Catch 22 von Joseph Heller ist eines meiner Lieblingsbücher. Nicht so, wie Michael Endes Die unendliche Geschichte, aus der man zu jeder Zeit in jedem Lebensalter neue Erkenntnisse über das Leben gewinnen kann. Nicht so, wie Jane Austens Stolz und Vorurteil, das ich manchmal lese, weil ich irgendwo doch Romantikerin bin. Nicht so, wie Chimamanda Ngozi Adichies Americanah, das ich bewundere, weil es so klug ist. Und auch nicht so, wie Dante Alighieris Göttliche Komödie oder Umberto Ecos Der Name der Rose oder Giovanni Boccaccios Dekameron oder Sebastian Brants Narrenschiff, die alle für sich genial sind wie die Werke vieler anderer auch, erstellt von Dichtern und Autoren, die viel über die Zustände ihrer Zeit zu sagen hatten und die das auf eine sehr brillante Art und Weise getan haben. Und Catch 22 muss für dieses Mal herhalten, weil ich momentan (neben den Unmengen an Ideen, die mir vorschweben) an einer umfangreicheren Studie über die Schöpferkraft des Autors als Gott seiner Welt im Zusammenhang mit dem Tod, der Verflochtenheit von Realität und Fiktion und der Verantwortung des Autors bzw. des Lesers für das Erschaffene bzw. Gelesene am Beispiel von John Greens The Fault in Our Stars arbeite. Das ist ein Jugendbuch und nicht nur einem breiten Lesepublikum bekannt, sondern es lassen sich die genannten und viele andere literaturwissenschaftliche, kulturelle, psychologische und theologische Aspekte darin analysieren. Das wird spannend! Und irgendwie will ich auch noch den Fremdheits- und Gespensteressay von Sturmhöhe dazwischenquetschen. Aber eine Beschäftigung mit Catch 22 wird nie langweilig. Vielleicht geht es anderen ja genauso.
Catch 22 – eine ewig gültige Gesellschaftsstudie
Joseph Hellers Kriegssatire Catch 22 erschien bereits 1961. Doch ich finde, es ist ein Gesellschaftsroman, ein Roman, der mit seinen Figuren ein breites Spektrum von in der Gesellschaft bekannten Stereotypen zeichnet, die jeder irgendwie aus dem Alltag kennt (immer noch). In diesem Sinne ähnelt der Roman meiner Ansicht nach Voltaires Candide oder Schachingers Echtzeitalter. Es ist ein zynisches Bild, dass Joseph Heller malt. Er darf das, denke ich. Sein Schicksal ist eng mit dem Geschehen im Roman verknüpft. Er ist selbst als Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg sehr viele Einsätze geflogen und hat durch sein Schreiben ein traumatisches Erlebnis verarbeitet. Catch 22 ist ein Buch, bei dem ich viel gelacht habe. Obwohl eigentlich nicht lustig war, was beschrieben wurde, aber das Wie, das ist bitter-ernst, bitter-komisch, bitter-tragisch und vor allem bitter-wahr. Gerade darum konnte ich, kann ich wohl lachen (immer noch). Allzuwahr. Allzumenschlich. Und Heller ist böse. Aber gerecht. Es ist ein Querschnitt durch die zeitgenössische Gesellschaft mit ihrer conditio humana.
Catch 22 – eine kurze Zusammenfassung
Catch-22 von Joseph Heller ist eine Satire, die während des Zweiten Weltkriegs spielt und die Absurdität des Krieges und der Bürokratie bloßstellt. Die Handlung dreht sich um den amerikanischen Flieger Captain John Yossarian, der sich in einem italienischen Luftwaffenstützpunkt befindet. Yossarian versucht verzweifelt, den gefährlichen Flugeinsätzen zu entkommen, indem er sich für verrückt erklären lassen will. Doch die militärischen Vorschriften enthalten ein fatales Catch 22: Jeder, der den Einsatz von Bomben als gefährlich empfindet und deshalb als verrückt gilt, ist vernünftig genug, nicht zu fliegen. Doch wer nicht fliegen will, um sein Leben zu retten, zeigt damit, dass er nicht verrückt ist und fliegen kann. Catch 22 – dieser Begriff ist durch den Roman vor allem in den USA zum geflügelten Wort geworden und wird immer dann verwendet, wenn es um Situationen geht, die wegen widersprüchlicher Anweisungen nicht zu lösen sind, also als Synonym für eine paradoxe, ausweglose Situation. Der Roman Catch 22 jedenfalls folgt Captain Yossarian und seinen Kameraden in der absurden Welt des US-Militärs voller widersprüchlicher Regeln, Bürokratie, sinnloser Anweisungen, aus denen sich auch Todesfälle ergeben. Enthüllt werden auch die korrupten Machenschaften der militärischen Führung im Zusammenhang mit Unternehmertum und Kapitalismus, die den Krieg vorantreiben sowie die zunehmende Entfremdung der Soldaten von ihren Idealen und ihrer Menschlichkeit. Prinzipiell offenbart Hellers Roman allgemeingültige anthropologische Mechanismen. Trotz des Chaos und der Grausamkeit des Krieges versucht Yossarian, sein Leben zu retten und seinen Sinn für Moral und Menschlichkeit zu bewahren. Catch 22 ist bekannt für seinen schwarzen Humor und seine scharfsinnige Kritik an den Absurditäten des Krieges und der Gesellschaft. Der Roman ist ein Klassiker der Weltliteratur und hat seine Daseinsberechtigung unter den ganz großen Werken des 20. Jahrhunderts. Absolute Leseempfehlung meinerseits! Der Film von 1970 hat meines Erachtens enorme Schwachstellen, die Serie von 2019 setzt die Thematik besser um. Das Buch ist aber unangefochten in seiner Darstellungsweise der Absurdität im gesellschaftlichen Miteinander.
Zum Autor Joseph Heller
Das ›Kindler Literatur Lexikon‹ beschreibt das Leben von Joseph Heller (geb. 1.5.23 in New York, gest. 13.12.1999 in East Hampton) kurz und bündig:
„Im Zweiten Weltkrieg Bomberpilot; nach literaturwissenschaftlichem Studium und einer kurzen Anstellung als Professor an der Pennsylvania State University Wechsel in die Werbebranche; zunächst Autor von Kurzgeschichten, 1961 großer Erfolg mit dem ersten Roman Catch-22, an den er mit späteren Werken nicht anknüpfen konnte; ab den frühen 1980ern stark geschwächt durch das Guillain-Barre-Syndrom.“[4] Ich ergänze das noch etwas.
Joseph Heller war ein US-amerikanischer Schriftsteller und wurde am 1. Mai 1923 in Brooklyn, New York, geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf, die unter bescheidenen Verhältnissen lebte. Heller studierte an der University of Southern California und der New York University, bevor er während des Zweiten Weltkriegs als Bombenschütze in der US-Armee diente, wo er 60 Kampfeinsätze in Europa flog [Parallelen zu Catch 22 sind vorhanden – entgegen einiger Fachmeinungen sind Roman und Autorenbiografie durchaus verbunden!]. Nach dem Krieg setzte Joseph Heller seine Ausbildung an der Columbia University fort und besuchte später das Oxford University als Fulbright-Stipendiat. Er arbeitete danach als Werbetexter und Dozent, schrieb nebenbei an seinen literarischen Werken. 1961 kam mit der Kriegssatire Catch 22 der Durchbruch. Joseph Heller schrieb weitere Romane, darunter Something Happened (1974), Good as Gold (1979), God Knows (1984), Picture This (1988) und Closing Time (1994). Er starb am 12. Dezember 1999 in East Hampton, New York.
Autobiografische Aufarbeitung in Catch 22
Tatsächlich sind viele Inhalte und sogar konkrete Textpassagen aus Catch 22 autobiografisch. Heller war 2nd Lt. der 340th Bombardment Group des 488th Squadron und hat 60 Einsätze fliegen müssen. Eine Szene, die auch für die Hauptfigur Yossarian traumatisch ist, hat Heller selbst erlebt und in seinem Buch verarbeitet. Er wurde allerdings dafür kritisiert, nicht realistisch über die Figuren in seinen Werken zu schreiben. „‘One might say that [early trauma], never fully faced, led to a certain hollowness, which became a part of [his literary] style … an unbearable lightness ballasted by melancholy“’[5], schrieb ein Rezensent. Nun, dem stimme ich nicht zu. Aber zur Struktur von Trauma in Catch 22 habe ich mich bereits in einem anderen Beitrag geäußert. Es liegt nicht an der Verwirrtheit des Autors, das vermeintliche Chaos der fiktionalen Chronologie wird angeglichen an den psychischen Zustand des Traumas, in dem der Protagonist Yossarian sich nach einem einschneidenden Erlebnis befindet. Die Welt gerät aus den Fugen, das zeigt sich im Roman. Das ist genial, nicht unlogisch, sondern in der Situation absolut logisch!
Catch 22 – wie bin ich dazu gekommen?
Es gab da einst diese Teenieserie Dawson’s Creek, in der eine Gruppe Außenseiter von der Schule bis ins Studium und ins weitere Leben durch Höhen und Tiefen geht. Ja, ich habe so etwas geguckt. Interessant wäre diesbezüglich die Selbstreferenzialität der Hauptfigur Dawson, der als Regisseur am Ende der Serie eine Serie dreht, die sein Leben und das seiner Freunde eins zu eins abbildet und auch The Creek heißt. Ein mise en abyme, die Serie in der Serie, das Leben der Figuren in der Serie im Film. Die Figur kann dort Korrekturen vornehmen, Dawson kann seine eigene Geschichte seinen Vorstellungen entsprechend umschreiben! Sehr spannend, diese Thematik und vielleicht ein Thema für ein andermal. Es gab eine weibliche Hauptfigur, Joey (Josephine) Potter. Joey schaffte es trotz ihrer Herkunft mit viel Fleiß durch ein Stipendium an die Universität und war ziemlich intelligent. Doch problematisch war, dass sie nicht den familiären Hintergrund hatte, den Elitestudenten sonst haben. Der Vater ein Krimineller, die Mutter verstorben, die Schwester liiert mit einem Schwarzen und auch noch schwanger von ihm, ein uneheliches Kind. Jedenfalls schaffte sie es bis an die Universität. Sie belegte in ihrem Studium ein Seminar über Literatur. Ich habe die Figur deswegen sehr beneidet. Denn als ich die Serie gesehen habe, da hatte ich noch nicht studiert. Aber ich habe ihr Literaturstudium verfolgt. Lolita, Letzte Ausfahrt Brooklyn, Kafkas Werke (natürlich) und auch Catch 22 wurden genannt.
Figuren über Figuren reden lassen – Funktionale Intertextualität
Und weil ich diesen Beitrag im Rahmen meiner Zitiert-Reihe einstelle, zitiere ich die Figuren aus Dawsons Creek, wie sie Catch 22 zitieren. Die Episode heißt übrigens auch Catch 22. Joey muss einen Essay als Prüfungsleistung für Professor Hetson über Catch 22 schreiben. Zu Beginn der Episode (es müsste die 20. Episode von Staffel 6 sein) spricht sie mit ihrem Freund Eddie darüber und gibt die im Literaturseminar besprochenen Inhalte wieder. Ihr Freund rät ihr, doch lieber eigenständig zu denken, doch Joey will keine Risiken eingehen, was die Prüfung betrifft. Am Ende der Folge spricht Joey dann mit Professor Hetson über ihre Arbeit. Die beiden Gespräche rahmen die gesamte Folge ein und der Inhalt der Dialoge bezieht sich thematisch auf die Erlebnisse der Figuren in der Episode und sowieso in der gesamten Serie und mich persönlich hat das Buch auch berührt. Daher will ich zur Einführung auch diese wichtigen Dialoge mit dem Buch verbinden. In der deutschen Übersetzung geht manchmal etwas verloren, darum führe ich beides auf.
Eddie: But Joey, that’s not the orverriding message.
Joey: Yes it is. Ultimately Yoassarian must accept, that he’s trapped in an insane world.
Eddie: But he escapes in the end, so there’s hope.
Joey: Hope for what?
Eddie: Well, the beauty is, we don’t know. But his escape is a testament of power of one man against the struggle against the System.
Joey: Hetson’s interpretation ist much bleaker.
Eddie: Why does that not surprise me. If you keep regurgitating what Hetson said in class during this final exam, you’ll not really developing a mind of your own.
Joey: I’ll develop a mind of my own later. Right now, I have to ace this final.[1]
Deutsche Übersetzung
Eddie: Also Joey, die Message finde ich nicht umwerfend.
Joey: Ist sie aber. Am Ende muss Yossarian akzeptieren, dass er in einer verrückten Welt gefangen ist.
Eddie: Nein, er entkommt doch am Schluss. Also gibt es Hoffnung.
Joey: Hoffnung auf was?
Eddie: Schön ist, dass wir das nicht wissen. Aber seine Flucht bezeugt, was ein Mann allein gegen das System ausrichten kann.
Joey: Hetsons Interpretation ist viel fader.
Eddie: Warum überrascht mich das nicht? Wenn du bei dieser Abschlussprüfung immer nur wiederkäust, was Hetson im Seminar gesagt hat, dann wirst du nie richtig eine eigene Meinung entwickeln.
Joey: Meine eigene Meinung entwickel ich später. Jetzt muss ich diese Prüfung bestehen.[2]
Das Buch in der Serie und die Verbindungen von Figurenreden
Im Gespräch gegen Ende der Folge sieht man sie bei Professor Hetson im Büro sitzen. Er gibt ihr eine eins minus. Hetson findet den Essay „a little bleak“, ein wenig trostlos. Joey wundert sich darüber, immerhin hat sie ja genau den im Seminar besprochenen Inhalt wiedergeben. Und wie sich herausstellt, hat ihr Freund Eddie recht gehabt. Es ist wichtig, sich eine eigene Meinung zu bilden und Dinge zu hinterfragen (aber interessant, wie dann die Reaktionen in der Realität darauf sind), wie es auch die Figur des Yossarian im Buch macht (wenn auch teilweise recht unkonventionell). Jedenfalls scheint es so, als hätte Professor Hetson im Seminar die bekannte und in der Forschung allgemein vertretene These und damit verbundene Ansichten wiedergegeben. Aber gerade Seminare bieten Grundlage für Diskussionen, sollten alle Ansichten willkommen geheißen werden, damit ein breites Spektrum für Thesen und Meinungsbildung geschaffen werden kann. Nur, weil die Forschung einer bestimmten Ansicht ist, muss das nicht heißen, dass es keine anderen Perspektiven gibt oder das keine anderen Perspektiven zugelassen werden. Und das ist schließlich in Systemen auch der Fall. Ich war, um eine kleine Anekdote einzustreuen, im Urlaub unterwegs in Heidelberg und Umgebung und habe die Euthanasie-Erinnerungsstätte in Hadamar besucht. Das ist kein fröhlicher Besuch gewesen, aber es lag auf dem Weg und ich hatte Zeit. Jedenfalls wurde Hinterfragen in Nazi-Deutschland bestraft mit Ausgrenzung, mit Gewalt und mit dem Tod. Das wurde in der Ausstellung deutlich. Und die Frage ist auch heute noch akutuell in ganz verschiedenen Kontexten und Situationen: Wie gegen ein verrücktes System antreten als Individuum – und gewinnen/überleben/sich treu bleiben?
Hoffnung inmitten der Absurdität des menschlichen Daseins
Das ist auch ein Thema in Catch 22. Es wird satirisch dargestellt, die Brutalität des Systems komisiert und verlacht, doch die Wahrheit ist nicht komisch, es ist nur ein Darstellungsmodus, der möglichst alle gerade aufgrund dieser derben Darstellung wachrütteln soll. Das hat der griechische Dichter Aristophanes bereits 423 v. Chr. mit Die Wolken, einer Satire gegen die Sophisten, gewusst. Gewusst hat das der italienische Schriftsteller Giovanni Boccaccio um 1400 beim Verfassen seines Dekameron und natürlich auch Sebastian Brant um 1494 mit seinem Narrenschiff. Miguel de Cervantes hat es mit seinem Don Quijote von 1605 und 1615 gewusst und bis zu Joseph Heller und Catch 22 haben es noch viele andere gewusst. Ich weiß es auch. Zurück zum Dialog, in dem Professor Hetson nun (für ihn unwissend) den Faden aus dem Eingangsdialog zwischen Joey und Eddie aufgreift.
Das englische Original
Übersetzungen haben so ihre Tücken, daher hier zumindest noch die Originalvariante.
Hetson: “It’s a story of hope, Joey. I mean, this man, confronted with the absolute absurdity of the human condition, he’s terrified to his core. He takes a leap of faith. He chooses life.”
Und dann soll Joey die besagte Stelle vorlesen, auf die sich Hetson bezieht. Es unterhalten sich Major Danby und Captain Yossarian.
Joey: „They’ll have to try like hell to catch me this time.”
“They will try like hell. And even if they don’t find you, what kind of way is that to live? You’ll always be alone, no one will ever be on your side, and you’ll always live in danger of betrayal.”
“I live that way now.”
“But you can’t just turn your back on all your responsibilities and run away from them”, Major Danby insisted. “It’s such a negative mood. It’s escapist.”
Yossarian laughed with buoyant scorn and shook his head.
“I’m not running away from my responsibilities. I’m running to them. There’s nothing negative about running away to save my life.”
Prof. Hetson: „As I said in class. A lot of critics find that moment to sentimental. An author ham-fistedly reaching in and injecting an amoral tale with a moral. An embarrassing betrayal of all the dark comedy that came before it. But me? I’ve always kind of liked it. It has such a nice, hopeful ring to it. Do you see my point?”[4]
Die deutsche Übersetzung der Szene
Hetson: Im Roman geht es um Hoffnung, Joey. Ich meine, dieser Mann, konfrontiert mit der völligen Absurdität des menschlichen Daseins. Ich meine, er ist dadurch bis ins Mark erschüttert. Aber er entscheidet sich für die Hoffnung. Er wählt das Leben. Hier Seite 461. Lesen Sie die markierte Stelle.
Joey: [Liest aus Catch 22] „Diesmal werden sie sich große Mühe geben müssen, wenn sie mich schnappen wollen.“
„Aber selbst, wenn Sie es nicht schaffen, was für ein Leben haben Sie vor sich? Sie werden immer allein sein. Niemand wird zu Ihnen halten, und Sie werden stets Gefahr laufen, verraten zu werden.“
„Lebe ich denn jetzt anders?“
„Sie können aber nicht einfach Ihren Pflichten den Rücken kehren und davonlaufen“, versteifte sich Major Danby. „Das ist eine negative Verhaltensweise, Eskapismus.“
Yossarian lachte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Ich laufe nicht weg vor meinen Pflichten, ich laufe auf sie zu. Wegzulaufen, um sein Leben zu retten, ist nichts Negatives.“
Prof. Hetson: Wie ich schon im Seminar gesagt habe, viele Kritiker finden diesen Moment zu sentimental. Ein Autor, der eine amoralische Geschichte auf einmal ungeschickt mit einer Moral versieht. Ein peinlicher Verrat des ganzen schwarzen Humors, der bis dahin kam. Aber mir … mir hat das immer gefallen. Es hat so einen schönen hoffnungsvollen Anklang. Verstehen Sie, was ich meine?[3]
Warum gerade diese Textpassage von den Figuren vorlesen lassen?
Ich habe den Eindruck, dass hier jemand anders spricht als die Figur des Literaturprofessors. Eigenständig denken, das hatte Joeys Freund ihr gesagt. Und das eigenständige Denken, das ist nicht nur Thema der Serie, die für eine Jugendserie um den Jahrtausendwechsel etliche unbequeme Themen ansprach wie beispielsweise Homosexualität, Drogensucht, psychische Krankheiten, interkulturelle Verbindungen, Armut und Außenseitertum, häusliche Gewalt und mehr. Den ganzen Roman Catch 22 über hadert Yossarian mit seiner Position und versucht mehr oder weniger indirekt seine Situation zu verbessern oder zu verkehren. Er geht noch weiter und sabotiert die Aktionen, indem er beispielsweise Waschmittel ins Essen kippt und alle denken, sie seien vergiftet worden, weil es ihnen schlecht geht, sie darum aber bei einer lebensgefährlichen Mission nicht fliegen können. Er fälscht Briefe. Er verschiebt die Frontlinie. Er markiert Krankheit. Doch letztlich bleibt ihm einzig die Flucht, der Ausstieg, um sein Leben zu retten. Und am Ende ist er auch mit sich bezüglich dieser Entscheidung im Reinen.
Was ist die absolute Absurdität des menschlichen Daseins?
Hinsichtlich des Begriffs der Absurdität greift Professor Hetson auf den Philosophen und Schriftsteller Albert Camus (1913-1960) zurück bzw. verbinde ich das jetzt einfach. Und wie genau ist bei Camus das Absurde auf das Leben des Menschen, das Menschsein bezogen? Davon handeln zum Beispiel auch Bücher wie Der Fremde (1942) oder der Essay Der Mythos des Sysiphos (1942). Es ist mitunter die Suche des Menschen nach Sinn inmitten der Sinnlosigkeit der Welt. Es handelt sich also nicht um logische Kategorien, sondern um menschliche. Und jeder Mensch reagiert auf die Erkenntnis der weltlichen Sinnlosigkeit anders. In seinem Werk Der Mythos des Sisyphos geht Albert Camus genauer auf die Absurdität des menschlichen Daseins und drei verschiedene Verhaltensweisen ein: Die logische Konsequenz auf eine Welt voller Sinnlosigkeit, die Auslöschung der eigenen Existenz; der Glaube an eine metaphysische verborgene Ordnung, welcher hinter der Sinnlosigkeit der Welt steht und dieser Bedeutung bemisst – quasi Eskapismus ermöglicht; und zuletzt die Akzeptanz der Sinnlosigkeit und damit des Lebens an sich. Aus diesem Grund ist Camus‘ Held auch Sysiphos, der sich der Sinnlosigkeit der Welt, dem Absurden entgegenstellt, indem er immer und immer wieder die ihm von den Göttern aufgetragene Strafe, nämlich den Felsblock auf den Berg zu schieben, von neuem beginnen muss. Und ebenso muss sich der Mensch täglich seinem immer wiederkehrenden Alltag stellen – immer und immer wieder – man möchte an Bill Murray und das Murmeltier denken (Und täglich grüßt das Murmeltier). Der allerdings hat das Glück, den Code zu knacken, das Spiel durchzuspielen. Probieren geht über Studieren. Aber auch über Camus und das Absurde und die Sinnlosigkeit der Existenz lässt sich eindeutig ausführlicher diskutieren, als ich es an dieser Stelle leisten kann. Von daher: weiter mit Catch 22 und der dort inhärenten Verrücktheit.
Warum überhaupt mitmachen beim Catch 22?
Was im zitierten Seriengespräch fehlt, will ich noch hinzufügen. Es ist ein erweiterter Ausschnitt des von der Figur Joey vorgelesenen Gesprächs zwischen Major Danby und Captain John Yossarian.
»Ich bin kein Detektiv«, sagte Major Danby entrüstet und errötete von neuem. »Ich bin Universitätsprofessor. Ich besitze ein hochgradig entwickeltes Gefühl für Recht und Unrecht und würde nie einen Versuch machen, Sie zu täuschen. Ich würde nie jemanden belügen. « […]
»Wie können Sie es nur mit Kreaturen wie Cathcart und Korn aushalten, Danby? Wird Ihnen denn in deren Gegenwart nicht übel? […]«
»Colonel Cathcart und Colonel Korn sind meine Vorgesetzten, und ich kann nichts weiter zum Nutzen unserer Sache tun, als ihnen zu gehorchen. Ich arbeite mit ihnen, weil das meine Pflicht ist.« Und auch, fügte er sehr viel leiser und mit niedergeschlagenen Augen hinzu, »weil ich kein aggressiver Mensch bin.«
»Das Vaterland braucht ihre Hilfe nicht mehr«, stellte Yossarian ihm freundlich vor. »Sie tun also nichts weiter, als diesen beiden behilflich zu sein.«
»Ich bemühe mich, nicht daran zu denken«, gab Major Danby freimütig zu. »Ich versuche, immer nur an das große Ganze zu denken und zu vergessen, daß ich zu ihrer persönlichen Verherrlichung beitrage. Ich suche mir einzureden, daß sie nicht von Bedeutung sind.«
»Mir gelingt das nie«, sagte Yossaian verständnisvoll und faltete die Arme vor der Brust. »Ich stelle immer fest, daß zwischen mir und einem Ideal Schittköppe. Peckems, Korns und Cathcarts stehen. Und dadurch bekommt auch das Ideal ein anderes Aussehen.«
»Versuchen Sie nicht an diese Erscheinungen zu denken«, redete Majo Danby ihm zu. »Sie dürfen auch niemals ihre Maßstäbe dadurch beinnflussen lassen. Ideale sind gut, die Menschen sind aber gelegentlich nicht so gut. Sie müssen sich bemühen, das große Ganze im Auge zu behalten!«
Yossarian wies diesen Rat mit skeptischem Kopfschütteln zurück.
»Wenn ich das große Ganze betrachten möchte, dann sehe ich nur Leute, die verdienen. Ich sehe weder den Himmel, noch die Heiligen, noch die Engel, sondern einzig Leute, die aus jeder anständigen Regung und aus allem menschlichen Leid Profit schlagen.«[5]
Profitdenken, Grausamkeit und Ungerechtigkeit in Catch 22
Es ist das abschließende Gespräch, in dem Yossarian Frieden mit der Situation gemacht und einen Entschluss gefasst hat. Zuvor hat er erlebt, dass er verhaftet wurde, weil er ohne Urlaubsschein in Rom war, während sein Kamerad einen Mord verübt hat und nicht dafür belangt wird. Er erlebt, dass von Zivilisten bewohnte Dörfer mit einem Bombenteppichmuster bedeckt werden sollen, damit kurzzeitig mit dem Geröll eine Straßenblockade errrichtet wird. Er erlebt, wie sein Kamerad Milo Minderbinder zum stereotypischen Unternehmer in Kriegszeiten aufsteigt, alles verhökert und tauscht, was ihm in die Finger kommt wie etwa die im Falle eines Notfalls überlebenswichtigen Notrationen und Fallschirme aus den Fugzeugen. Es stellt sich heraus, dass Milo mit seinen Tauschgeschäften, die er auf Basis der bürokratischen Strukturen anleiert, ordentlich verdient. Er verkauft beispielsweise Baumwolle mit Schokoladenüberzug als Nahrungsquelle und will den Krieg auf eine gesunde Geschäftsgrundlage stellen. Für Geschäftsmann Milo sind die Nazis keine Feinde, denn die Deutschen zahlen ihre Rechnungen immer pünktlich (es muss ja stimmen, wenn Heller das damals schon wusste…). Und wenn es um Geldangelegenheiten geht, dann ist deutsche Pünktlichkeit Trumpf! So schließt er auch einen Vetrag mit den Deutschen, die dann zuletzt den amerikanischen Stützpunkt bombardieren. Das ist für Milo kein Problem, denn Verträge sind heilig, Menschenleben nicht. Und darum fliegen auch deutsche Bomber Waren für Milos gegründetes Unternehmen durch die Weltgeschichte und zwar vom amerikanischen Stützpunkt aus. Und jeder hat seinen Anteil, denn das Unternehmen dient der Gemeinschaft!
Doch jetzt will ich noch wichtige Szenen aus Catch 22 zitieren.
Textpassage 1: Das Wunderbare der sündhaften Verkehrung
Eine Szene dreht sich um den Kaplan, die geistliche Instanz des Stützpunkts. Er verkörpert die Ideale des Glaubens, der Menschlichkeit und der Moral in einer Welt des Chaos und der Sinnlosigkeit. Er ist ein unerschütterlicher Verfechter des Lebens und des Gewissens, will den absurden Vorschriften und dem Wahnsinn des Krieges nicht nachgeben. Gerade aus diesem Grund ist die folgende Szene relevant. Denn der Kaplan lügt das erste Mal in seinem Leben – und es ist eine Offenbarung für ihn.
Der Kaplan hatte gesündigt, und das war gut. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, daß es Sünde war, zu lügen und sich der Erfüllung seiner Pflichten zu entziehen. Andererseits aber wußte jeder, daß Sünde böse war, und daß aus Bösem nichts Gutes entstehen kann. Und doch fühlte er sich sehr gut; er fühlte sich geradezu wunderbar. Und daraus folgte nun wieder logisch, daß es keine Sünde sein konnte, zu lügen und sich der Erfüllung seiner Pflichten zu entziehen. In einem Augenblick göttlicher Eingebung hatte der Kaplan die Technik der Abwehr durch Rationalisierung entdeckt, und diese Entdeckung erfüllte ihn mit Jubel. Es war ein Wunder. Er begriff nun, daß fast nichts dazugehörte, Sünde in Tugend und üble Nachrede in Wahrheit zu verkehren, daß es leicht ist, Kraftlosigkeit als Enthaltsamkeit, Anmaßung als Demut, Raub als Menschenfreundlichkeit, Betrug als Ehrenhaftigkeit, Lästerung als Weisheit, Roheit als Vaterlandsliebe und Sadismus als Gerechtigkeit hinzustellen. Das konnte jeder. Verstand war dazu nicht erforderlich, einzig Charakterlosigkeit.[6]
Diese Szene ist genial. Das Prinzip der Moral, das der Kaplan verkörpert, wird unterlaufen und vereinnahmt durch die unmoralischen Prinzipien, die den Idealen des Kaplan entgegenstehen. Doch zugleich wird diese Unmoral religiös aufgeladen, den es war ein Wunder! Halleluja! Man darf sündigen – es passiert einem nichts – man fühlt sich sogar gut! Es gibt keinen strafenden Gott! Eine Offenbarung! Dann folgt (wie so häufig im Roman) eine ganze Palette entgegen dieser Moral laufenden Handlungen und zuletzt folgt das Fazit. Intelligent muss man dafür nicht sein. Nur keinen Charakter haben. Aber wer will das heutzutage schon, wo Reichtum winkt, Macht, Status und Prestige?! Der Abschnitt ist ein Schlag ins Gesicht, aber man nimmt ihn nicht so wahr, weil er zugleich die Offenbarung des Kaplan ob der Freude über das nun endlich auch erreichte Wissen um die Macht der Sünde zeigt. Und man muss das Ganze auch in Beziehung setzen zu einem Verhalten in den im Roman aufgezeigten Prinzipien der bürokratischen und militärischen Absurdität. Auf dieser Ebene ist Lügen, also sündigen entgegen der Strukturen befreiend.
Textpassage 2: Wenn einer geisteskrank ist, dann doch Sie!
Yossarian ist wieder einmal beim Stabsarzt im Lazarett gelandet. Er befindet sich im Gespräch mit Stabsarzt Sanderson, der seinen Gemütszustand und geistige Verfassung diagnostiziert. Man muss dazu sagen, dass es in Catch 22 um die Widersinnigkeit der Dinge geht. Yossarian ist daher die Figur, die entgegen der im Roman dargestellten Norm agiert, für ihn sind die Handlungen, die für alle anderen als Maßstab gelten furchteinflößend, brutal oder absolut sinnlos. Er kann dem System aber nicht entkommen.
Das englische Original der zugehörigen Textpassage
Damit hier klar wird, warum ich das englische Buch empfehle, hier das Original. Man achte in der deutschen Version auf den Begriff ‘Mietskasernen’.
“[…] Well, do you know, what you are? You’re a frustrated, unhappy, disillusioned, undisciplined, maladjusted young man!” Major Sanderson’s disposition seemed to mellow as he reeled off the uncomplimentary adjectives.
“Yes, sir”, Yossarian agreed carefully. “I guess you’re right.”
“Of course I’m right. You’re immature. You’ve been unable do adjust of the idea of war.“
“Yes, sir.”
“You have a morbid aversion to dying. You probably resent the fact that you’re at war and might get your head blown off any second.“
“I more than resent it, sir. I’m absolutely incensed.”
“You have deep-seated survival anxieties. And you don’t like biggots, bullies, snobs or hypocrites. Subsonsciously there are many people you hate.”
“Consciously, sir, consciously.” Yossarian corrected in an effort to help. “I hate them consciously.”
“You’re antagonistic to the idea of being robbed, exploited, degraded, humiliates or deceived. Misery depresses you. Ignorance depresses you. Persecution depresses you. Violence depresses you. Slums depress you. Greed depresses you. Crime depresses you. Corruption depresses you. You know, it wouldn’t surprise me if you’re a manic-depressive!”
“Yes, sir. Perhaps I am.“
“Don’t try to deny it.”
“I’m not denying it, sir”, said Yossarian, pleased with the miraculous rapport that finally existed between them. “I agree with all you’ve said.”
“The you admit you’re crazy, do you?”
“Crazy?” Yossarian was shocked. “What are you talking about? Why am I crazy? You’re the one who’s crazy!”[8]
Die deutsche Übersetzung der Textpassage aus Catch 22
»[…] Wollen Sie wissen, was Sie sind? Sie sind ein frustierter, unglücklicher, enttäuschter, undisziplinierter, schlecht angepaßter junger Mann!«
Die Stimmung des Stabsarztes schien sich etwas zu heben, während er diese unhöflichen Eigenschaftswörter herunterrasselte.
»Jawohl, Sir«, stimmte Yossarian behutsam zu. »Ich fürchte, Sie haben recht.«
»Selbstredend habe ich recht. Sie sind unreif. Sie sind nicht in der Lage, sich dem Krieg anzupassen.«
»Jawohl, Sir.«
»Sie haben eine krankhafte Abneigung gegen das Sterben. Vermutlich verabscheuen Sie die Tatsache, daß Sie sich im Krieg befinden und jederzeit ins Gras beißen können.«
»Ich verabscheue diese Sachverhalt nicht nur, ich empfinde brennenden Haß seinetwegen.«
»Sie haben eine eingefleischte Gier zu überleben. Sie empfinden Abneigung gegen Frömmler, Großschnauzen, Snobs und Heuchler. Im Unterbewußtsein hassen Sie eine Menge Leute.«
»Auch bewußt, Sir, auch bewußt«, berichtigte Yossarian, ganz darauf bedacht zu helfen. »Ich hasse sie alle mit vollem Bewusstsein.«
«Sie wehren sich gegen die Vorstellung, ausgebeutet, beraubt, erniedrigt, beleidigt und getäuscht zu werden. Folgende Faktoren wirken auf sie deprimierend: Elend, Ungewissheit, Verfolgung, Gewalttätigkeit, Mietskasernen, Geldgier, Verbrechen, Korruption. Ich wäre nicht überrascht, wenn Sie sich als manisch depressiver Typ entpuppen.«
»Jawohl, Sir, vielleicht bin ich das.«
»Versuchen Sie gar nicht, das abzustreiten.
»Ich streite es gar nicht ab«, sagte Yossarian, erfreut darüber, daß endlich die Verbindung zwischen Ihnen hergestellt war. Ich stimme jedem Ihrer Worte bei.
»Sie geben also zu, daß Sie geisteskrank sind?«
»Geisteskrank?« Yossarian war schockiert. »Wovon reden Sie? Warum soll ich geisteskrank sein? Wenn einer geisteskrank ist, dann doch Sie!«[7]
Mangelhafte Übersetzungen und ganz normaler Wahnsinn
Im Vergleich der Textpassagen fällt das Wort ‘Mietskasernen’ ins Auge. Ich habe mich fürchterlich daran aufgehangen. Der Begriff stammt aus der Kaiserzeit und wurde für den spartanischen, militärischen Wohnstandard vewendet, der viele Arbeiterviertel prägte. Wir befinden uns mit der Verwendung dieses Begriffs also beim Beginn der Industrialisierung, der zunehmenden Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts! Hier mehr Informationen. Catch 22 spielt aber im Zweiten Weltkrieg und dann geht es auch noch um das U.S.-Militär. Wieso bitte sollte also ein amerikanischer Stabsarzt einen Begriff für überfüllte Arbeitersiedlungen in der typischen deutschen Großstadt um 1880 herum verwenden? Slums – das hätte man auch einfach mit Armenviertel übersetzen können, meinetwegen auch Elendsviertel. Oder warum nicht den Begriff beibehalten und zur damals sicher schon um sich greifenden Anglifizierung des Wortschatzes beitragen?
Mit der vermeintlich diagnostizierten Geisteskrankheit jedenfalls wird wieder die dem Catch 22 zugeordnete Funktion der Absurdität aufgerufen, die sich an vielen Stellen variationsreich wiederfindet. Und sie zeigt auch, dass Yossarian mit seiner Ansicht auf weiter Flur alleine ist und wie gegensätzlich psychische und physische Akte der Gewalt wahrgenommen werden bzw. diese in einem von Gewalt zerfressenen System erst gar nicht als solche erkannt werden. Sondern sie gehören der Normalität an, sodass alle, die sich eben nicht dieser Gewalt anschließen wollen als nicht normal, als krank oder irre gelten müssen.
Textpassage 3: Total persönlich unpersönliche Anreden für Hinterbliebene – Schemabriefe
Eine kurze Textpassage möchte ich noch zum Besten geben. Sie ist zum Verrücktwerden! Es sollen standardisierte Schemabriefe entworfen worden, die einheitlich sind und alles und jeden abdecken, der sich irgendwie angesprochen fühlen könnte. Ich habe mich schlappgelacht. Hier auch nur die deutsche Version.
»Von morgen an«, sagte [Colonel Cathcart] dann, »erwarte ich, daß Sie und Korporal Whitcomb an die Angehörigen eines jeden Mannes vom Geschader, der fällt, gefangengenommen oder verwundet wird, einen Beileidsbrief schreiben. Ich möchte, daß diese Briefe aufrichtige Briefe sind. Ich möchte, daß diese Briefe so voll sind von persönlichen Redewendungen, daß kein Zweifel daran aufkommt, da ich alles gerade so meine, wie Sie es schreiben. Klar?«
Der Kaplan trat impulsiv vor, um Einwände zu machen. »Das ist ganz ausgeschlossen, Sir«, sprudelte er heraus. »Wir kennen die Leute im Geschwader nicht gut genug dazu.«
»Was macht das schon?« entgegnete Colonel Cathcart, lächelte dann aber leutselig. »Korporal Whitcomb hat mir diesen Schemabrief mitgebracht, der sich praktisch auf jeden Fall anwenden läßt. Hören Sie zu: ›Sehr geehrte Frau, Herr, Fräulein oder Herr und Frau: Worte können nicht den tiefen, persönlichen Schmerz ausdrücken, den ich empfand, als Ihr Gatte, Sohn, Vater oder Bruder gefallen, verwundet oder vermißt gemeldet wurde.‹ Undsoweiter. Ich finde, daß meine Gefühle in diesem Eröffnungsatz genau wiedergegeben sind. […][9]
Die „Warmherzigkeit“ des Systems (in Catch 22)
Als Doc Daneeka, der Arzt im Lager, später wegen eines Fehlers für Tod erklärt und aus dem System gestrichen wird, erhält seine Frau genau solch einen Brief, zudem eine enorme Summe an Hinterbliebenenrente, mit der sich die Gute in der Heimat ein schönes Leben macht, während Doc Daneeka als lebende Karteileiche immer noch durch das italienische Lager schleicht. Ich habe wirklich selten so oft gelacht wie bei der Lektüre dieses Buches. Mit den Schemabriefen wird auch die Absurdität bürokratischer Systeme dargestellt. Mittels Formular wird versucht, alle Personen in irgendeiner Weise abzudecken, doch das funktioniert nicht. Ebenso können natürlich nicht Tote mit Lebenden unter derselben Ansprache fungieren und doch wird das in diesem total persönlichen Beileidsbrief voller Anteilnahme gemacht. Wer das Buch also irgendwann einmal liest und sich darüber unterhalten möchte – ich würde es lieben, mich über eines meiner Lieblingsbücher unterhalten zu können! Und die Leseempfehlung steht immerhin. Gute Unterhaltung!
Quellen
Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 1999.
Joseph Heller: Catch-22. London 1962.
Kevin Williamson: Dawson’s Creek [Serie] Staffel 6, Episode 20. United States. Columbia TriStar Television, Outerbanks Entertainment, Columbia TriStar Domestic Television, Sony Pictures Television. 1998-2003, 00:02:00-00:02:31.
Mögliche weitere Fragen
Gibt es Romane, in denen die Grundthematik des Widersinns, des Catch 22 ebenfalls behandelt wird? Wenn ja, wie wird dies dargestellt und um welche gesellschaftlichen Bereiche handelt es sich?
Welche Analogien zum Schemabrief sind aus der Realität möglicherweise bekannt?
Welche ökonomischen Strukturen werden durch den in Catch 22 dargestellten Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus offenbart? Inwiefern sind diese Mechanismen immer noch gültig?
Warum ist Yossarian ein Eskapist und warum ist er keiner? Wie kann sein Entschluss bewertet werden? Oder anders gefragt, ist Catch 22 letztlich eine Geschichte über Hoffnung und nicht über die Absurdität des Menschseins?
Mit welchen literarischen Werken kann Catch 22 verglichen werden und welche Überschneidungen zu Werken anderer Kulturen gibt es?
Wenn Figuren über literarische Werke reden, wie frei sind sie vom Gedankengut des Verfassers? Geben sie hier zeitgenössische Strömungen wieder? Oder jeweilige individuelle Ansichten?
[1] Kevin Williamson: Dawson’s Creek [Serie] Staffel 6, Episode 20. United States. Columbia TriStar Television, Outerbanks Entertainment, Columbia TriStar Domestic Television, Sony Pictures Television. 1998-2003, 00:02:00-00:02:31. [2] Ebd., 00:02:00-00:02:31. [3] Ebd., 00:29:33-00:31:05. [4] Ebd., 00:29:33-00:31:05. [5] Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 1999, S. 568-569. [6] Ebd., S. 466. [7] Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 1999, S. 389-390. [8] Joseph Heller: Catch-22. London 1962, S. 297-298. [9] Joseph Heller: Catch-22. London 1962, S. 361.
Bildquellen
- Mythos-Sysiphos_8968054_1920_Xavier-Turpain: Xavier-Turpain at Pixabay