Sieben Minuten nach Mitternacht bzw. im Englischen A Monster Calls stammt aus dem Jahr 2011, wurde von Patrick Ness verfasst, basiert auf der Idee der verstorbenen Siobhan Dowd und ist mit Illustrationen von Jim Kay unterlegt. Das illustrierte Buch handelt von Trauer und Verlust, von Wut und Ohnmacht, davon, sich seinen Ängsten zu stellen, sich mit ihnen zu konfrontieren und sie zu akzeptieren, damit Heilung geschehen kann. Es geht also um die erzählerische Darstellung von Emotionen, Gedanken und Handlungen, die in spezifischen Situationen eine Rolle spielen und menschlich sind. Paul Ekman hat sieben Basisemotionen nachgewiesen, die in allen Kulturen erkannt werden können. Es handelt sich um Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Trauer und Überraschung (nett dazu übrigens der Animationsfilm Alles steht Kopf). Wut und Furcht sind die zwei Basisemotionen, die in Sieben Minuten nach Mitternacht eine Rolle spielen und die aufgrund ihrer kulturellen Unabhängigkeit jedem Menschen bekannt sein dürften (sofern es nicht spezifische Einschränkungen psychischer oder physischer Natur gibt). Und natürlich lassen sich offenkundig deutlich gezeigte Emotionen anhand der Mimik erkennen, kann Menschen mit aller Deutlichkeit etwas ins Gesicht geschrieben stehen. In der Kommunikation, im Zusammenleben, da kann es aber Missverständnisse geben hinsichtlich der Motivation hinter bestimmten Handlungen, hinter dem Gesagten, hinter gezeigten Emotionen.
Der Mensch – elsternfarben wie in Wolframs Parzival?
Es ist eine Frage, die Menschen wohl schon etwas länger beschäftigen. Ich will mich heute eigentlich nicht in langwierigen Ausschweifungen ergehen, von daher muss jetzt wegen der menschlichen Zwiespältigkeit die Elsternhaftigkeit Wolframs von Eschenbach Parzival als einführendes literarisches Beispiel dienen. Einführend in der Tat, denn die ersten Verse im Parzival handeln eben gerade vom farblichen Kontrast, den das Herz bzw. die Seele eines Menschen haben kann.
Ist zwîvel herzen nâchgebûr,
daz muoz der sêle werden sûr.
gesmæhet unde gezieret
ist, swâ sich parrieret
unverzaget mannes muot,
als agelstern varwe tuot.
der mac dennoch wesen geil:
wand an im sint beidiu teil,
des himels und der helle.
der unstæte geselle
hât die swarzen varwe gar,
und wirt och nâch der vinster var:
sô habet sich an die blanken
der mit stæten gedanken.
[…]
ouch erkante ich nie sô wîsen man,
ern möhte gerne künde hân,
welher stiure disiu mære gernt
und waz si guoter lêre wernt.
Wolfram von Eschenbach: Parzival (Band 1). Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kuhn. Frankfurt am Main 2006, V. 1,1-2,5-8.
Neuhochdeutsche Übersetzung
Wenn das Herz mit Zweifeln lebt,
so wird es für die Seele herb.
Häßlich ist es und ist schön,
wo der Sinn des Manns von Kraft
gemischt ist, farblich kontrastiert,
gescheckt wie eine Elster.
Und doch kann er gerettet werden,
denn er hat an beidem teil:
am Himmel wie der Hölle.
Der Freund der Unbeständigkeit:
Er ist völlig schwarz gefärbt
Und gleicht auch ganz der Finsternis;
dagegen hält sich an das Lichte,
der innerlich beständig ist.
[…]
Und doch: ich kenne keinen Klugen,
der nicht gerne wüßte, welchen Beitrag die Erzählung fordert,
um ihre Botschaft zu vermitteln.
Der Mensch wie eine Elster?
Natürlich ist die Elster eine Metapher, insbesondere die abgrenzende schwarz-weiß-Zeichnung der Elster. Würde man hier nur auf die geläufige Symbolik des diebischen Elstervogels eingehen, man würde nicht weit kommen. Aber um nun die Eingangsverse aus Wolframs Parzival in Beziehung zu setzen mit Sieben Minuten nach Mitternacht, ließe sich schlussfolgernd zunächst feststellen, dass die Farben Schwarz und Weiß symbolisch für deutlich abgrenzbare Kontraste stehen könnten. Gut und Böse etwa, Reinheit und Schuld oder Licht und Dunkelheit. Alleine schon mit diesen Begriffen tut sich ein weites Feld an Symboliken, Allegorien und Diskursen auf, die für jeden zeitgenössischen Kontext ihre eigene Bedeutung haben. Im Parzival wird dieser Begriff unter anderem dazu verwendet, um die gespaltene Natur oder die Ambivalenz von Figuren oder Situationen darzustellen. Nicht nur der Mensch an sich ist komplexer geschaffen hinsichtlich seiner Emotionen und Motive, auch die Situationen, denen er sich täglich stellen muss, die Entscheidungen, die er fällt und fällen muss, sind komplex und die daraus resultierenden Handlungen lassen sich vielleicht nicht immer als reines Weiß oder reines Schwarz, als nur gut oder absolut böse deklarieren. Die Elster ist insofern eine Metapher nicht nur für Dualität und Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur, sondern auch für den moralischen Kontrast, der mit den Entscheidungen, Handlungen und daraus resultierenden Konsequenzen einhergeht. Parzival lernt das (oder auch nicht, je nach Forschungsmeinung). Jedenfalls – die Botschaft der Geschichten, die das Monster dem 13-jährigen Conor erzählt, handeln von Figuren, deren Handlungen wie die der vielen Figuren im Parzival nicht nur als licht oder dunkel bezeichnet werden können. Und das ist nicht nur eine Verbindung zwischen den beiden Werken, sondern etwas, das alle Menschen gemein haben – immer noch! Und das ist auch das Thema in Sieben Minuten nach Mitternacht.
Die Zwiespältigkeit des Menschseins
Es ist nicht immer einfach, ein Mensch zu sein. Wenn schon das Zusammenleben oft an kleinen Missverständnissen scheitert, weil eben jeder durch seine eigene subjektive Brille schaut und vielleicht die Perspektive des anderen aufgrund eines unterschiedlichen Wissenstandes oder aber kulturell bedingter Unterschiede oder anderen Aspekten nicht einnehmen kann oder vielleicht auch gar nicht einnehmen will – wie schwierig wird es da erst für Menschen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, wenn doch andere nicht als adäquate Spiegel dienen können? Gibt es gute Menschen und böse Menschen überhaupt? Lässt sich diese grobe Einteilung, wie man sie aus Märchen kennt, auf das Leben übertragen? Verfällt man nicht leicht in diese klar kategorisierte Zweiteilung, wenn man wütend ist oder überwältigende Gefühle bewältigen muss? Was ist überhaupt Gut, was ist Böse? Kommt es nicht immer auf die jeweilige Situation an? Dazu gibt es interessante Gedankenexperimente wie etwa das Trolley-Problem, bei dem durch Weichenstellung entschieden werden kann, wie viele Menschen sterben werden. Aber derartige Überlegungen sind dann doch wieder zu weitschweifig. Zurück zu Sieben Minuten nach Mitternacht.
Worum geht es in Sieben Minuten nach Mitternacht?
Sieben Minuten nach Mitternacht (A Monster Calls) erzählt die Geschichte des 13-jährigen Conor O’Malley, der mit der Krankheit und dem möglichen Tod seiner Mutter konfrontiert wird. Conor hat Albträume und große Angst um seine Mutter. In der Schule kommt es zu Problemen, das Verhältnis zu seiner Großmutter ist angespannt und sein Vater lebt mit seiner neuen Familie in Amerika. Zu der Angst um die Mutter gesellen sich auch Gefühle der Unzulänglichkeit und Einsamkeit – und unbändige Wut. Eines Nachts, um genau sieben Minuten nach Mitternacht, erscheint ein Monster in Form eines riesigen, uralten Baumes bei Conor. Das Monster erklärt, dass es ihm drei Geschichten erzählen wird. Danach müsse Conor seine eigene Geschichte erzählen und zwar die Wahrheit. Die Thematik der Geschichten hinter den Geschichten in der Geschichte ist ein interessantes Motiv, das bereits bei Sara Pennypackers Mein Freund Pax für den Protagonisten Peter wichtig war. Die Geschichten haben keine richtige Moral (oder etwa doch?!), sie verweisen eher auf die bereits angesprochene Elsternhaftigkeit des Menschen. Soll Conor etwas aus den Geschichten in Sieben Minuten nach Mitternacht lernen?
[Conor] heard a strange rumbling, different from before, and it took him a minute to realize the monster was laughing.
You think I tell you stories to teach you lessons? The monstaer said. You think I have come walking out of time and earth itself to teach you a lesson in niceness?
It laughed louder and louder again, until the ground was shaking and it felt like the sky itself might tumble down.
Ness, Patrick: A Monster Calls. From an original idea by Siobhan Dowd. Illustrations by Jim Kay. London 2012, S. 73.
Übersetzung
[Conor] hörte ein seltsames Grollen, anders als zuvor, und es dauerte eine Minute, bis er begriff, dass das Monster lachte.
Du denkst, ich erzähle dir Geschichten, um dir Lektionen zu erteilen? sagte das Monster. Du denkst, ich bin aus der Zeit und der Erde selbst gekommen, um dir eine Lektion in Freundlichkeit zu erteilen?
Es lachte lauter und lauter, bis der Boden bebte und es sich anfühlte, als könnte der Himmel selbst herunterfallen.
Die erste Geschichte des Monsters in Sieben Minuten nach Mitternacht
Gleich die erste Geschichte hält die typischen märchenhaften Vertreter bereit: Ein alter König, der eine schöne junge Prinzessin heiratet und plötzlich dahinsiecht, wobei es Gerüchte um seine Ermordung durch seine Frau gibt, die in Wahrheit eine Hexe sei und ihn vergiftet habe. Der junge Prinz, der sich in eine Bauerstochter verliebt und mit ihr vor der angeblich machthungrigen Königin türmt, die ihn heiraten möchte, um die Macht zu sichern. Auf ihrer Flucht übernachten der Prinz und die Bauerstochter unter einem Baum. Als der Prinz aufwacht ist sie tot, ermordet. Der Prinz gibt der Königin die Schuld, versammelt das Volk um sich und ruft zu den Waffen, um die beschuldigte Hexe zu verbrennen. Das Monster hat jedoch als Baum, unter dem das Paar rastete, die Wahrheit gesehen, geht los und rettet die Königin vor dem wütenden Mob. Es stellt sich heraus, dass der Prinz selbst den Mord an seiner Geliebten durchgeführt hat. Er wusste bereits zu Lebzeiten seines Vaters, dass seine junge Stiefmutter eine Hexe war, konnte sie aber nicht alleine aus dem Weg räumen. Er opferte die Bauerstochter, um sich die Schlagkraft des Volkes zu sichern. Das Monster sah diese Ungerechtigkeit und half der Hexe, wobei sie und auch der Prinz lange lebten.
Conor kann das allerdings nicht ganz nachvollziehen. Sind Hexen etwa nicht immer böse? Gelten die allgemein bekannten Prinzipien von Märchen nicht für die Geschichten in Sieben Minuten nach Mitternacht?
„So the good prince was a murderer and the evil queen wasn’t a witch after all. …“ […]
No, no, the monster said, finally calming itself. The queen most certainly was a witch and could very well have been on her way to great evil. Who’s to say? She was trying to hold on to power, after all.
„Why did you save her then?“
Because what she was not, was a murderer. […]
„I don’t unterstand. Who’s the good guy here?“
There is not always a good guy. Nor is there always a bad one. Most people are somewhere inbetween.
Conor shook his head.“That’s a terrible story. And a cheat.“
It is a true strory, the monster said. Many things that are true feel like a cheat. Kingdoms get the princes they deserve, famer’s daughters die for no reason, and sometimes witches merit saving. Quite often, actually. You‘d be surprised.
Ness, Patrick: A Monster Calls. From an original idea by Siobhan Dowd. Illustrations by Jim Kay. London 2012, S. 73-74.
Übersetzung
„Also war der gute Prinz ein Mörder und die böse Königin war gar keine Hexe. …“ […]
Nein, nein, sagte das Monster, endlich beruhigt. Die Königin war ganz bestimmt eine Hexe und hätte sehr wohl auf dem Weg zu großem Übel sein können. Wer kann das schon sagen? Schließlich versuchte sie, an der Macht festzuhalten.
„Warum hast du sie dann gerettet?“
Weil sie kein Mörder war. …
„Ich verstehe nicht. Wer ist hier der Gute?“
Es gibt nicht immer einen Guten. Ebenso wenig gibt es immer einen Bösen. Die meisten Menschen liegen irgendwo dazwischen.
Conor schüttelte den Kopf. „Das ist eine schreckliche Geschichte. Und ein Betrug.“
Es ist eine wahre Geschichte, sagte das Monster. Viele Dinge, die wahr sind, fühlen sich wie Betrug an. Königreiche bekommen die Prinzen, die sie verdienen, Bauerntöchter sterben ohne Grund und manchmal verdienen Hexen es, gerettet zu werden. Ziemlich oft sogar. Du würdest dich wundern.
Gäbe es eine Moral, dieser Geschichte, entgegen der Aussage des Monsters, so würde sie etwa wie folgt lauten können: Menschen und Situationen sind nicht immer so, wie sie scheinen. Die Wahrheit ist nicht Schwarz oder Weiß, sie ist komplexer, als es oftmals scheint. Wie schon Wolfram von Eschenbach wusste.
Die zweite Geschichte des Monsters in Sieben Minuten nach Mitternacht
In einer kleinen Stadt lebte ein Apotheker, der sehr weise war, aber auch als hartherzig und gierig galt. Er besaß eine Apotheke und einen wunderschönen Heilgarten voller wertvoller Kräuter und Pflanzen. Obwohl er so viele Heilmittel besaß, war er bekannt dafür, Menschen in Not abzuweisen, wenn sie nicht zahlen konnten. In derselben Stadt lebte ein Pfarrer, der für seine Güte und seine Fürsorge für die Gemeinde bekannt war. Es wurde für den Apotheker immer schwieriger Heilkräuter aus der Natur zu bekommen. Auf dem Grundstück des Pfarrers stand ein Eibenbaum, aus dem er viele Heilmittel herstellen könnte. Dafür müsste die Eibe gefällt werden, doch der Pfarrer erlaubte dies nicht und predigte stattdessen gegen die Heilkunst des Apothekers und für die Heilkraft des Glaubens. Der Pfarrer hatte zwei junge Töchter, die er über alles liebte. Eines Tages wurden beide schwer krank. Der Pfarrer betete und flehte Gott um Hilfe an, aber es wurde schlimmer. In seiner Verzweiflung ging er schließlich doch zum Apotheker und bat um Hilfe. Um seine Töchter zu retten, würde er alles aufgeben, er würde für den Apotheker predigen, ihm auch die Eibe überlassen und er würde sogar seinen eigenen Glauben aufgeben, damit der Apotheker seine Töchter heilte. Der Apotheker sah seine Chance, dem Pfarrer eine Lektion zu erteilen und lehnte ab. Die Töchter starben in dieser Nacht. Das Monster setzte sich daraufhin in Bewegung und zerstörte das Haus des Pfarrers.
Selbstsucht und Furcht
Conor ist verwundert. Warum der Pfarrer und nicht der Apotheker, der doch so vielen Menschen hätte helfen können, aber zu geizig war? Der Pfarrer habe nicht an den Apotheker geglaubt, so das Monster. Er habe die Gemeinde gegen den Apotheker aufgebracht und war in der Not bereit, seinen Glauben sofort aufzugeben. Jeder hätte das gemacht, empört sich Conor. Er hätte dem Apotheker die Eibe sofort überlassen sollen, so das Monster.
„But it would have killed the tree and made him rich!“ Conor yelled. „He was evil!“
He was greedy and rude and bitter, but he was a healer. The parson, though, what was he? He was nothing. Belief ist half of all healing. Belief in cure, belief in the future that awaits. And here was a man who lived on belief, but who sacrificed it at first challenge, right when he needed it the most. He believed selfishly and fearfull. And it tool the lives of his daughters.
Conor grew angrier. „You said this was a story without tricks.“
I said this was the story of a man punished for his selishfness. And so it is.
Ness, Patrick: A Monster Calls. From an original idea by Siobhan Dowd. Illustrations by Jim Kay. London 2012, S. 119.
Übersetzung
„Aber es hätte den Baum getötet und ihn reich gemacht!“ schrie Conor. „Er war böse!“
Er war gierig und unhöflich und verbittert, aber er war ein Heiler. Der Pfarrer jedoch, was war er? Er war nichts. Glaube ist die Hälfte aller Heilung. Glaube an die Heilung, Glaube an die Zukunft, die einen erwartet. Und hier war ein Mann, der vom Glauben lebte, aber ihn beim ersten Hindernis opferte, gerade als er ihn am dringendsten brauchte. Er glaubte selbstsüchtig und ängstlich. Und es kostete das Leben seiner Töchter.
Conor wurde wütender. „Du hast gesagt, das sei eine Geschichte ohne Tricks.“
Ich habe gesagt, das sei die Geschichte eines Mannes, der für seine Selbstsucht bestraft wurde. Und das ist sie auch.
Gibt es vielleicht auch in der zweiten Geschichte eine Moral?
Deutlich wird hier der Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft, Prinzipien und Pragmatismus. Starrheit und Unnachgiebigkeit in Überzeugungen können zu tragischen Konsequenzen führen. Der Pfarrer glaubte ausschließlich an die Kraft des Glaubens. Der Apotheker achtete nur auf seinen Profit und setzte seine Kenntnisse nicht zum Wohle anderer ein. Die Geschichte lehrt, dass wahre Weisheit in der Balance zwischen Glauben und Wissen, Prinzipien und Mitgefühl liegt. Ich persönlich kann mich schlecht in diese Situation hineinversetzen und finde die Drastik der Umstände sehr hart. Der Pfarrer verliert gleich seine Töchter, sein Haus und gibt noch seinen Glauben auf. Vielleicht, so könnte man es deuten, ist dies dann gerade so gedacht – wer den Glauben aufgibt, wegwirft quasi, der hat schon verloren, weil er keine Prinzipien hat. Wie viel wert also konnte sein Glauben sein, wenn er ihn einfach so wegwarf? Der Glauben des Pfarrers war demnach mehr Schein als Sein, nicht echt und er war der Gemeinde kein gutes Vorbild, weil er nicht selbst an das glaubte, was er predigte. In der größten Not gab er den Glauben auf. Ja, dann ergibt die Geschichte auch Sinn.
Des Menschen Wunsch nach dem Gesehenwerden
Wenn dich niemand sieht, existierst du dann überhaupt? Das ist eine Frage, die das Monster Conor stellt. Es ist eine existenzielle Frage, die sich auch in allen möglichen Arten von Gedankenexperimenten stellen lässt. Wenn ein Baum im Wald umfällt und niemand da ist, der es hört, gab es dann ein Geräusch usw. Es sind philosophische Fragen, die sich mit der Wirklichkeit der Wahrnehmung beschäftigen, der Subjektivität des Individuums und seiner Wahrnehmung der Welt. Es geht aber auch um das Wahrgenommenwerden des Individuums. Es geht um das Selbstbild und das, was andere sehen zu glauben oder projizieren oder sehen wollen oder eben überhaupt nicht wahrnehmen. Vielleicht, weil sie es nicht können, im schlimmsten Fall, weil sie es nicht wollen aus den unterschiedlichsten Gründen. Nicht von anderen in seinem wahren Selbst, mit seiner Identität wahrgenommen zu werden, nicht erkannt zu werden, für den, der man ist, das ist sehr schmerzhaft. Denn Menschen möchten erkannt, anerkannt und wahrgenommen werden. Das ist eine anthropologische Konstante. Und genau darum geht es ganz allgemein gesprochen in Sieben Minuten nach Mitternacht.
Die dritte Geschichte des Monsters in Sieben Minuten nach Mitternacht
Die dritte Geschichte jedenfalls handelt von einem unsichtbaren Mann. Er war nicht wirklich unsichtbar, die Menschen hatten nur aufgehört, ihn zu sehen. Und eines Tages entschied der Mann, dass er die Menschen dazu bringen würde, ihn zu sehen. Und er rief ein Monster. Das Monster sollte die Sichtbarkeit wiederherstellen. Und es machte den Mann sichtbar, doch die Menschen, die ihn jetzt sahen hatten Angst vor ihm und begegneten ihm mit Abwehr. Er wollte gesehen werden, um jeden Preis. Je mehr er versuchte, gesehen zu werden, desto weniger sichtbar wurde er. Ein Monster, die Wut, übernimmt auch Conors Körper, damit er niemals wieder nicht gesehen wird.
Selbstreferenzialität der Geschichten
Das Monster ist Conors eigene Angst, die ihn fest im Griff hält. Jede Geschichte hat auf die eine oder andere Weise mit ihm zu tun. So auch die dritte Geschichte in Sieben Minuten nach Mitternacht. Denn wie das Monster in der zweiten Geschichte das Haus des Pfarrers zerstört, so zerstört Conor die Einrichtung im Haus seiner Großmutter. Sein Vater, der extra angereist ist, nimmt dies hin, so als sei nichts geschehen. Conor wird nicht einmal gerügt, so als wäre es egal. In der Schule kommt es zu einem Konflikt, bei dem Conor seinen Mitschüler Harry krankenhausreif schlägt, nachdem dieser ihn aufgezogen hat, dass er ihn nicht sehen würde. Man könnte hier wieder auf die Elsternhaftigkeit zurückkommen.
Conors Geschichte in Sieben Minuten nach Mitternacht
Die vierte Geschichte handelt von Conors schlimmstem Albtraum: Ein Abgrund tut sich unter ihm und seiner Mutter auf und er versucht sie festzuhalten. Doch sie wird immer schwerer und schwerer. Und dann fällt sie in den Abgrund. Das Monster konfrontiert ihn: Er habe seine Mutter losgelassen, doch Conor entgegnet immer wieder, sie sei gefallen. Nur die Wahrheit werde ihn aus dem Albtraum holen, erklärt das Monster.
You could have held on for longer, the monster said, but you let her fall. You loosened your grip and let the nightmare take her.
Conor nodded again, his face scrunched up with pain and weeping.
You wanted her to fall.
„No,“ Conor said through thick tears.
You wanted her to go.
„No!“
You must speak the truth and you must speak it now, Conor O’Malley. Say it. You must.
„It’ll kill me if I do,“ he gasped.
[…]
Why, Conor? The monster said fiercly. Tell me WHY! Before it is too late!
[…]
„I can’t stand it anay more! He cried out as the fire raged around him. „I can’t stand knowing that she’ll go! I just want it to be over! I want it tob e finished!“
Ness, Patrick: A Monster Calls. From an original idea by Siobhan Dowd. Illustrations by Jim Kay. London 2012, S. 197-198.
Übersetzung
Du hättest länger durchhalten können, sagte das Monster, aber du hast sie fallen lassen. Du hast deinen Griff gelockert und den Albtraum sie holen lassen.
Conor nickte wieder, sein Gesicht vor Schmerz und Weinen verzerrt.
Du wolltest, dass sie fällt.
„Nein,“ sagte Conor durch dicke Tränen.
Du wolltest, dass sie geht.
„Nein!“
Du musst die Wahrheit sagen, und du musst sie jetzt sagen, Conor O’Malley. Sag es. Du musst.
„Es wird mich umbringen, wenn ich es tue,“ keuchte er.
Warum, Conor? sagte das Monster heftig. Sag mir WARUM! Bevor es zu spät ist!
„Ich halte es nicht mehr aus!“ rief er, während das Feuer um ihn tobte. „Ich halte es nicht aus, zu wissen, dass sie gehen wird! Ich will nur, dass es vorbei ist! Ich will, dass es zu Ende ist!“
Conor wünscht sich insgeheim, dass der Leidensweg seiner Mutter endet. Er hat Schuldgefühle deswegen, weil sich seine Wünsche widersprechen. Er will, dass seine Mutter lebt, kann aber den Zustand nicht ertragen. Das Monster konfrontiert ihn immer sieben Minuten nach Mitternacht mit seinen tiefsten Ängsten, nicht um ihn zu quälen oder zu ängstigen, sondern um ihm zu helfen, damit er seine Gefühle akzeptieren kann. Daher rührt wohl auch die deutsche Übersetzung. Und die Uhrzeit hat eine tiefere Bedeutung in Sieben Minuten nach Mitternacht, die ich jetzt aber nicht preisgeben will.
Sich den eigenen Gefühlen stellen und sie akzeptieren
Es hört sich nicht schwierig an, wenn in Büchern davon zu lesen ist, in Form der Parabel oder als Metapher oder als Erzählung in Erzählungen. Es hört sich leicht an, so als könne es jeder. Doch die Wahrheit ist, es ist verdammt schwer, sich seine tiefsten Gefühle einzugestehen. Vor allem, wenn sie nicht mit den eigenen Idealen übereinstimmen, wenn sie sich sogar gegen innige Wünsche richten, wenn sie sich gegen geliebte Menschen richten. Wie soll man den Mut aufbringen, sich diese Gedanken einzugestehen, sie zu akzeptieren?
Ein abschließendes langes Zitat aus Sieben Minuten nach Mitternacht
Conor’s grief was a physical thing, gripping him like a clamp, clenching him tight as a muscle. He could barely breathe from the sheer effort of fit, and he sank to the ground again, wishing it would just take him, one and for all.
He faintly felt the huge hands of the monster pick him up, forming a little nest to hold him. He was only vaguely aware of the leaves and branches twisting around him, softening and widening to let him lie back.
„It’s my fault,“ Conor said. „I let her go. It’s my fault.“
It is not your fault, the moster said, its voice floating in the air around him like a breeze.
„It is.“
You were merely wishing for the end of pain, the monster said. Your own pain. An end to how it isolated you. It is the most human wish of all.
„I didn’t mean it,“ Conor said.
You did, the moster said, but you also did not.
Conor sniffed and looked up to its face, which was as big as a wall in front of him. „How can both be true?“
Because humans are complicated beasts, the moster said. How can a queen be both a good witch and a bad witch? How can a prince be a murderer and a saviour? How can an apothecary be evil-tempered but right-thinking? How can a person be wrong-thinking but good-hearted? How can invisible men make themselves more lonely by being seen?
„I don’t know, „Conor shrugged, exhausted. „Your stores never made any sense to me.“
The answer is that it does not matter what you think, the moster said, because your mind will contradict itself a hundred times each day. You wanted her to go at the same time you were desperate for me to save her. Your mind will believe comforting lies while also knowing the painful truths that make those beliefs necessary. And your mind will punish you for believing both.
„But how do you fight?“ Conor askes. His voice rough. „How do you fight all the different stuff inside?“
By speaking the truth, the monster said. As you spoke it just now.
Conor thought again of his mother’s hands, of the grip as he let go.
Stop this. Conor O’Malley, the monster said, gently. This ist why I came walking, to tell you this so that you may heal. You must listen.
Connor swallowed again. „I’m listening.“
You do not write your life with words, the moster said. You write it with actions. What you think is not important. It is only important what you do.
There was a long silence as Conor re-caught his breath.
„So what do I do?“ he finally asked.
You do what you did just now, the monster said. You speak the truth.
„That’s it?“
You think it is easy? The monster raised two enormous eyebrows. You were willing to die rather than speak it.
Conor looked down at his hands, finally unclenching them.
„Because what I thought was so wrong.“
It was not wrong, the moster said, It was only a thought, one of a million. It was not an action.
Ness, Patrick: A Monster Calls. From an original idea by Siobhan Dowd. Illustrations by Jim Kay. London 2012, S. 200-202.
Übersetzung
Conors Trauer war etwas Physisches, das ihn wie eine Klammer packte, ihn so fest umklammerte wie ein Muskel. Er konnte kaum atmen vor lauter Anstrengung, und er sank wieder zu Boden, wünschte sich, es würde ihn einfach mitnehmen, ein für alle Mal. Er fühlte schwach die riesigen Hände des Monsters, die ihn aufhoben und ein kleines Nest formten, um ihn zu halten. Er nahm nur vage wahr, wie sich die Blätter und Zweige um ihn drehten, weich wurden und sich weiteten, um ihn zurücklehnen zu lassen.
„Es ist meine Schuld“, sagte Conor. „Ich habe sie losgelassen. Es ist meine Schuld.“
Es ist nicht deine Schuld, sagte das Monster, seine Stimme schwebte wie eine Brise um ihn herum.
„Doch, ist es.“
Du hast dir nur das Ende des Schmerzes gewünscht, sagte das Monster. Deinen eigenen Schmerz. Ein Ende der Isolation. Es ist der menschlichste Wunsch von allen.
„Ich meinte es nicht so“, sagte Conor.
Doch, das hast du, sagte das Monster, aber gleichzeitig auch nicht.
Conor schniefte und blickte zu dem Gesicht des Monsters auf, das so groß wie eine Wand vor ihm war. „Wie können beide wahr sein?“
Weil Menschen komplizierte Wesen sind, sagte das Monster. Wie kann eine Königin sowohl eine gute Hexe als auch eine böse Hexe sein? Wie kann ein Prinz sowohl ein Mörder als auch ein Retter sein? Wie kann ein Apotheker übelgelaunt, aber wohlmeinend sein? Wie kann ein Mensch falsch denken, aber ein gutes Herz haben? Wie können unsichtbare Männer sich noch einsamer machen, indem sie gesehen werden?
„Ich weiß nicht“, zuckte Conor erschöpft mit den Schultern. „Deine Geschichten haben für mich nie einen Sinn ergeben.“
Die Antwort ist, dass es nicht darauf ankommt, was du denkst, sagte das Monster, weil dein Verstand sich hundertmal am Tag widersprechen wird. Du wolltest, dass sie geht, während du gleichzeitig verzweifelt wolltest, dass ich sie rette. Dein Verstand wird tröstende Lügen glauben, während er gleichzeitig die schmerzhaften Wahrheiten kennt, die diese Lügen notwendig machen. Und dein Verstand wird dich dafür bestrafen, dass du beides glaubst.
„Aber wie kämpfst du dagegen an?“ fragte Conor rau. „Wie kämpfst du gegen all das verschiedene Zeug in dir?“
Indem du die Wahrheit sprichst, sagte das Monster. So wie du es gerade getan hast.
Conor dachte wieder an die Hände seiner Mutter, an den Griff, als er losließ.
Hör auf damit, Conor O’Malley, sagte das Monster sanft. Deshalb bin ich gekommen, um dir das zu sagen, damit du heilen kannst. Du musst zuhören.
Conor schluckte erneut. „Ich höre zu.“
Du schreibst dein Leben nicht mit Worten, sagte das Monster. Du schreibst es mit Taten. Was du denkst, ist nicht wichtig. Es ist nur wichtig, was du tust.
Eine lange Stille folgte, während Conor wieder zu Atem kam.
„Also, was soll ich tun?“ fragte er schließlich.
Du tust, was du gerade getan hast, sagte das Monster. Du sprichst die Wahrheit.
„Das ist alles?“
Du denkst, das ist einfach? Das Monster hob zwei riesige Augenbrauen. Du warst bereit zu sterben, anstatt sie zu sprechen.
Conor blickte auf seine Hände, die sich endlich entspannten.
„Weil das, was ich dachte, so falsch war.“
Es war nicht falsch, sagte das Monster. Es war nur ein Gedanke, einer von Millionen. Es war keine Tat.
Die Geschichten des Monsters in Sieben Minuten nach Mitternacht und Conors Leben
Am Ende steht Conor seiner Mutter im Krankenhaus bei, als sie stirbt, und hält ihre Hand. Am Ende muss er sie loslassen, die Hand an sich und auch den Gedanken an sie, damit er selbst weiterleben kann. Das Thema ist hart, besonders für Kinder und Jugendliche. Wie soll man so etwas angemessen erzählen und dem Ganzen auch noch eine etwaige Moral unterlegen, einen Sinn? Sieben Minuten nach Mitternacht ist eine kraftvolle Geschichte über Trauer, Verlust und die heilende Kraft der Wahrheit sowie der Annahme der eigenen Gefühle. Nicht nur Kinder und Jugendliche sind angesprochen, auch Eltern und Erwachsene im Allgemeinen. Tod, Trauer, Wut, Ohnmacht und Verzweiflung – das geht jeden Menschen etwas an, auf die eine oder andere Weise eben früher als andere. Und jeder wird alle Perspektiven irgendwann einmal kennenlernen.
Der Film Sieben Minuten nach Mitternacht von 2016
Ein Film hat natürlich andere Darstellungsmittel als ein Buch oder Illustrationen. Der Film Sieben Minuten nach Mitternacht wurde 2016 unter der Regie von J.A. Bayona verfilmt, das Drehbuch stammt wie auch das Buch von Patrick Ness. Liam Neeson leiht seine Stimme dem Monster, Conor wird von Lewis MacDougall gespielt, Sigourney Weaver spielt Conors Großmutter und Felicity Jones ist Conors Mutter, den Vater spielt Toby Kebbell. Conors Beziehung zur Großmutter und zu seinem Vater werden ausführlicher behandelt als im Buch und dank der aktuellsten Animationstechnik, können auch das Monster und die einzelnen Geschichten kraftvoll visuell in Szene gesetzt werden. Es gibt auch Szenen in Sieben Minuten nach Mitternacht, die das Ende nach dem Tod von Conors Mutter zeigen, im Buch fehlt dies. Ich denke, das ist der Dramatik geschuldet. Im Film wird die Verknüpfung des Monsters mit Conor deutlicher als im Buch, wo das Monster primär der Geschichtenerzähler ist, während es im Film direkt mit Conor, seinen Ängsten und Gefühlen inszeniert wird. Das bleibt im Buch ebenfalls eher der Imagination der Leserinnen und Leser überlassen. Insgesamt bleibt die Verfilmung von Sieben Minuten nach Mitternacht dem Kern der Buchvorlage treu, verändert und erweitert jedoch bestimmte Aspekte. Dies kommt der Geschichte zugute, da sie im visuellen Medium Film ästhetisch wirkungsvoll erzählt wird.
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Bildquellen
- Sieben-Minuten-nach-Mitternacht: Text von Patrick Ness. Die ursprüngliche Idee stammt von Siobhan Dowd, die Illustrationen sind von Jim Kay.