Die erzählte Struktur von Trauma: Catch 22

Chaos oder Kalkül? Trauma und die narrative Struktur in Hellers Satire

Catch-22, by Joseph Heller, is not an entirely successful novel. It is not even a good novel. It is not even a good novel by conventional standards. But there can be no doubt that it is the strangest novel yet written about the United States Air Force in World War II. Wildly original, brilliantly comic, brutally gruesome, it is a dazzling performance that will probably outrage nearly as many readers as it delights. In any case, it is one of the most startling first novels of the year and it may make its author famous … Catch-22 is realistic in its powerful accounts of bombing missions with men screaming and dying and planes crashing. But most of Mr. Heller’s story rises above mere realism and soars into the stratosphere of satire, grotesque exaggeration, fantasy, farce and sheer lunacy. Those who are interested may be reminded of the Voltaire who wrote Candide and of the Kafka who wrote The Trial…“[1]

›Catch 22‹ ist nicht nur eine literarische Satire auf die Idiotie des Krieges oder ein Abbild von der Dummheit menschlichen Verhaltens in institutionell organisierten Hierarchien, sondern vor allem ein sarkastisches und sogar höhnisches Hohelied auf die Wonnen des Kapitalismus oder die ironische Lobpreisung des männlichen Machtmenschen an sich. Nein! Es ist auch und zuallererst der Bericht eines Überlebenden, der aufgrund seiner Erlebnisse im Krieg stark traumatisiert wird. Das erlebte Trauma ist in der chaotisch anmutenden Kapitelstruktur und den scheinbar nicht chronologisch aufeinanderfolgenden Handlungsabschnitten dargestellt.

Yossarian muss Bombeneinsätze über Italien fliegen und bangt um sein Leben - die pure Satire.

Den Tod vor Augen

Todesangst ist der ständige Begleiter des Protagonisten, wenn er immer und immer wieder neue Einsätze fliegen und Bomben abwerfen muss. Doch nicht nur beim befohlenen Luftangriff, wenn das eigene Flugzeug von den direkt neben dem harten Metall vorbeirauschenden feindlichen Geschossen knarzt und knackt, er verletzten Kameraden beim Sterben zusehen muss oder Bomber durch machtvoll-unsichtbare Hände plötzlich neben ihm aus der Luft geschnipst werden ist er von ängstlicher Ohnmacht erfüllt. Was Yossarián das blanke Entsetzen in die Glieder treibt, sind die Mordabsichten der eigenen Vorgesetzten, die ihn immer und immer wieder an die Front schicken, damit er ihm unbekannte Feinde mit herabfallenden Bomben tötet. Für Yossarián steht dabei außer Frage, dass seine Vorgesetzten seinen Tod billigend in Kauf nehmen – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.

Das Groteske an der Satire oder besser: Die gesamte Absurdität des menschlichen Daseins spiegeln sich in den bitterböse-komisch dargestellten Kriegsszenen und ihrem Dazwischen wider. Die Figuren sind dabei individuell und ähneln doch bestimmten Stereotypen, die jedem auch heute noch aus dem gesellschaftlichen Leben bekannt sind. Durch ihr Verhalten, ihr Reden, Tun und Unterlassen entblößen sie menschliche Mechanismen in der diskriminierenden Totalität bürokratischer Speichellecker und opportunistischer Machthungriger, wo Habgier und Geiz versteckt sind hinter vermeintlichen Hilfsleistungen und Gutmenschentum, das so auf absurde Weise desavouiert wird. Dies dient nicht der Verkehrung hin ins Lächerliche. Vielmehr handelt es sich bei Hellers literarischer Darstellungstaktik um eine Art semantischen Chiasmus, mit der die dargestellten Handlungen und Dialoge vor dem Setting des Zweiten Weltkrieges auf paradoxe Weise verrückt (im wahrsten Sinne des Wortes) werden. Aber gerade so wird Leserinnen und Lesern ermöglicht, die Absurdität des Dargestellten in ihrer ganzen Drastik zu erkennen und sie auf sämtliche Lebensbereiche des menschlichen Alltags zu jedweder Zeit zu projizieren.

Traumata verarbeiten

Was hat dies alles mit Trauma zu tun? „Ein Trauma (griech.: Wunde) ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine ‚seelische Verletzung’ verstehen.“[2] Dass der Krieg viele Überlebende ihr gesamtes nachfolgendes Leben lang traumatisiert und neben körperlich sichtbaren Wunden auch seelische Narben hinterlässt, ist nicht nur ein reales Faktum, sondern bereits seit der Antike in der Literatur auf vielfache Art und Weise thematisiert worden. Im Lexikon der Wissenschaft auf spektrum.de steht: „Wir wissen heute, daß nicht ‚Angst‘ oder ‚Streß‘ die traumatische Wirkung hervorrufen, sondern das Erlebnis von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe an bedrohliche Umwelteinflüsse. So ist Trauma das subjektiv unfaßbare Geschehen, das unser Selbst- und Weltverständnis dauerhaft erschüttern kann.“[3] Da Traumata die menschliche Psyche nachhaltig erschüttern, werden die Ereignisse ungeordnet und nicht strukturiert abgespeichert, häufig gibt es Erinnerungslücken, kommen die Erinnerungen erst nach und nach, möglicherweise erst mit einer konsequenten Aufarbeitung, ins Bewusstsein zurück.

Die Struktur der Psyche

In einigen Kritiken wurde Hellers Roman für seine verwirrende oder durcheinandergewürfelte Erzählzeit, die wahllos hin- und herzuschwenken scheint zwischen Vergangenheit und Gegenwart gerügt. Hinzu kommt der auktoriale Erzähler, der alles zu wissen scheint über jede in die Geschichte auf jedwede Weise involvierte Figur. Dieter Wunderlich schreibt in seinem Blog: „Statt eine durchgängige Handlung zu entwickeln, reiht Joseph Heller in „Catch 22“ groteske Episoden und Anekdoten aneinander. Dabei überzeichnet er die Figuren und Situationen karikaturhaft.“[4]

Er nimmt auch chiastische Wertungen vor, die zusammen mit dem von ihm dargestellten Erleben der Geschichte paradox erscheinen, doch grundlegend ihre eigene Logik haben. Die 42 Kapitel sind hauptsächlich nach Figuren benannt. Einige von ihnen erfahren sogar mit einem spezifischen Zusatz eine mehrmalige Nennung. Ausnahmen bilden die Städte-Kapitel ’Bologna‘ und ‘Die Ewige Stadt’ sowie ‘Thanksgiving’ und natürlich das nach dem Titel benanntes Kapitel. Nach und nach werden dem Leser die Yossariáns Freunde und Kameraden, Flirts und ernsthafte Liebschaften, Vorgesetzte und anderweitig mehr oder weniger undurchsichtige Gestalten vorgestellt.

Der Sinn in der satirischen Sinnlosigkeit?!

Dabei folgt die Satire (vermeintlich) keiner klaren chronologischen Linie. Nicht einmal die Kapitel sind chronologisch stringent aufgeteilt. Immer wieder finden sich inmitten der Kapitel versprengte Absätze, in denen dem Leser urplötzlich die gesamte Tragweite der Ereignisse offenbart wird, die hinter Yossariáns Verhalten steht und anhand derer Heller mit dem Stilmittel der Satire menschliche Abgründe und allgemein die paradoxe menschliche Dummheit in all ihren Facetten bloßstellt. Diese versprengten Absätze ähneln plötzlich auftauchenden Erinnerungsfetzen, die dem Traumatisierten mit voller Wucht ins Bewusstsein schießen. Was zunächst als scheinbar unstrukturierte und willkürlich durcheinandergewürfelte Erzählung anmutet, kann daher als Bericht eines Traumatisierten (hier ist es Yossarián bzw. bei einer tiefergehenden Analyse müsste man tatsächlich auch Joseph Heller als Autor selbst heranziehen) gelten. Als Erzählung eines Menschen, der eben aufgrund eines erlebten Traumas gar nicht stringent erzählen kann, es daher zu Erzählsprüngen kommt, die auch als Gedächtnislücken traumatischer Natur identifiziert werden können. Denn Yossarián lehnt sich auf gegen machthungrige Vorgesetzte und deren idiotische Anweisungen, gegen Ausbeutung und Unterdrückung und gegen den Befehl, sein Leben für den Krieg gegen ihm unbekannte Menschen in die Waagschale zu werfen.

Vorgehen

Zitiert werden soll zur allgemeinen Einführung der Klappentext aus meinem deutschen Exemplar. Allerdings werde ich die englischen Zitate für die Interpretationen verwenden.

„Krieg. Mittendrin Captain Yassarián, der neben dem großen – dem Weltkrieg – seinen kleinen Privatkrieg zu führen hat. Alles scheint sich gegen ihn verschworen zu haben: hier die feindliche Kriegsmaschinerie – dort schikanierende Vorgesetzte und sinnloses Reglement. Aber Yossarián gedenkt zu überleben.“[5]

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Quellen

Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 1999.
Joseph Heller: Catch-22. London 1962.
https://www.dieterwunderlich.de/Heller_catch_22.htm (c) Dieter Wunderlich (zuletzt abgerufen am 11.08.2023)
Fischer, Gottfried: ‘Trauma, psychisches’. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/trauma-psychisches/15725 (zuletzt abgerufen am 11.08.2023)
https://www.deutsche-traumastiftung.de/traumata/ (zuletzt abgerufen am 11.08.2023)


[1] Orville Prescott, The New York Times, October 23, 1961. online unter: https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/98/02/15/home/heller-catch.html (zuletzt abgerufen am 23.08.3023).
[2] https://www.deutsche-traumastiftung.de/traumata/ (zuletzt abgerufen am 11.08.2023).
[3] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/trauma-psychisches/15725 (zuletzt abgerufen am 11.08.2023).
[4] https://www.dieterwunderlich.de/Heller_catch_22.htm (c) Dieter Wunderlich (zuletzt abgerufen am 11.08.2023).
[5] Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 1999.


Dies ist Teil 1 der Serie „Textmosaik“, in der jeweils ein Buch in verschiedenen Beiträgen hinsichtlich verschiedener Elemente analysiert wird.

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