Die Türhüterparabel – ein Rückblick

Die Multiperspektive der Türhüterparabel

Die Türhüterparabel als Teil von Franz Kafkas Der Prozeß gehört zum Kanon der Literatur, die Schülerinnen und Schüler sich für gewöhnlich im Laufe ihres Aufenthalts an einem Gymnasium zu Gemüte führen müssen. Warum ich mich heute mit literarischen Reminiszenzen auseinandersetze, ist leicht erklärt: Nachdem ich mir bereits die Hälfte von Tonio Schachingers Echtzeitalter in Vorfreude auf meinen Theaterbesuch in der nächsten Woche einverleibt habe (hier der zugehörige Beitrag), wurde ich nostalgisch. Vielleicht nicht unbedingt in der Form, wie sie im Roman in Analogie mit militärischen Institutionen beschrieben wird. Denn es ist leider so – man muss seine Leidenszeit in der Schule im Nachhinein verklären.

Aber tatsächlich hat mich die Lektüre des Romans animiert, mir meine alten Aufzeichnungen anzusehen, vor allem die, die im Fach Deutsch als gedankliche Ergüsse ein brotloses Dasein in den analogen Untiefen meiner Festplatte fristen. Und ich bin auf recht interessante Unterlagen gestoßen und werde, passend zum Thema, das auch in Echtzeitalter anklingt, eine meiner alten Arbeiten [siehe hier auf dieser Seite] über Franz Kafkas Türhüterparabel sichtbar machen. Und hier geht es direkt zur Einführung und zum Text. Vor allem Daniel Kehlmanns Ruhm werde ich mir noch einmal vornehmen. Nachdem ich jetzt tatsächlich auch ein persönlich ausgestelltes Unterschriftle in meinem Lichtspiel-Exemplar besitze, schaffe ich es vielleicht, die dort aufgerufenen Themen mit anderen Werken in Beziehung zu setzen.

Erinnerungen an schulische Erlebnisse

Goethes Stella, Kafkas Prozeß, Tollers Masse Mensch, Gedichte von Else Lasker-Schüler, Gerrit Engelke und Rainer Maria Rilke, Eichendorffs Taugenichts … es war einiges dabei. Rückblickend betrachtet auch ein paar Schätze wie Dürrenmatts Die Physiker und Der Besuch der alten Dame sowie Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Echtzeitalter hat mich an meine Schulzeit erinnert, die ich nicht verklären kann und möchte.

Unter anderem deshalb, weil ich niemals werde nachvollziehen können, wieso Lehrpersonal sich über Schülerinnen und Schüler lustig macht (und es auch noch in Ordnung finden kann) oder inwiefern jemals irgendwo die Vorgehensweise von Zuckerbrot und Peitsche irgendetwas anderes provoziert hätte als Wut und wieso es ältere Lehrerinnen gab, die Schüler bevorzugten und ältere Lehrer, die Schülerinnen bevorzugten und wieso häufig nicht die Leistung zählte, sondern nur, ob der Papi ein hohes Tier im Stadtrat war oder das T-Shirt einen angemessenen Grad an Transparenz besaß.

Zuckerbrot und Peitsche – Fördern und Fordern?

Mir erschließt sich bis heute nicht, wieso unter Druck gesetzt werden muss, wer sowie freiwillig an Dinge herangeht, weil sie Spaß machen. Aus irgendeinem Grund, den einige Lehrkörper wohl insbesondere in Erziehungsfragen als besonders sinnvoll erachten, muss den Kindern aber in genau diesen Fällen, bei denen ein eigenmotiviertes Lernen vollzogen wird, ein Strich durch Rechnung gemacht werden. Freude am Lesen?! Wo gibt es das denn? In solchen Momenten wird das eigene emotionale Leid der traumatischen Erziehungserfahrung in militärisch ausgerichteten Schulinstitutionen für die systeminhärenten Lehrerinnen und Lehrer an der Differenz des freudig und wissbegierig lernenden Gegenübers in seinem vollen Ausmaß deutlich.

Und weil der Schmerz, der aus diesem Bild erwächst unerträglich ist, muss er sofort im Keim erstickt. Nein, zerstört werden! Unterdrückt! Dann wird klar, dass auch das Motto Zuckerbrot und Peitsche nur ein Deckel ist, für das darunterliegende und psychologisch fundierte Motiv des »Wenn es mir so ging, dann hat es dir auch so zu gehen«. An deutschen Schulen lernt man eben doch für das spätere Leben. Und möglicherweise wurde das Prinzip Fördern und Fordern falsch verstanden, denn dass Angst ein nicht wirklich guter Katalysator ist oder die falsche Achtung vor Autoritäten zu Gewalt führt, wie es beim Milgram-Experiment inszeniert wurde, dürfte doch mittlerweile bekannt sein. Oder etwa nicht?

Widersprüchliches Verhalten von Autoritäten

Es gab Schulstunden, da habe ich mit mir selbst diskutiert, ob Lehrkräfte mit ihrem Auftreten in der Schule eine Art unausgeglichenes Machtgefälle austarieren. Eine belastende gesundheitliche Situation wäre etwas, das kann zu einem Ohnmachtsgefühl führen und das Ausüben von Macht und Kontrolle würde, zumindest kurz, eine auf den Selbstwert bezogene Energiezufuhr leisten. Jemand der in seiner unglücklichen Ehe gefangen ist, sich aber nicht traut, weitere Schritte zu unternehmen, lässt vielleicht aufgestaute Gefühle der Wut oder Trauer an anderen aus. Die Schule scheint hier ein passender Ort zu sein. Die Kinder sind nicht die eigenen, es gibt soweit also keine persönlichen Verflechtungen, die möglicherweise eine gewisses Eingeständnis zur eigenen Schuldhaftigkeit bezüglich des unangemessenen Verhaltens wie Anschreien, Bloßstellen, Beleidigen oder Diskreditieren nach sich ziehen würden.

An Universitäten wird das Googeln nach Informationen über Studierende durch Dozentinnen und Dozenten sowie das spitzfindige Einstreuen der gefundenen privaten Sachverhalte derjenigen Personen in Diskussionen über die Seminarthemen übrigens akademische Diskussion genannt. In Echtzeitalter geht es zwar nur um die Schulzeit, doch gibt es interessante Schnittmengen mit den Erfahrungen, die ich im Studium gemacht habe und den recht unangenehmen Situationen, die ich dort miterlebt habe. Die Nutzung von Polemik zeigt sich ja auch durchweg in der Geschichte, etwa an den satirischen Flugschriften Martin Luthers im Rahmen der Abgrenzung vom Pabsttum in Rom. Besonders bekannt sind die von Luther und Melanchthon edierten Flugschriften von 1523, auf denen Papstesel und Mönchskalb abgebildet sind und als Karikaturen gegen den Papst und das Mönchstum gerichtet sind.

Autoriäten, Bürokratie und Kafka

Doch ich schweife ab. Über Tonio Schachingers Echtzeitalter schreibe ich aber noch ausführlich (Beitrag mittlerweile hier). Und ich bin natürlich sehr gespannt auf die Lesung. Aber ganz passend zu den soeben aufgeführten Thematiken über Autoritäten und Entgrenzungen ist doch das heute zugrundeliegende Werk von Franz Kafka, nämlich die Türhüterparabel. Ich habe den Prozeß als Beispiel für ein totalitäres System betrachtet, das in sämtlichen gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen implementiert ist und dort als ein emotionsloses Wesen maschinengleich agiert, und zwar zu seinem eigenen Nutzen, was notgedrungen zu Widersprüchen führt und den Menschen als Individuum quasi auslöscht oder aber sich einverleiben und gleichmachen möchte. Sehr passend: Die Folge Carpe Diem, wo Tatortreiniger Schotty in einer Behörde unterwegs ist. Oder aber mein Beitrag zu Masse und Individuum.

[2] Kleine Einführung zu Kafkas Türhüterparabel

Die Türhüterparabel gehört zu Franz Kafkas Roman Der Prozeß, mit dessen Verfassen er bereits 1914 begann. Der Roman wurde allerdings nie vollständig abgeschlossen und das Werk auch erst posthum 1924 veröffentlicht. Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem Kapitel »Vor dem Gesetz«. Hier eine kleine Zusammenfassung.

Die Parabel beginnt mit einem Mann vom Land, der vor einer verschlossenen Tür zu einem Gesetz steht. Dieser Mann ist entschlossen, Einlass zu erhalten, um Zugang zum Gesetz zu bekommen. Der Türhüter, ein strenger und mächtiger Wächter, erklärt jedoch, dass der Mann jetzt nicht eintreten könne. Der Mann fragt, ob er später eintreten dürfe, woraufhin der Türhüter zustimmt, aber darauf hinweist, dass der Weg zum Gesetz lang ist. Jahre vergehen, und der Mann versucht immer wieder, Einlass zu erhalten. Er besticht den Türhüter, versucht, ihn zu überlisten, und appelliert sogar an sein Mitgefühl. Doch der Türhüter bleibt unerbittlich und lässt den Mann nicht eintreten. Schließlich, kurz vor seinem Tod, fragt der Mann verzweifelt, warum bisher niemand sonst um Einlass bat. Der Türhüter erklärt, dass diese Tür nur für den Mann bestimmt war und schließt sie nun für immer.

Die Türhüterparabel aus Kafkas Der Prozeß

Vor dem Gesetz

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.
»Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.«
Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:
»Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.«
Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.

Dort sitzt er Tage und Jahre.

Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei:
»Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.«
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Den unglücklichen Zufall verflucht er in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.

Nun lebt er nicht mehr lange.

Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert.
»Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich.«
»Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?«
Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«

Vor dem Gesetz. In: Selbstwehr. Unabhängige jüdische Wochenschrift 34/9 (1915).

Franz Kafka
Österreichischer Schriftsteller, geboren am 3. Juli 1883 in Prag, gestorben am 3. Juni 1924 in Kierling bei Wien


[1] Schulische Ausarbeitung zur Türhüterparabel vom 30.3.2014

Der Türhüter, ein innerpsychisches Problem?

Betrachten Sie die Parabel und ihren Werdegang einmal als einen innerpsychischen Prozess und bestimmen Sie die Instanzen des Mannes, des Türhüters und des Gesetzes. Wie können diese Bilder auf der Sachsebene innerpsychisch ausgedeutet werden?

Nach Freud existieren drei innerpsychische Instanzen: Es, Ich und Über-Ich. Das Es beinhaltet alles, was ererbt ist und schließt die körperlichen Triebe mit ein. Das Ich vermittelt zwischen Es, Über-Ich und der Außenwelt und hat die Aufgabe der Selbstbehauptung. Diese erfüllt das Ich, indem es die Reize der Außenwelt kennenlernt, diese als Erfahrungen im Gedächtnis speichert und dann zu starke, unangenehme Reize vermeidet, mäßigen Reizen begegnet und positive, stimulierende Reize sucht. Das Ich möchte die Außenwelt nach seinen Vorstellungen und zu seinem Wohl verändern.

Es kann sich gegen das Es wenden, indem es die Kontrolle über die Triebwünsche übernimmt und entscheidet, ob es zur Bedürfnisbefriedigung kommt. Aus dem Ich bildet sich das Über-Ich heraus. Es repräsentiert übernommenes Gedankengut von Eltern, Erziehern oder anderen Personen, die in der Kindheit wichtig waren. Somit kann das Über-Ich als Instanz angesehen werden, die Verbote und moralische Ansichten über bestimmte Dinge besitzt. Das Ich handelt dann korrekt, wenn es die Anforderungen des Es, des Über-Ich und der Realität miteinander vereinen kann.

Der Türhüter als vermittelnde Instanz?

In Bezug auf Kafkas Türhüterparabel könnte nach diesem Schema der Türhüter als vermittelnde Instanz des Ich angesehen werden. Der Türhüter verweigert dem Mann, also dem Es, sein Bedürfnis in das Gesetz einzutreten. Jedoch bleibt er in diesem Verbot nicht unbedingt konkret. Er bietet dem Mann an, durch die Tür zu gehen. Allerdings mit dem Verweis darauf, dass hinter der Tür mächtigere Türhüter folgen, die den Mann aufhalten können. Der Türhüter hat seine Anweisungen also von dem Gesetz, das hinter der von ihm zu bewachenden Tür verborgen bleibt. Somit kann dieses als das moralische Über-Ich mit seinen Verboten angesehen werden. Der Türhüter vermittelt zwischen Mann und Gesetz, wie das Ich zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt vermittelt.

Der Mann möchte unter allen Umständen in das Gesetz. Sogar Bestechung kommt für ihn in Frage. Da hier nun Bedürfnisse und Triebe des Mannes zum Vorschein kommen, lässt er sich klar dem Es zuordnen. Der Türhüter als vermittelnde Instanz reagiert jeweils nur auf die Realität. Das Gesetz, hier das Über-Ich, ist in der Parabel sehr stark ausgebildet. Je stärker das Über-Ich, desto weniger kann das Ich vermitteln, desto weniger werden die Triebe des Es befriedigt. Bei ständiger Unterdrückung der dem Es innewohnenden Bedürfnisse kommt es zu Neurosen, bzw. zu psychischen Krankheiten. In der Türhüterparabel ist dieser Umstand mit dem Tod des Mannes gekennzeichnet, da er Zeit seines Lebens keinen Einlass in das Gesetz erhält.

Eine Parabel für generationelle Traumata?

Auf ein Menschenleben bezogen kann es in der Tat so sein, dass ein Mensch von seinem Über-Ich beherrscht wird und nicht merkt, dass er gar nicht sein Leben, sondern die durch das Über-Ich aus der Vergangenheit geformten Vorstellungen lebt. Die Verbote und moralischen Aspekte des Über-Ichs sind oft im Unterbewusstsein verborgen und somit ist es schwer an diese heranzukommen oder sie nachträglich zu ändern. Genau wie in der Türhüterparabel liegen sie verborgen und behindern die wahre Bedürfniserfüllung. Erst mit dem Erkennen dieser aus der Kindheit und über Generationen hinweg internalisierten Verbote, kann der Weg in die psychische Freiheit genommen werden. In der Türhüterparabel stirbt der Mann ohne Erkenntnis. Möglicherweise ist auch Kafka ohne Erkenntnis gestorben. Jeder kann es für sich ändern.


Allgemeine Interpretationsansätze der Türhüterparabel

Die Türhüterparabel ist eine kurze Erzählung in Franz Kafkas Werk Der Prozeß. Sie ist eine philosophische Allegorie, die tiefe Einsichten über das Leben, den Tod und die Suche nach Sinn vermittelt. Die Parabel ist durchdrungen von Symbolik und lässt Raum für vielfältige Interpretationen. Eines der offensichtlichsten Themen ist die menschliche Sehnsucht nach Sinn und Erfüllung im Leben. Der Mann vom Land repräsentiert die Suchenden, die sich auf die Reise begeben, um tiefere Bedeutung und Erkenntnis zu finden. Die verschlossene Tür symbolisiert dabei das unerreichbare Ziel, das viele Menschen im Laufe ihres Lebens anstreben.

Die Figur des Türhüters

Die Figur des Türhüters steht für die Barrieren, die uns im Leben begegnen können. Seine Rolle als Hüter des Gesetzes und der Wahrheit verdeutlicht, dass der Weg zu tieferer Erkenntnis oft von Autoritätspersonen oder festgelegten Strukturen blockiert wird. Die Tatsache, dass der Türhüter dem Mann später den Zutritt verwehrt, verdeutlicht möglicherweise, dass bestimmte Chancen im Leben nur zu bestimmten Zeiten verfügbar sind und dass Verzögerungen oder Zögern zu verpassten Gelegenheiten führen können.

Ein weiteres zentrales Element der Parabel ist die Zeit. Der Mann vom Land investiert einen beträchtlichen Teil seines Lebens in den Versuch, durch die Tür zu gelangen. Die langen Wartezeiten, das ständige Bemühen und die letztendliche Vergeblichkeit seines Unterfangens veranschaulichen die oft quälende und frustrierende Natur der Suche nach einem höheren Zweck.

Die Türhüterparabel kann auch als Kritik an bürokratischen Strukturen und institutionalisierter Autorität interpretiert werden. Der unzugängliche Charakter des Gesetzes und die Undurchsichtigkeit seiner Anforderungen spiegeln möglicherweise Kafkas eigene Erfahrungen mit der undurchdringlichen Natur der Bürokratie seiner Zeit wider.

Die Tatsache, dass der Türhüter die Tür für immer verschließt, wenn der Mann vom Land stirbt, wirft Fragen nach der Endlichkeit des Lebens und den verpassten Gelegenheiten auf. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Suche nach Sinn und Wahrheit nicht unendlich weitergeht, sondern dass es einen Punkt gibt, an dem sie endet.

Multiperspektivisch und ambivalent

In der Türhüterparabel scheint es keinen klaren Weg zum Ziel zu geben. Die Hindernisse sind zahlreich, und die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bleibt vage und schwer fassbar. Es könnte auch eine Aufforderung sein, den Wert des gegenwärtigen Moments zu erkennen und nicht ausschließlich auf eine ungewisse Zukunft zu fixieren.

Die Parabel lässt sich auch auf individueller Ebene interpretieren. Jeder Mensch hat seine eigene „Tür“ oder sein eigenes Ziel, das er im Leben erreichen möchte. Die Herausforderungen, Hindernisse und Entscheidungen, die auf dem Weg auftreten, sind oft unvorhersehbar und komplex. Der Versuch, die Tür zu öffnen, kann ein lebenslanger Prozess sein, der mit Unsicherheiten und Rückschlägen verbunden ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Türhüterparabel von Kafka eine tiefgehende Allegorie über die Suche nach Sinn, die Barrieren des Lebens und die Endlichkeit des Daseins ist. Sie regt zum Nachdenken über die Natur der menschlichen Existenz, die Bedeutung von Zeit und die Herausforderungen auf dem Weg zu persönlichem Wachstum und Erkenntnis an. Kafka lässt bewusst Raum für unterschiedliche Interpretationen, und die Parabel bleibt daher ein faszinierendes und zeitloses Werk, das Generationen von Lesern inspiriert hat.

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