Echtzeitalter – Tonio Schachinger

Die Karte für die Lesung von Tonio Schachingers Echtzeitalter der LiteraTOUR Nord am 19.11.2023 besaß ich schon, als der Roman noch nicht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war. Der Grund für meine Teilnahme liegt in meinem diesjährigen Ziel begründet, gerne mein Stimmrecht beanspruchen zu wollen (denn auch das Publikum bekommt eine Stimme, an der ich Anteil habe, sofern ich alle Veranstaltungen besucht habe). Da ich die Bücher auch lese, eignet sich deren Aktualität im Zusammenhang mit grundsätzlichen Überlegungen, die ich anstelle. Ich verfasse diese Texte primär aus der Motivation heraus, meiner Leidenschaft, nämlich dem Lesen und Analysieren und Verbinden von Literatur und Leben zu frönen. Das gibt mir die Freiheit, die Kriterien dieser Analyse selbst festlegen zu können.

Diesen Text verfasse ich bereits vor der Lesung, weil ich mich diesmal nicht schon durch die Aussagen des Autos vereinnahmen lassen wollte. Er wird allerdings doch erst nach der Lesung online gehen.

Echtzeitalter – Bildungsroman, Jugendroman, Gesellschaftsroman

Echtzeitalter. Echt. Zeit. Alter. Echtzeit. Zeitalter. Das Zeitalter der Echtzeit. Echt, Alter? Es wäre naheliegend, den Titel direkt mit den Computerspielen zu verbinden, schließlich handelt es sich bei Age of Empires, das einen großen Anteil an der Story hat, um ein Echtzeit-Strategiespiel. Allerdings muss das nicht so ausgelegt werden, denn der Begriff ist wundervoll multiperspektivisch und lässt sich anwenden auf sämtliche Themen, die im Buch angesprochen werden.  

Für mich ist Echtzeitalter ein moderner Bildungsroman bzw. eine Coming-Of-Age-Story, die an einer Schule bzw. einem Internat spielt, aber es ist auch ein Antibildungsroman und sogar ein Gesellschaftsroman, der sich mit politischen und sozialen Diskursen auseinandersetzt. Tatsächlich sehe ich besondere narrative Winkelzüge, die erzähltechnisch versierte Metaebenen eröffnen und verschiedene Erzählebenen miteinander verbinden sowie den Blick auf die Verbindung von Literaturbetrieb, Bildungspolitik und gesellschaftlichem Elitedenken eröffnen. Insbesondere die Erfahrungen, die der zu Beginn 15-jährige Protagonist Till mit dem Echtzeit-Strategiespiel Ages of Empire (kurz AOE) macht, bringen auch Szenefremden diese neue mediale Welt näher.

Fiktiv verkleidet – das Marianum in Echtzeitalter

Till besucht das fiktive Marianum, eine Schuleinrichtung, die Wiener aufgrund der detailgetreuen Beschreibung mit dem Wiener Theresianum in Beziehung setzen könnten. Tonio Schachinger war tatsächlich Schüler des Theresianums in Wien[1], einer der besseren Schulen, an denen die Insassen zur späteren Elite aus Anwälten, Ärzten und führenden Wirtschaftsmagnaten gehören sollen.

Dies lässt wieder einmal die Frage aufkommen, wie viel Ich eines Erzählers im Text steckt und mit welcher Intention ein an die eigene Lebensgeschichte und die Realität angelehnter Roman verfasst wurde. Ich zitiere einen weiseren Menschen als mich: „Wir schreiten durch uns selbst dahin, Räubern begegnend, Geistern, Riesen, alten Männern, jungen Männern, Weibern, Witwen, warmen Brüdern. Doch immer im Grunde uns selbst.“[2] Im neunten Kapitel von Ulysses des großartigen James Joyce geht es um das Wissen von und aus Literatur sowie um die Frage nach autobiografischen Anteilen in literarischen Werken. „Der Stückeschreiber, der das Folio dieser Welt verfasste […] ist ohne Zweifel alles in allem in allen von uns […].[3]

Der Autor als Schöpfer der literarischen Welt

Wenn wir Menschen nach Gottes Abbild Schöpfer unseres Lebens, dann sind Dichter Schöpfer ihrer Werke und der Welt, die sie beschreiben. Das ist natürlich übertragbar, wenn Autoren ihre eigenen schulischen Erfahrungen im Nachhinein literarisch verarbeiten. Diese Behauptung ist auch für das zuletzt besprochene Buch Vaters Meer von Deniz Utlu stimmig. Weitere damit aufgeworfene Fragen gingen demzufolge mit psychologischen Betrachtungsweisen einher.

Warum sind es gerade diese Themen, die im Buch behandelt werden und sind es insbesondere Themen, an denen der Autor sich besonders stört oder Themen, die er aus spezifischen Gründen für besonders erzählenswert hält oder auf die er einen besonderen Fokus lenken will, um Aufmerksamkeit zu erregen? Vielleicht gab es ganz bestimmte Ereignisse, die ihn interessiert haben und die er darum ins Leben der von ihm erfundenen Figur Till erzählen wollte. In Echtzeitalter jedenfalls geht es um jene Schuleinrichtung, didaktische Maßnahmen, das Lehrpersonal sowie das soziopolitische System von Bildungseinrichtungen mit ihren mikropolitischen Strukturen, die, wer sie beherrscht, auch im späteren Leben an der Spitze der Gesellschaft nützlich sein können.

Diskurse in Echtzeitalter – Digitalisierung, Sprachverfall, Erziehung

Im Roman werden viele Diskurse an den Figuren abgebildet und narrativ inszeniert. Der mit zunehmender Digitalisierung einhergehende Sprachverfall (der vielleicht aber auch ganz andere Wurzeln hat) etwa sowie der damit verbundene gesellschaftliche Wandel, der sich auf wesentliche Bereiche des menschlichen Lebens auswirkt. Insbesondere an der Sprache der Jugendlichen, die vermehrte Nutzung von Anglizismen oder Neologismen sowie Tills Kommunikation in der Gamingszene wird veranschaulicht und sticht insbesondere beim Austausch verschiedener Generationen deutlich hervor.

Etwa, wenn der despotische Dolinar sich immer wieder über bestimmte Begriffe, ihre Schreib- und Ausdrucksweise aufregt. Der Sprachverfall wird ausgespielt zwischen den Figuren und den insbesondere in der Schulumgebung veranschaulichten autoritärem Machtgehabe zwischen literarischen Klassikern sämtlicher Epochen (wobei vormoderne Literatur jedoch nicht einmal erwähnt wird) sowie dem inmitten Inklusionsdenken und Rassismus schwingenden Generationenkonflikt, der zwischen exzentrischen Lehrkräften und sich gegen bröckelnde Traditionen auflehnende bzw. sich diesen beugenden Schülerinnen und Schülern, zwischen Eltern und Kindern, zwischen verschiedenen Schulen, zwischen Wienern und Nicht-Wienern, zwischen Österreichern und Deutschen und anderen aufgemacht wird.

Sich mit fremden Federn schmücken

 „Namhafte Absolventen sagen nichts über die Institution aus, die sie hervorgebracht hat […]“,[4] so der Erzähler in Echtzeitalter. Und das stimmt. Aber Institutionen schmücken sich gerne mit den später berühmt gewordenen Absolventinnen und Absolventen. Sämtliche Kinder werden durch die Formpressen von Bildungsinstitutionen im Sinne einer pädagogisch wertvollen und politisch einwandfreien Sozialisierung gequetscht. Da ist es nur logisch, dass einige von ihnen früher oder später herausragende Leistungen vollbringen.

Und die Wahrscheinlichkeit, das dem so ist, wenn sowieso schon Kinder entsprechender elitärer Eltern die Schule besuchen, scheint groß. Nichts liegt dann näher, als den Erfolg dieser Menschen dann direkt mit der schulischen Laufbahn zu verbinden. Der Erzähler formuliert dies folgendermaßen. „Und so hat eben auch diese Schule gewisse Menschen, auf die sie verweisen kann, je nachdem, woher der gesellschaftliche Wind gerade weht.“[5]

Das Bildungssystem in Echtzeitalter

Als Lehrkraft als kleines Rädchen in einem großen Getriebe des bürokratischen Bildungssystem inmitten unzähliger Stellschrauben zu wirken, ist für manch einen die Erfüllung aller Wünsche. Es gibt ein festes Gehalt und sonstige staatlichen Gratifikationen. Die dunkle Seite der Macht beinhaltete Burn-Out, Depressionen, Alkoholismus und Schlimmeres. Und was ist mit den Schülerinnen und Schülern? Vermutlich hat jeder mindestens eine illustre Erinnerung an die Lehrkräfte seiner Schulzeit, die vielleicht mit der detailliert gezeichneten Darstellung in Schachingers Roman in der Erinnerung aufflammen könnten. Letztlich sind Lehrerinnen und Lehrer allerdings auch nur Menschen, die eben innerhalb des Bildungssystems eine Machtposition einnehmen, die ihnen eine direkte Einwirkung auf die ihnen überlassenen Schülerinnen und Schüler haben. Und einige nutzen in diesen Fällen die ihnen übertragene Macht aus und erschaffen sich eine eigene radikale Didaktik.

Lehrpersonal und das ultimativ Böse

Allen voran der Dolinar, „der aussieht wie Lord Voldemort, immer Schwarz trägt und mit seinen weiten Lodenmänteln aussieht wie eine Fledermaus.[6]  Der Dolinar ist ein Tyrann, ein Drangsalierer, ein Demütiger, jemand der mit voller Absicht und planvoll die Schwächsten vor allen anderen beleidigt und schikaniert und dem dies nichts ausmacht. Er ist jemand, der Regeln aufstellt, diese aber selbst auslegt und nach persönlichen Vorlieben bricht, wenn es ihm passt, sich allerdings auch selbst gegen die Statuten des eigenen Bildungssystems im Rahmen seiner Möglichkeiten auflehnt. 

„[Er] gehört nicht nur zu der Minderheit von Deutschlehrern, die überhaupt noch Zeit für Literatur aufwenden und mit ihren Schülern mehr als die kurzen Textausschnitte im Deutschbuch und den Faust lesen, sondern innerhalb dieser Minderheit zur noch kleineren Gruppe derjenigen, die sich eher ein Bein abhacken würden, als in ihrer Klasse Hermann Hesse oder Daniel Glattauer durchzunehmen. Interessant ist allerdings, dass der Dolinar das elitäre System der Schule, an der er zum Personal gehört und lehrt, missachtet und bei passenden Gelegenheiten kritisiert. „Im Grunde geht es dem Dolinar mit dem Marianum wie mit der Katholischen Kirche, seine Kritik gilt nur dem Umstand, dass die Gegenwart der Institution ihrer Geschichte nicht gerecht wird, aber seine Kritik kann trotzdem für diejenigen anschlussfähig sein, die mit der Institution an sich ein Problem haben.“[7]

Erwachsenwerden – trotz Erziehung in der Schule

Die Schulzeit ist eine Zeit, in der wichtige Weichen für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und Zukunft gestellt werden. Es ließen sich diverse Analogien ziehen zwischen Gefängnissen und Schulen oder auch zwischen Zoos und Schulen. Beide gehen einher mit der Freiheit, die auf dem Gebiet des Marianums nicht gegeben scheint. Denn eine hohe Mauer umrahmt das Gelände, so dass eine Flucht nur für besonders Sportliche überhaupt in Frage kommt. Tatsächlich werden Till und seine Freunde mit Tieren im Zoo verglichen, die, als sie für eine Schulstunde schnell die nicht vorhandenen Bücher besorgen wollen, über jene Mauer ins Freie klettern müssen.

Der Realitätsbruch, den der Regelbruch herbeiführt. Wie Tiere, die sich der Welt außerhalb ihres Zoos bewusstwerden und sich daran erinnern, ursprünglich, vor vielen Jahren, in Freiheit geboren worden zu sein.“[8] Es gibt möglicherweise Studien, die fragen, ob Schülerinnen und Schüler gegen Autoritäten aufbegehren müssen im Sinne einer, für eine gesunde psychische Entwicklung notwendigen Rebellion, um zu einer individuellen und charakterlich gefestigten Person zu werden. Vielleicht ist dies aber in einem System, in dem sämtliche Insassen nach bestimmtenVorstellungen geformt werden sollen, gar nicht vor, Individuen zu erschaffen, sondern das Schaffen von Abhängigkeiten, um ein durch den Willen nach Freiheit hervorgerufenen Drang im Keim zu ersticken. Als Till und seine Schulkameraden nach dem Abholen der Bücher wieder zurück gehen, heißt es: „Als sie wieder drinnen sind, geht es Till wie einem Tier, das einsehen muss, dass es außerhalb des Zoos nicht leben kann.“[9]

Der Geschichte gerecht werden – Schein und Sein in Echtzeitalter

Wenn Tonio Schachinger einführend den Charakter der Schule beschreibt, die zum Handlungszentrum des Romans wird, dessen Lehrpersonal mit ultimativen Bösewichten der Popkultur in einem Satz genannt wird und deren Doppelmoral und widersprüchliche Regeln immer wieder an den Interaktionen mit den untergebenen Schülerinnen und Schülern desavouiert werden, dann könnte hier folgende These aufgestellt werden:

Echtzeitalter stellt die scheinheilige Doppelmoral von Bildungseinrichtungen und deren politische und gesellschaftliche Beziehungen bloß und bettet in diese Rahmenhandlung die Geschichte von Till ein, der als Sympathieträger und Vermittlungsfigur für ein jüngeres Publikum dient. Diesem fällt es möglicherweise leichter, sich mit Gaming und den an Till inszenierten Ereignissen zu identifizieren. Denn Till übt sich, um nicht als Zielscheibe in Frage zu kommen, in der Kunst des Nichtauffallens. Aber er verliebt sich in Feli. Sie ist im Gegensatz zu ihm an politischen Ereignissen interessiert. Allerdings unterscheidet beide die Herkunft. Denn im Gegensatz zu Till kommt Feli aus gutem Hause, hat eine namhafte Mutter und wohnt in einem luxuriösen Haus. Sie hat Geld und Beziehungen und von Haus aus Zugang in die oberen Kreise der Wiener Gesellschaft.

Mit Worten von Orten Geschichten erzählen

Feli, eigentlich Felicité Exner-Diouf, lernt Till im Rauchereck nur kennen, weil sie am Marianum extrakurrikulär Kurse besuchen darf. Später überspringt sie sogar eine Klasse. Neben vielen anderen Aspekten sticht die Figur vor allem durch ihren politischen Aktivismus hervor. Feli ist auch im Schreiben literarischer Texte sehr talentiert. Dies zeigt sich an einem besonderen Text, den ich hier auch konkret nennen und aus meinem Verständnis heraus erläutern möchte.

Er steht nämlich nicht nur mit der einführenden Thematik der Bildungsinstitution in Beziehung. Auf einer Metaebene wird zudem die Tatsache diskutiert, dass »Geschichte« auch nur ein fiktionales Gebäude ist, erbaut aus Worten. Dieses lässt sich, je nach politischer Ausrichtung der entsprechenden machthabenden Parteien problemlos verändern. Konkret geht es um die Ausschreibung der städitschen Kulturabteilung für Schülerinnen und Schüler [w]Orte erzählen Geschichte[n].[10]

Satirische Momente in Echtzeitalter

Feli reicht bei eben dieser Ausschreibung einen satirischen Text ein, verfasst aus der Sicht des goldenen Adlers. Dieser blickt von der Fassade des Marianums auf das Leben dieser Institution sowie ganz Wien herab.[11] Es ist sehr wichtig, dass Feli ihrem Lesepublik „eine satirische Lesart“[12] ermöglicht. Das Reallexikon der Literaturwissenschaft definiert eine Satire wie folgt als „Angriffsliteratur mit einem Spektrum vom scherzhaften Spott bis zur pathetischen Schärfe.“[13]

Weiterhin heißt es: „Ihr hervorstechendes Merkmal ist die Negativität, mit der sie eine Wirklichkeit als Mangel, als Mißstand und Lüge, kenntlich macht.“[14] In der Satire verbinden sich diese Momente darüber hinaus mit dem Ästhetischen. Sie wird zur literarischen Gattung und damit zur Kunst.

Politische Dimensionen und opportunistische Motivationen

In Felis Satire geht es um die Geschichte des Marianums und mit der Institution und mit deren Geschichte im Zusammenhang stehende Persönlichkeiten, die in Form von Zitaten zu Wort kommen und deren Handlungen vom Adler auf ironische Art und Weise kommentiert und hinsichtlich ihrer politischen Ausrichtung in das zeitgenössische Geschehen einsortiert werden. Dabei werden Diskurse um Frauenrechte, Rassismus, finanzielle Ausgaben, politisches Machtgeplänkel, Missbrauch von staatlichen Geldern für private Belange und mehr auf gerade einmal acht Seiten miteinander verquickt.

Die Figur Feli, so der Erzähler in Echtzeitalter, habe sich aus der Schulchronik diejenigen Namen angestrichen, „bei denen schon in der geschönten Version durchschimmert, wie viel mehr Dreck ihre Biographien anhaften muss.[15] Feli wird letztlich mit dem ersten Platz ausgezeichnet. Auch hier kommentiert der Erzähler das im Hintergrund liegende Beziehungsgeflecht, das Felis Mutter als Sympathisantin von dem amtierenden Bundeskanzler ausweist. Es ist also fraglich, ob sie den Preis auch gewonnen hätte (immerhin bei einem derartig satirischen Text), ohne eine entsprechend bekannte Mutter.

Die Macht der Geschichten

Und tatsächlich finden sich etwaige Beschönigungen überall dort, wo Geschichte geschrieben wird, nämlich in Hagiographien, Chroniken, Reiseberichten und so weiter. Tatsächlich übertreiben auch die Bremer leicht, wenn sie das Innere ihrer spätmittelalterlichen Hansekoggen als besonders reich ausgestattet beschreiben. Dass Koggen von Ratten bevölkert, muffig, klein und dunkel – quasi Dreckslöcher – waren, kommt einer profunden Außendarstellung leicht in die Quere. Natürlich hatten die Bremer auch stets in der Kunst des Bierbrauens die Nase vorn. Dass es im Allgemeinmenschlichen um die Darstellung geht, ist nicht städtespezifisch, sondern historisch und menschlich. Es gehört zur Praktik des Erzählens als einer anthropologischen Konstante an sich. Es ist daher sehr anschaulich, wenn Feli gerade diese Taktik veranschaulicht und zudem die dahinterstehenden Mechanismen gleich mit.

Feli – luzide Schlüsselfigur in einem opportunistischen System?

Feli ist eine Figur, die dem Bild, das am Marianum dargestellt wird, entkommen, dieses jedoch zugleich untergraben und öffentlich bloßstellen will. Insofern ist sie eine Figur, die gerade aufgrund ihres Alters, ihrem Wissen um gesellschaftliche Verflechtungen und opportunistische Gepflogenheiten, die eben (noch) nicht dem Ruf nachgibt, sich in dieses Schauspiel einzureihen. Allerdings kann sie wahrscheinlich auch entsprechend sorglos agieren, weil sie den finanziellen und gesellschaftlichen Hintergrund hat sowie eine Mutter, die Einfluss besitzt. Dabei bietet die Figur ein besonders breites Spektrum, etwa der Hang zum Drogen- und Alkoholkonsum, die rebellische Haltung gegen Autoritäten, das Kommunikationstalent und Schlagfertigkeit und auch das Erkennen machtpolitischer Strömungen, Machtmissbrauch und Manipulation sowie das Aufrechterhalten des schönen Scheins in Organisationen und Institutionen.

Mirkopolitik, Makropolitik, öffentliche Politik

Vielleicht ist dies der springende Punkt, der sämtliche narrative Enden in Echtzeitalter miteinander vereint: politisches Vorgehen. Denn darum geht es bereits im Klassenverband, wenn entschieden wird, wer warum beliebt ist und wer den Ton angibt. Darum geht es in der sozialisierenden Erziehungspädagogik durch das Lehrpersonal und ihre mehr oder weniger maroden und menschenverachtenden Maßnahmen. Darum geht es in der Beziehung des Lehrpersonals untereinander und in ihrer Verbindung zur Institution sowie beim Karriereaufstieg außerhalb der Bildungseinrichtung. Es geht um Politik, wenn Kultur und Bildung sich begegnen und beachtet werden muss, welche Partei gerade an der Macht ist. Auch bei Age of Empires geht es um den wirtschaftlichen Aufbau eines Volkes und um Auseinandersetzungen mit anderen Völkern, die durchaus als politisch zu bezeichnen sind. Es geht prinzipiell um das virtuelle Steuern von Maßnahmen zur Erziehung der virtuellen Völker und der Entwicklung von Städten.

Fazit

Tonio Schachingers Roman ist grandios geschrieben, in seiner erzählerischen Umsetzung intelligent und mit Blick auf zeitgenössische Entwicklung in Politik und Gesellschaft trotz der fließenden Schreibweise scharf urteilend. Vor allem die detailliert gezeichneten Figuren und ihre funktionalen Rollen in den anschaulich beschriebenen Situationen sind bildhaft verfasst. Die Erzählerkommentare stützen die Handlung und Dialoge der Figuren. Wo Bedarf besteht, wird so das Gelesene um schlagfertige Einsichten zur inszenierten Thematik erörtert und erweitert, manches Mal auch diverse Mechanismen des politischen und sozialen Alltags offengelegt.

Gerade dieser Aspekt ist mir beim Lesen sehr positiv im Gedächtnis geblieben und hat mich sogar zum Lachen motiviert. Es ist eben jene luzide Klarsicht, die in Echtzeitalter mitschwingt. Es sind die messerscharfen Einsichten, die präzise die Verhaltensgewohnheiten von Menschen in verschiedensten Bevölkerungsschichten sezieren und auslegen. Und weil gerade auch Themen der Popkultur und Computerspielszene behandelt werden, insofern auch Menschen der älteren Generation mitreden können, überhaupt sich vielleicht jeder bei der Beschreibung des illustren Lehrpersonals an die eigene Schulzeit erinnert werden könnte, ist Echtzeitalter ein wahres Lesevergnügen, das tief blicken lässt – in mehrfacher Hinsicht. Und tatsächlich wohl auch auf Deutschland und überhaupt überallhin übertragbar.

Fragen zu Echtzeitalter

1. Welchen Stellenwert besitzt Schulbildung noch, wenn sie willkürlich, pädagogisch fadenscheinig, diskriminierend und bewusst ausgrenzend ist? Und welchen Stellenwert nehmen dann Computerspiele in einem dergestalt traumatischen Alltag ein?

2. Inwiefern treffen in Echtzeitalter verschiedene Generationen und Kulturen aufeinander? Wie wird dies dargestellt und welchem Zweck könnte diese Darstellung zugrunde liegen?

3. Welche grundlegenden Themen werden in Echtzeitalter inszeniert und wie werden diese dargestellt?

4 Und damit einhergehend: Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, die besonders negative oder positive Darstellungen evozieren?

5. Gibt es Szenen, die autobiografisch sind oder von eigenen Erlebnissen inspiriert wurden?

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Verwendete Literatur:

Brummack, Jürgen: Satire. In: RLE 3. New York 2003. S. 360-355.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Hamburg 2023.
James Joyce: Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main 1975.
Sternberg, Judith von: Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“ – Der Schüler Till. In: Franfurter Rundschau, erschienen am 19.06.2023, online unter: https://www.fr.de/kultur/literatur/tonio-schachinger-echtzeitalter-der-schueler-till-92351180.html.


[1] Sternberg, Judith von: Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“ – Der Schüler Till. In: Franfurter Rundschau, erschienen am 19.06.2023, online unter: https://www.fr.de/kultur/literatur/tonio-schachinger-echtzeitalter-der-schueler-till-92351180.html (zuletzt abgerufen am 20.11.2023).
[2] James Joyce: Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Frankfurt am Main 1975, S. 290.
[3] Ebd., S. 290. [4] Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Hamburg 2023, S. 9. [5] Ebd., S. 9. [6] Ebd., S. 13. [7] Ebd., S. 186. [8] Ebd., S. 92. [9] Ebd., S. 97. [10] Ebd., S. 241. [11] Ebd., S. 242. [12] Ebd., S. 243. [13] Brummack, Jürgen: Satire. In: RLE 3. New York 2003. S. 360-355, hier S. 355. [14] Schachinger: Echtzeitalter: S. 243. [15] Ebd., S. 245.

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