bei der Lektüre nach einer hinter dem Verfassen stehenden Absicht gefragt auch etliche kluge, sensible, vorurteilsfreie Menschen Lolita gelesen und das Gefüge seines Buches sogar besser verstanden, als er es hätte erklären können.[30]

„Jeder ernsthafte Schriftsteller ist sich wohl des einen oder anderen seiner Bücher als einer tröstlichen Gegenwart bewußt. Ständig glüht dessen Kontrolllicht irgendwo im Keller, und das bloße Berühren des privaten Thermostaten bewirkt, daß sogleich ein stiller kleiner Ausbruch vertrauter Wärme stattfindet.“[31]

Ein Netz aus Erinnerungen unter der Handlung

Nabokov habe Lolita nicht wieder gelesen, schreibt er, und doch empfinde er das Buch als „wohltuende Gegenwart“[32] Er sucht sich bei diesem Denken an sein Buch einzelne Bilder verschiedener Szenen aus, etwa „Lolita beim Tennisspielen“[33] oder „die Namensliste aus der Ramsdaler Schule“[34] oder die die Portraits, die die stilisierte Dachbude Gaston Godins zieren“[35] und mehr.“ Das sind die geheimen Stellen, die unterbewußten Koordinaten, mit deren Hilfe das Buch konzipiert ist […].“[36]

Verschiedene und an die Figuren gebundene Handlungen sind zu Bildern geworden in der Erinnerung des Autors – das ist der Kit, das Netz der Erzählung, das rückblickend den Roman im Gedächtnis seines Erschaffers zusammenhält und damit auch auf den Schreibverlauf verweist. Es sind die vielen Details, vielleicht auch die Schreibsituationen, die gebunden sind an die genannten Einzelbilder und Szenen. Keine dahinterstehende Moral hat diese Szenen zusammengeknüpft, keine didaktische Intention hat das Werk bekannt machen wollen, um eine ganze Nation oder sogar die ganze Welt zu erziehen und ins Licht der Erkenntnis zu leiten. Obwohl es dies gibt, wie mein Verweis auf den protestantischen Georg Spalatin (der übrigens Martin Luther nahestand) und Magelone zeigt.

Warum Katze gerade diesen Abschnitt markiert hat, darüber kann ich nur spekulieren. Vielleicht hängen persönliche Erinnerungen von Katze und Bär mit dem Buch zusammen, vielleicht war Bär selbst Literatur und ein Fan Nabokovs, vielleicht sollte das Buch unbekannterweise tatsächlich als Vorlesestoff fungieren. Oder es sollte in der Gegenwart die Nähe von Katze und Bär aufrechterhalten.

Die zweite Markierung von Katze

Sie findet sich nach den folgenden Worten Nabokovs: „Daß mein Roman verschiedene Anspielungen eines Pervertierten enthält, ist wohl wahr.“[37] So ganz nebenbei, als wäre das gar nicht wichtig. Als ginge es nicht hauptsächlich um die perversen Gedanken eines Pädophilen. Alles, worum sich Verleger und Kritiker, viele Menschen ob der scheinbar pornographischen Inhalte empört hatten, es verliert seine Bedeutung hinter den, für den Autor, wichtigeren Dingen, die Lolita wirklich zusammenhalten und von einer anderen Inspiration getrieben scheinen, als Obszönität oder einer inhärenten Moral, geschweige denn einer Allegorie auf die Annäherung des Ostens an den Westen oder einer spezifischen Symbolik. Doch nun zur Markierung:

„Aber schließlich sind wir keine Kinder, keine analphabetischen jugendlichen Delinquenten, keine Schüler in einem englischen Internet, die nach einer Nacht homosexueller Umtriebe das Paradox über sich ergehen lassen müssen, die Klassiker in gesäuberten Ausgaben zu lesen.“[38]

Und hatte ich nicht weiter oben genau in diese Richtung strebende Gedanken gehabt? Hatte ich das Werk nicht auch zunächst in seiner oberflächlichen Textform betrachtet und mich von den schlichten Worten besäuseln, sie in meiner Fantasie hirnlos weiterarbeiten lassen und mich über Katze lustig gemacht, die in meiner Vorstellung ihrem Bären ein Vorlesebuch für versaute Schäferstündchen schenkte. Nun, diese Markierungen am Schluss gaben der Notiz am Anfang eine andere Note, die tatsächlich vergleichbar ist mit Nabokovs Herausgeberfiktion. Denn diese gibt den Ton für das Werk an, aber hintendran kommen die wirklich wichtigen Sachen in Form einer nachträglichen Aufschlüsselung, die aber nur denen, die wirklich Interesse haben, eröffnet wird.

Nebelige Spekulationen über vage Dinge

Ich hatte zum einen nicht mit weiteren Einträgen gerechnet und die handschriftliche Notiz aus einem einseitigen Blickwinkel betrachtet, hatte die mir unbekannte Katze abgestempelt und den leeren Raum, der die Notiz und die Namen mir boten, mit Klischees auf oberflächlicher Betrachtung des Romans vorgenommen. Ich habe mich eingereiht in die negativen Stimmen vieler Kritiker, Verleger, vieler voreingenommener Menschen, weil ich zunächst nicht weiter nachgefragt habe. Ich habe keine weiteren Fragen gestellt, weder an das Buch noch an die Markierungen, noch an den Autor. Indem ich sämtliche Markierungen in meine Überlegungen einbezogen habe, zudem noch einige Informationen vom Autor selbst (wahrscheinlich) und von einer unabhängigen Instanz, konnte ich ein umfassenderes Bild gewinnen, wodurch die vermeintlich seichte Handnotiz an Tiefe gewonnen hat.

Bilder der Vergangenheit im Kopf des Autors

Im Zusammenhang mit der Markierung in Nabokovs Nachwort ergeben sich jetzt sowieso ganz andere Umstände. Diese werde ich niemals ausloten können, weil mir der Zugriff auf die Vergangenheit des Autors und der mir fremden Menschen fehlt, die diese handschriftliche Notiz korrekt entschlüsseln können. Interessanterweise ist auch dies ein Thema, das bei der Lesung von Frank Witzel und seinem Die fernen Orte des Versagens am kommenden Sonntag bei der Bremer Lesung behandelt wird, etwa, wenn ein Ich-Erzähler alte Familienfotos betrachtet und Schlussfolgerungen über die darauf vorhandenen Personen unter Berücksichtigung seiner Erinnerungen anstellt.[39]

Vielleicht sind diese Markierungen auch rein zufällig entstanden. Vielleicht hat Katze den Inhalt gar nicht gelesen, sondern nur das Nachwort im Laden durchgeblättert und diese Stellen gefunden, die sie dazu animiert haben, ihrem Schriftsteller-Bären eben dieses Buch zu schenken. Vielleicht aber haben diese Markierungen für Katze und Bären einen persönlichen Wert, der damit zusammenhängt ein Buch angemessen zu lesen, eben nicht abzugleiten in Obszönitäten. Diese Markierung unterstrich dann meine vorangegangenen Überlegungen, dass die handschriftliche Notiz von Literaturkennern vorgenommen sein müsste und zwar auch von zwei sich gut bekannten Menschen, denn die ausgewählten Textstellen schienen sorgfältig und mit einem bestimmten Ziel markiert.

Andererseits

Das Cover ist überaus eindeutig, es handelt sich um Max Beckmanns Frau mit Mandoline. Die Mandoline ist als Musikinstrument in der Kunst erotisch aufgeladen[40], liegt im Coverbild auf bzw. an die Frau gedrängt, deren Oberteil unter die Brüste gezogen wurde, fast so, als sei das Musikinstrument verantwortlich. Es ist also etwas dran, man kann vom Cover auf den Inhalt schließen. Allerdings sollte man auch genauer hinsehen und Fragen stellen.

Zuletzt: Nymphen, Pan, Metamorphosen – eine Verbindung

Einem Literaturwissenschaftler wie Vladimir Nabkov waren die aus der antiken Mythologie stammenden Wesen bekannt, sodass er sie auch ins Vokabular seiner Figur überführen konnte. Seine Liebe aus Kindertagen, Annabelle, nennt Humbert „Nymphchen“[41], bezeichnet sich selbst als „ein kleiner Faun“[42], womit er Bezug nimmt auf die Gestalten der antiken Mythologie. „Nymphen (gr. nymphe, »junge Frau«, »Braut«) [sind] weibl. Gottheiten, die die Dinge in der freien Natur (wie Flüsse, Wälder oder Berge) beseelen; schöne junge Frauen, meist Töchter des Zeus. Sie treten als anmutige Begleiterinnen von Göttern, bes. Pan, Hermes, Dionysos, Artemis und Apollon, auf.“[43]

Ein Pan ist das griechische Äquivalent zu einem römischen Faun und ein „in Arkadien beheimateter Schutzgott der Hirten, Sohn des Hermes, ein Mischwesen aus Bock und Mensch, in Rom mit Faunus identifiziert. […]. Sein Instrument, die Syrinx (Pan-Flöte), ist aus dem Schilfrohr gefertigt, in das sich die Nymphe Syrinx auf der Flucht vor seinen lüsternen Nachstellungen verwandelt hatte.“[44] Die lüsternen Faune oder Pane stellen also Nymphen nach, eine hat sich auf der Flucht verwandelt. Wer denkt da nicht an Ovids Metamorphosen.

Nabokov und die Schmetterlinge

Eine weitere Schnittstelle ergibt sich aus Nabokovs Beschäftigung als Schmetterlingssammler, denn laut seinem Nachtwort „gehen meine Frau und ich [jeden Sommer] auf Schmetterlingsjagd.“[45] Der Begriff Nymphe bekommt mit Bezug auf die Person Vladimir Nabokov und sein Hobby eine erweiterte Bedeutung: „Nymphe w [von griech. nymphai = die noch flügellose Bienenbrut; die geflügelten Ameisenmännchen], im deutschen Sprachgebrauch das (oder die) letzte, bereits Flügelanlagen tragende Jugendstadium der Hemimetabola (insbesondere Neometabola) unter den Insekten.“[46]

Es geht in einer weiteren Bedeutungsschicht um Transformation, um Metamorphosen, wenn man es mit Ovid sagen will. Es geht also um die Verwandlung der Nymphe, es geht um die Verwandlung einer Beziehung, damit die eigene Lüsternheit ausgelebt werden kann, es geht um das Stadium zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, es geht um die Macht, solch ein Wesen zu fangen und zu verwandeln. Also doch eine inhärente Symbolik? Trotz der Ablehnung Nabokovs? Über Bär und Katze jedenfalls sagen diese Annahmen nichts aus, keine entsprechende weiter Markierung findet sich in dem Werk. Es bleibt dunkel.

Letzte Schlüsse und Annahmen

Vladimir Nabokov hat mit seinem Nachwort aufgeräumt mit vielerlei Optionen, einen Roman (seinen Roman) mit Rückschlüssen auf die Biographie des Autors, seine Neigungen, seinen Intentionen und Erinnerungen lesen und analysieren zu wollen. Vor allem, und das finde ich sehr interessant, wurden seine Ausführungen auch mit Blick auf meine Schlussfolgerungen bezüglich der handschriftlichen Markierungen in meinem Exemplar konkretisiert und veranschaulicht, weil ich zunächst genau dieselben Fehler gemacht habe wie Verleger und Kritiker. Es ist wohl menschlich, das Schlussfolgern.

Und doch – das Schließen ohne fragen, das ist gefährlich und verhindert eine offene und authentische Kommunikation, die erleuchtenden Reichtum bieten kann hinsichtlich Menschen (sofern sie ehrlich antworten) und Büchern (sofern man offen ist, seinen Horizont zu erweitern). Für mich jedenfalls war diese Herangehensweise an Lolita spannend. Da ich noch viele weitere gebrauchte Bücher mit solchen Markierungen besitze, werde ich dies mit einem anderen Buch bei Gelegenheit wiederholen.

Verwendete Literatur

Quelle:

Vladimir Nabokov: Lolita. Roman. Deutsch von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, H. M. Ledig-Rowohlt und Gregor von Rezzori, bearbeitet von Dieter E. Zimmer. Hamburg 1998.

Literatur:

Ammon, Frieder von: „How Could They Ever Make a Movie of Lolita?“ Über Stanley Kubricks Lolita (Vortrag vom 15.06.2009). In: Medienobservationen (07.07.2009), S. 1-10. https://www.medienobservationen.de/2009/von-ammon-lolita/ (zuletzt aufgerufen am 05.01.2023).
Brodersen, Kai/Zimmermann, Bernhard (Hg.): Nymphen. In: Kleines Lexikon mythologischer Figuren der Antike. Basisbibliothek Antike. Stuttgart 2015, S. 120.
Brodersen, Kai/Zimmermann, Bernhard (Hg.): Pan. In: Kleines Lexikon mythologischer Figuren der Antike. Basisbibliothek Antike. Stuttgart 2015, S. 32.
Roloff, Hans-Gert: Nachwort. In: Veit Warbeck: Die schöne Magelona. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587) mit 15 Holzschnitten. Hg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1969, S. 86-96.
Lexikon der Biologie: Nymphe. Heidelberg 1999, online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/nymphe/47087 (zuletzt aufgerufen am 07.01.2024).
Schreiber, Sylvia: Die Mandoline in der Kunst. Zwischen Erotik und Brutalität. In: BR-Klassik vom 20.02.2023, online unter: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/zugabe-mandoline-kunst-gemaelde-instrument-100.html (zuletzt abgerufen am 08.02.2023).
Witzel, Frank: Die fernen Orte des Versagens, Erzählungen. Berlin 2023.


[1] Nabokov, Vladimir: Lolita. Roman. Deutsch von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, H. M. Ledig-Rowohlt und Gregor von Rezzori, bearbeitet von Dieter E. Zimmer. Hamburg 1998, S. 13. [2] Ammon, Frieder von: „How Could They Ever Make a Movie of Lolita?“ Über Stanley Kubricks Lolita (Vortrag vom 15.06.2009). In: Medienobservationen (07.07.2009), S. 1-10, hier S. 5. https://www.medienobservationen.de/2009/von-ammon-lolita/ (zuletzt aufgerufen am 05.01.2023). [3] Nabokov: Lolita, S. 513. [4] Ammon: „How Could They Ever Make a Movie of Lolita?“, S. 5. [5] Ebd., S. 6. [6] Ebd., S. 1-2. [7] Nabokov: Lolita, S. 25. [8] Ebd., S. 25 und öfter. [9] Ebd., S. 30. [10] Ammon: „How Could They Ever Make a Movie of Lolita?“, S. 3. [11] Nabokov: Lolita, S. 517. [12] Ammon: „How Could They Ever Make a Movie of Lolita?“, S. 3. [13] Ebd. [14] Ebd., S. 4. [15] Nabokov: Lolita, S. 8-9. [16] Ebd., S. 8-9. [17] Roloff, Hans-Gert: Nachwort. In: Veit Warbeck: Die schöne Magelona. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587) mit 15 Holzschnitten. Hg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1969, S. 86-96, hier S. 93. [18] Ammon: „How Could They Ever Make a Movie of Lolita?“, S. 4. [19]Nabokov: Lolita, S. 214. [20] Ebd. [21] Ebd., S. 507. [22] Ebd., S. 508. [23] Ebd., S. 509. [24] Ebd., S. 509-510. [25] Witzel, Frank: Die fernen Orte des Versagens, Erzählungen. Berlin 2023, S. 16. [26] Ebd., S. 17. [27] Nabokov: Lolita, S. 511-512. [28] Ebd., S. 514. [29] Ebd., S. 507. [30] Ebd., S. 515. [31] Ebd., S. 516. [32] Ebd. [33] Ebd., S. 517. [34] Ebd. [35] Ebd. [36] Ebd. [37] Ebd. [38] Ebd. [39] Witzel: Die fernen Orte des Versagens, S. 189-197; hier beziehe ich mich konkret auf die Erzählung Familienfotos. [40] Schreiber, Sylvia: Die Mandoline in der Kunst. Zwischen Erotik und Brutalität. In: BR-Klassik vom 20.02.2023, online unter: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/zugabe-mandoline-kunst-gemaelde-instrument-100.html (zuletzt abgerufen am 08.02.2023). [41] Nabokov: Lolita, S. 27. [42] Ebd. [43] Nymphen. In: Brodersen, Kai/Zimmermann, Bernhard (Hg.): Kleines Lexikon mythologischer Figuren der Antike. Basisbibliothek Antike. Stuttgart 2015, S. 120. [44] Pan. In: Brodersen, Kai/Zimmermann, Bernhard (Hg.): Kleines Lexikon mythologischer Figuren der Antike. Basisbibliothek Antike. Stuttgart 2015, S. 32. [45] Nabokov: Lolita, S. 510. [46] Nymphe. In: Lexikon der Biologie, Copyright 1999 Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/biologie/nymphe/47087 (zuletzt aufgerufen am 07.01.2024).

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