Strukturelle Gewalt gegen Frauen in Film und Literatur

Strukturelle Gewalt gegen Frauen ist kein antikes, mittelalterliches oder längst vergangenes Thema, das nur mehr in der Literatur, in Filmen oder Kunstwerken aufscheint. Es ist Alltag im Leben vieler Frauen und daher auch aus Gründen der Aufklärung immer einen neuen Blick wert.

Nibelungenlied, Jane Austens Überredung, Ovid, Pretty Woman und mehr

„[D]as Wort ‘Gewalt’ meint in seiner ursprünglichen Bedeutung ‚Kraft haben‘, ‚Macht haben‘, ‚über etwas verfügen‘ […]“.[1] Im Lateinischen findet sich der Begriff als potestas in vielen Quellen und wird unter anderem synonym für „Herrschaft […] über Sachen [und] Personen“[2] gebraucht. Strukturelle Gewalt, dieser Begriff wurde von dem norwegischen Soziologen Johan Galtung Ende der 1960er-Jahre entwickelt.[3] Laut Galtung liegt strukturelle Gewalt als Form der indirekten Gewalt dann vor, „wenn es keinen Täter, jedoch einen Dauerzustand von Gewalt gibt, […] die Gewalt auf irgendeine Weise in die soziale Struktur eingebaut sein“[4] muss. Die strukturelle Gewalt in verschiedenen Bereichen als ein stetes Hintergrundrauschen innerhalb einer Gesellschaft stellt einen Gegenbegriff zu der von einer konkreten Person ausgeübten direkten Gewalt dar.[5] Galtungs Begriff jedenfalls besitzt einen starken Zeitbezug mit Kritik an sozialistischen Regimen und der daraus hervorgehenden ungerechten Verteilung von Ressourcen und ungleichen Machtverhältnissen.[6]

Strukturelle Gewalt ist auch heute in der Gesellschaft mehr oder weniger offensichtlich vorhanden, vor allem oder immer noch strukturelle Gewalt gegen Frauen. Doch dies ist nicht immer leicht zu sehen, denn aufgrund von Sozialisierung und der Anpassung an gesellschaftliche Normen ist es schwierig, indirekte Mechanismen überhaupt erkennen zu können bzw. sind die entsprechenden Akte dieser Form von Gewalt in gesellschaftliches Handeln integriert. Sie werden sogar von Frauen gegen Frauen eingesetzt.

Inhaltsverzeichnis

Wie universell ist der Begriff der strukturellen Gewalt?

Der Begriff kann meiner Ansicht nach auf sämtliche Epochen übertragen werden. Das gilt auch für das Mittelalter und insbesondere die ungleiche Behandlung der Geschlechter innerhalb der patriarchalen Ordnung sowie der damit einhergehenden disparaten Verteilung von Einfluss, Ressourcen und Macht.[7] Das mittelalterliche Patriarchat kennzeichnet dabei „ein alle Lebensbereiche durchdringendes Herrschaftssystem[, dass] vor allem an einer strukturellen Spaltung in ‚respektable‘ (an einen Mann gebundene) und in ‚nichtrespektable‘ Frauen [definiert ist.]“[8] Der moderne Interpret muss demnach bei der Lektüre von beispielsweise mittelalterlicher Literatur, ich nenne als Beispiel das Nibelungenlied von 1200, die dort dargestellten Aspekte und die strukturelle Gewalt gegen Frauen und kulturelles Wissen aus mittelalterlichem Kontext berücksichtigen, das dem ursprünglichen Publikum zu eigen war und welches der Verfasser entsprechend übernommen haben wird.[9] Vielleicht muss er seiner Fantasie dabei auch gar keinen so großen Freiraum lassen, denn einiges ist auf die ein oder andere transformierte Weise erschreckend aktuell wie ich hier zeigen will.

Strukturelle Gewalt gegen Frauen und kulturelles Wissen

„Das kulturelle Wissen betrifft die Normen des Handelns, Regeln des Verhaltens, Annahmen über den Lauf der Welt, vor deren Hintergrund das Geschehen abläuft und die zu seiner Erklärung und Deutung abgerufen werden.“[10] Bei einer möglichen Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung, aus welcher die strukturelle Gewalt gegen Frauen hervorgeht, werden die Profiteure dieser Ordnung den Status quo mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen aufrecht zu erhalten.[11] In diesem Sinne basiert strukturelle Gewalt gegen Frauen auf einer streng hierarchischen Struktur, wobei Überschreitungen der bestehenden Ordnungsgrenzen von vornherein durch die Machthaber ausgeschlossen werden sollen.[12] „Die hierarchischen Strukturen produzieren auf sehr unterschiedliche Art ungleiche Verteilungen von Macht, Einfluss und Ressourcen, so dass sie selbst in unterschiedlicher Weise als Ausdruck von Gewalt verstanden werden können, sie produzieren aber auch Gewalt in unterschiedlichem Maße.“[13] Im Übrigen sind die betroffenen Gruppen austauschbar. Anstatt Frauen könnte man auch andere Gemeinschaften oder Personengruppen im zeitgenössischen Kontext benennen. Wer genauer hinsieht, der wird trotz vermeintlicher Aufklärung und vielschichtiger Angebote, die zur Offenheit einladen, Unstimmigkeiten und Widersprüche bemerken.

Alltag, Popkultur und strukturelle Gewalt gegen Frauen

Der Film Pretty Woman von 1990 wird auch heute noch als einer der „schönsten Liebesfilme“[14] betitelt. In der Handlung engagiert ein reicher Geschäftsmann eine Prostituierte für eine Woche, stattet sie mit teuren Kleidern aus und wird von anderen Männern fortan für seine sexy Begleitung beneidet. Das Happy-End besteht darin, dass sie den verschlossenen Mann zur Liebe bekehren kann und er ihr letztlich einen Antrag macht. Das Heiratsmotiv wird folgend häufiger im Vergleich aufgerufen. Das Motiv ist zudem nicht neu und existiert in Variationen schon seit langem. Die Geschichte von Edward Lewis beispielsweise gibt es abgewandelt auch schon in der Antike wie in Ovids Metamorphosen nachzulesen ist. Pygmalion hat so schlechte Erfahrungen mit den Frauen gemacht und verschließt sich daraufhin der Liebe.

Weil er diese gesehen ihr Leben verbringen in Unzucht,
weil die Menge der Fehler ihn abstieß, die die Natur dem
weiblichen Sinne gegeben, so lebte Pygmalion einsam
ohne Gemahl und entbehrte gar lange der Lagergenossin.[15]

Die Hintergründe bleiben offen, doch wäre ich schon neugierig auf die konkreten Umstände und die erwähnte Menge der weiblichen Fehler, die Ovid erwähnt. Doch er erschafft sich als Künstler die perfekte Frau aus Elfenbein. Das Kunstwerk sieht so echt aus, dass er meint, die Frau lebe, küsst und berührt sie. Er versinkt in seinem eigenen Werk.

Schmeichelworte sagt er ihm bald, bald bringt er Geschenke.
wie die Mädchen sie lieben, geschliffene Steine und Muscheln,
kleine Vögelchen auch und tausendfarbige Blumen,
Lilien, farbige Bälle und die von den Bäumen getropften
Tränen der Heliostöchter; auch schmückt er den Leib ihr mit Kleidern,[16]

Er steckt ihr einen Ring an, hängt ihr eine Kette um, steckt Perlen an die Ohren und mehr, deckt sie in Kleidung ein und bettet sie neben sich als „Genossin“[17] auf seinem Lager wie es ein Liebender tun würde. Am Fest der Venus erbittet Pygmalion eine reale Frau, die [s]einer elfenbeinernen ähnlich[18] sein soll. Und Venus erhört ihn, sein Wunsch wird gewährt. Der enttäuschte und durch Frauen erniedrigte Mann erschafft sich seine Traumfrau und wird letztlich bekehrt. Millionär Edward Lewis aus Pretty Woman, Professor Henry Higgins aus My Fair Lady oder Christian Grey aus 50 Shades haben frei nach Pygmalion ebenfalls am eigenen Leib die böse Natur der Frau erfahren müssen wie so viele andere, die hier aus Platzgründen nicht aufgeführt werden können. Mit dem ein oder anderen Mittel wird dann der bei Ovid dargestellte Schöpfungsprozess einer sich fügenden Frau geschaffen. Geld, Sex und Macht sind hier die Schlüsselbegriffe. Soviel zu diesem kurzen Abstecher. Allgemein kann festgestellt werden, dass derartige Motive und Anspielungen sich in der Werbung, in Sprichwörtern, überhaupt im alltäglichen Leben wiederfinden, diese aber nicht als strukturelle Gewalt gegen Frauen oder Diskriminierung wahrgenommen werden.

Frauen und ‘Mansplaining’ – ist das auch strukturelle Gewalt gegen Frauen?

Auch das seit einigen Jahren im alltäglichen Sprachgebrauch auffindbare Wort ‘Mansplaining’ fällt in diese Kategorie und ich zähle es zum Bereich der strukturellen Gewalt gegen Frauen. Das Wort ‘Mansplaining‘ umschreibt ein Phänomen des täglichen Lebens, das sicher jede Frau irgendwie irgendwo auf die ein oder andere Weise bereits erlebt hat. Das Merriam Webster-Dictionnaire definiert den Begriff mansplaining oder to be mansplained folgendermaßen: „to explain something to a woman in a condescending way that assumes she has no knowledge about the topic“[19]

Im Cambridge Dictionary wird mansplaing erklärt als „the act of explaining something to someone in a way that suggests that they are stupid; used especially when a man explains something to a woman that she already understands.“[20] ‘Mansplaining’ wird hier beschrieben als der Akt, einer Frau etwas auf eine Weise zu erklären, die den Eindruck erweckt, sie sei dumm. Sie wird vor allem dann verwendet, wenn ein Mann einer Frau etwas erklärt, was sie bereits versteht oder weiß.

Was ist ‘Mansplaining’?

„Mansplaining kann als Ausdruck eines wohlwollenden oder gutgemeinten Sexismus verstanden werden, denn aufgrund gesellschaftlicher, politischer und sozialer Veränderungen ist offener feindseliger Sexismus nicht mehr zeitgemäß und weithin verpönt, weil Frauen heute eine andere gesellschaftliche Stellung einnehmen und es nicht mehr akzeptabel ist, einer Person beispielsweise aufgrund ihres Geschlechts keine Chance zu geben. Dennoch findet diese Form des wohlwollenden Sexismus bewusst oder unbewusst statt, um die Geschlechterhierarchien aufrechtzuerhalten. Dies ist in der Regel keine aktive Absicht der Männer, sondern Teil der Struktur, in die die heutige westliche Gesellschaft eingebettet ist. Nur weil sich die kognitive Wahrnehmung von Geschlechterstereotypen verändert hat, bedeutet das nicht, dass es keinen Sexismus mehr gibt.“[21]

Die Geburt des Begriffs ‘Mansplaining’

Mit dem Begriff in Verbindung gebracht wird jedenfalls die US-amerikanische Autorin Rebecca Solnit, die 2008 den Essay Men Explain Things To Me veröffentlichte. Der Text ging viral und „circulated like nothing else I’ve done“[22], so Solnits Statement in der gleichnamigen Essaysammlung von 2014. Dabei stammt der Begriff nicht von ihr, auch wenn er von ihrem Essay inspiriert wurde.[23] Tatsächlich hat Solnit bezüglich des Begriffs sogar ihre Zweifel und verwendet ihn selbst nicht.[24] In ihrem Essay beschreibt sie einführend ein Erlebnis aus ihrem eigenen Leben. Auf einer luxuriösen Feier auf einem Anwesen im Skiort Aspen klärt ein älterer gutbetuchter Mann die Autorin über das sehr wichtige Buch über Eadweard Muybridge auf, einem Fotografen des 19. Jahrhunderts. Das publizierte Buch hat Rebecca Solnit selbst verfasst. Wie sieht das Ganze jetzt aus. „He was already telling me about the very important book – with that smug look I know so well in a man holding forth, eyes fixed on the fuzzy far horizon of his own authority.“[25] Solnits Begleiterin versuchte ihm in seine Erklärungen und Schwärmereien zu unterbrechen, denn das Buch von dem die Rede war, hatte Rebecca Solnit verfasst. Obwohl sie wusste, dass sie dieses Buch verfasst hatte, kam sie dennoch durch das Gespräch ins Grübeln, wer dieses andere Buch verfasst haben könnte – ein Zeichen für die trotz allem Erfolg vorherrschende Unsicherheit.

Mansplaining’ als Ausdruck für strukturelle Gewalt gegen Frauen

Insofern passt auch der genannte Begriff der strukturellen Gewalt, die sich im Allgemeinen und insbesondere gegen Frauen äußert sich „in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen.“[26] Doch wandelt sich strukturell bedingte und gesellschaftlich integrierte Gewalt in ihrer Essenz nur sehr langsam. Sie scheint „naturgegeben“[27] sowie mit gewisser Stabilität versehen.[28] Somit ist sie auch in der modernen Gesellschaft vorhanden, schwingt im Bewusstsein der Bevölkerung mit und zeigt sich an kulturell konservierten Rollenbildern, Vorurteilen und Erziehungsmuster, die sich diskriminierend und nachteilig auf das Leben vieler Frauen auswirken und doch für diese selbstverständlich erscheinen.[29] „Frauen [beispielsweise beziehen auch heute in vielen Berufen] deutlich geringere Bruttoeinkommen als Männer.“[30] Dass Männer an Kompetenz, Belastbarkeit und Führungstätigkeit der Frauen zweifeln[31], ist jedenfalls nicht neu. Und auch wenn viele Frauen Führungspositionen besetzen, so unterscheiden sich spezifische Aspekte wie gerade das Gehalt oder die Kommunikation. Beispielsweise ist mir einmal von einer weiblichen Vorgesetzten angeraten worden, ich solle mich an wichtige Personen ‘heranmachen’ bzw. konnte ich ein derartiges Verhalten tatsächlich in Gruppengesprächen an ihr beobachten. Dazu später mehr. In diesem Sinne folgt ein kurzer Rückblick in die Geschichte.

Zurück in der Zeit: Frauen und ihre Abhängigkeit im Patriarchat

Im Sachsenspiegel, das älteste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, das von Eike von Repgow verfasst wurde, entstand zwischen 1220 und 1235. Der Entstehungszeitraum des Nibelungenliedes ist um 1200 herum datiert, also vor der Aufzeichnung Eikes von Repgow entstanden. Bei den im Sachsenspiegel aufgenommenen Rechtstexten handelt es sich um keine Neuschöpfungen, sondern „um die Aufzeichnung des bis zu diesem Zeitpunkt geltenden volkssprachlichen Rechts durch einen Laien, der auch biblische und gelehrte Quellen in seine Darstellung einbezog.“[32] Der Sachsenspiegel kann damit als Hintergrundwissen des Autors in Bereichen des Rechts und insbesondere als Wissen um die rechtliche Stellung der Frau um 1200 aufgefasst werden. Allerdings lassen derartige Texte keinen allgemeingültigen Zugriff auf das mittelalterliche Leben in seiner Wirklichkeitsnähe zu.[33] Im Sachsenspiegel wird der Begriff „vormuntscap“[34] verwendet. „Frauen brauchen einen Vormund, Männer brauchen keinen Vormund“[35] ist eine dort verankerte Grundregel, die deutlich das Abhängigkeitsverhältnis der Frau von dem Mann im mittelalterlichen Gesellschaftssystem kennzeichnet. „[Dadurch ergab] sich nicht nur die Privilegierung des Mannes, sondern auch die zwangsläufige Ausrichtung der Frau auf diesen. In ihrer Unmündigkeit war sie auf dessen Hilfe angewiesen und in vielen Fällen von seiner Gunst abhängig.“[36] Noch im Bürgerlichen Gesetzbuch des 19. Jahrhunderts heißt es: „Das Vermögen der Frau wird durch die Eheschließung der Verwaltung und Nutznießung des Mannes unterworfen“[37] wobei hier die „patriarchalische Gestalt des [damaligen] Familienrechts“[38] zutage tritt. Misogyne Aspekte finden sich auch eingebettet in rechtlichen Strukturen. 1957 wurde ein Versuch unternommen den neuen Gleichheitsgrundsatz von Mann und Frau an das alte Familienrecht anzupassen, „der jedoch die traditionelle Rollenverteilung weiterhin aufrechterhielt und festschrieb.“[39] Das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts wurde erst am 1. Juli 1958 verabschiedet und wird stets erweitert. Trotz all der Errungenschaften ist strukturelle Gewalt gegen Frauen aber weiterhin in der modernen Gesellschaft vorhanden, schwingt wie erwähnt im Bewusstsein der Bevölkerung mit und zeigt sich an gesellschaftlich konservierten Rollenbildern, Vorurteilen und Erziehungsmustern.[40]

Strukturelle Gewalt und ihre latente Statik

Der Einfluss und die Statik von Aspekten struktureller Gewalt gegen Frauen durch allgemein akzeptierte gesellschaftliche Diskurse ist immens und sie ist immer noch spürbar. Im mittelalterlichen Nibelungenlied von 1200 durch körperliche Gewalt, Züchtigung und Enteignung und in den Romanen von Jane Austen um 1800 durch Gefallenwollen, Verheiratung, Standesdenken. In unserem Alltag durch ‘Mansplaining’, Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt. Dabei verwischen jedoch immer mehr die Grenzen. Denn wie so oft im Leben lässt sich nicht alles verallgemeinern oder pauschalisieren. Es gibt Frauen, die die Prinzipien dieser Form von Gewalt, also die strukturelle Gewalt so verinnerlicht haben, dass sie sich nicht auflehnen gegen diese subtile Form von Gewalt, sondern ebenso handeln, die indirekte Gewalt für sich selbst nutzen und im Rahmen des Patriarchats handeln.

Diese Formen von Gewalt wären beispielsweise Schuldumkehr bei Betroffenen von sexualisierter Gewalt oder Diskriminierung. Inwiefern Kleiderordnungen oder ein unausgesprochener Code hinsichtlich Frisuren und Stil und Sprache in diversen Systemen eingehalten wird, wäre darüber hinaus interessant zu analysieren. Sind Kurzhaarfrisuren in spezifischen institutionellen Umgebungen und Hierarchien eine Entscheidung des individuellen Stils, sind sie eine Form von unausgesprochener Mimikry oder basieren auf rein pragmatischen Gesichtspunkten? Oder sind solche stilistischen Indizien ein Zeichen für die physische Angleichung von Frauen an Männer innerhalb hierarchischer Systeme, die bis vor wenigen Jahren eben noch meist durch eine vornehmlich männliche Elite beherrscht wurden, während Frauen sich damals im Vorzimmer als Sekretärin die Hände wund tippten?

Die Frau ist „das Objekt der strukturellen Gewalt [und] kann [unter anderem durch Erziehung und bestehende Normen und Werte] dazu überredet werden überhaupt nichts wahrzunehmen.“[41] Trotz allem, wie kann es sein, dass diese misogynen Strukturen immer noch in der modernen Gesellschaft in Deutschland zu finden sind? Wir schreiben immerhin das Jahr 2024! Und „dennoch prägen viele frauendiskriminierende und frauenfeindliche Einstellungen unsere Gesellschaft.“[42]

Ich möchte im Rahmen dieser Einleitung am Beispiel zweier berühmten Werke der Weltgeschichte und ihrer Rezeption eben dies genauer betrachten. Es handelt sich um das mittelalterliche Nibelungenlied und Jane Austens Persuasion sowie einigen modernen Rezeptionszeugnissen.

Beispiel 1: Janes Austens Persuasion

Anne Elliot ist die Protagonistin aus Jane Austens Roman Persuasion, der 1818 posthum herausgegeben wurde. Persuasion, zu Deutsch Überredung – dieses Thema bestimmt den Roman. Nach acht Jahren treffen Anne und Kapitän Frederick Wentworth sich wieder. Damals hatte sie seinen Heiratsantrag nicht angenommen, sich gegen ihre Gefühle entschieden und sich von ihrer Familie zu der Abweisung überreden lassen, da Wentworth nicht standesgemäß erschien. Seitdem verging kein Tag, an dem Anne nicht an ihn gedacht hat. Nun kehrt Frederick als wohlhabender Marineoffizier und Kapitän zurück. Es beginnt eine zaghafte Annäherung, die nicht gänzlich ohne Missverständnisse und Eifersucht auskommt.

Mansplaining’ einmal anders bei Jane Austen?

Was könnte Janes Austens Klassiker mit dem modernen Begriff ‘Mansplaining’ verbinden? Tatsächlich stellen sich mit Blick auf die Neuverfilmung von 2022 einige Fragen, die der Diskussion würdig sind oder zumindest Fragen hinsichtlich der verschiedenartigen Inszenierung aufwerfen. Denn immerhin spielen Austens Romane um 1800, es werden also in mehrfacher Hinsicht Wendepunkte im Roman aufgezeigt. Und auch die historische Kluft, die eine gewisse Alterität hinsichtlich gesellschaftlicher Standards beinhaltet, ist deutlich an mehreren Kriterien erkennbar. Dass literarische Figuren nicht nur nach anthropologischen Kriterien geschaffen sind, sondern auch Symbolcharakter haben oder aber stellvertretend für Prinzipien oder sogar Erkenntnisprozesse ganze Epochen stehen können, ist bekannt. Nicht umsonst entsprechen die Figuren Elinor und Marianne Dashwood aus Austens Verstand und Gefühl den titelgebenden Prinzipien, sondern können auch als Stellvertreter zweier Epochen – der Aufklärung und der Romantik – gelesen werden.

Jane Austens Persuasion – die Neuverfilmung von 2022

Der folgende Dialog stammt aus der Neuverfilmung von Jane Austens Persuasion aus dem Jahr 2022 mit Dakota Johnson in der Rolle der Anne Elliot. Annes Cousine Louisa Musgrove fragt in diesem Dialog Anne nach ihrem Verhältnis zu dem gutaussehenden Kapitän und hat auch ein paar Tipps für eine passende Annäherung an das männliche Geschlecht parat. Übrigens steht hier eine Verbindung zu dem Tipp, den ich im beruflichen Verhältnis erhalten habe. Es sind Tipps, die sich mit dem Begriff der strukturellen Gewalt in Beziehung setzen lassen und mit patriarchalischen Verhältnisse und hierarchischen Systemen zusammenhängen.

„Then, you’ll pretend not to know a thing about anything. Men like explaining things.“

Louisa: Hast du Captain Wentworth mal kennengelernt?
Anne: Ganz flüchtig, vor langer Zeit.
Louisa: Stimmt es, dass er unglaublich attraktiv ist?
Anne: Er hat ein freundliches Gesicht, ja.
Louisa:  Und ist es wahr, dass er tatsächlich zuhört, wenn Frauen sprechen?
Anne: Ja, ist es. Er ist ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Das ist … elektrisierend.
Louisa: Nun, dann scheint er mir doch genau der richtige Mann für dich zu sein. Du wirst dich ihm an den Hals werfen.
Anne: Louisa …
Louisa: Nein, nein. Ich hab es mir genau überlegt. Du darfst dein Licht nicht mehr unter den Scheffel stellen.
Anne: Das ist sehr lieb von dir, aber Anweisungen wo ich mein Licht hinstellen soll, interessieren mich nicht. Oder mein Scheffel. [Luisa lacht]
Louisa:  Sag mir ganz ehrlich, warum bist du nicht verheiratet?
Anne: Ich warte darauf, mich zu verlieben.
Louisa: Gut, du wirst folgendes tun. Erstens wirst du direkt an seiner Seite sitzen.
Anne: Ich sitze an seiner Seite.
Louisa: Dann benimmst du dich so, als wärst du vollkommen ahnungslos. Männer lieben es, Dinge zu erklären. Sag ihm, dass du noch nie eine Gabel benutzt hast und bitte ihn um eine Erklärung.
Anne: So lernt ihr heutzutage einen Mann zu bezirzen?
Louisa: Und dann, wenn er anfängt sich für dich zu interessieren, gehst du nicht mehr auf seine Worte ein. Als wärst du ein Geist. [Irritierter Blick von Anne in die Kamera] Schon hängt er am Haken.[43]

Unterschiede der Überredung-Verfilmung von 2022 zu Jane Austens Roman Überredung

Ich habe das Buch gelesen, bevor ich den Film sah und ich kenne auch den Film von 2007. Sicher gibt es bereits intensive Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Verfilmungen des Romans – es sind wirklich einige interessante Unterschiede und Varianten dabei. Eine Analyse bezüglich der unterschiedlichen Figurenkonzeptionen im historischen Kontext der jeweiligen Zeit sowie die jeweilige Inszenierung wären sicher der eingehenderen Untersuchung wert. Was bei Robin Hood den Rahmen sprengen würde, ist bei Jane Austen durchaus möglich, kann hier jedoch nur in kleinem Rahmen geschehen.

Angesichts des soeben aufgeführten Dialogs ließe sich nach dem Warum dieser Inszenierung fragen. Denn während ich weiß, dass eine solche Szene im Buch nicht vorkommt, wissen es viele Rezipienten eben nicht. Wie Jane Austen diese Form der künstlerischen Freiheit wohl betrachtet hätte?!  – Das wird man auch nur fiktional darstellen können. Jedenfalls fällt die Umwandlung des Dialogs bzw. der im Buch dargestellten Thematik für mich in die Kategorie der Satire oder mindestens der Übertreibung. Denn im Buch sind die jungen Misses Musgrov und die ganze Abendgesellschaft an der Seefahrt und Wentworths Abenteuern interessiert, allerdings gibt es den aufgeführten Dialog so nicht. Ich werde daher noch einige Buchpassagen als Äquivalent zum Buch aufführen.

Die Abendgesellschaft in Jane Austens Roman Überredung

„Die ganze Gesellschaft hatte von der Seefahrt nicht die geringste Ahnung, und [Kapitän Wentworth] wurde, und zwar besonders von den beiden Misses Musgrove, die anscheinend nur für ihn Augen hatten, mit Fragen über die Lebensweise an Bord, die täglichen Pflichten, das Essen, die Arbeitszeit usw. bestürmt; und ihr Erstaunen über seine Berichte, über das Maß der an Bord herrschenden Bequemlichkeit und Ordnung veranlasste ihn zu liebevollem Spott, der Anne an frühere Zeiten erinnere, als sie ebenfalls keine Ahnung hatte und sich ebenfalls den Vorwurf gefallen lassen musste zu glauben, dass Seeleute ohne etwas zu Essen an Bord leben oder ohne einen Koch, der es gegebenenfalls anrichtete, ohne einen Diener, der es aufträgt, und überhaupt ohne Messer und Gabel zu benutzen.“[44]

Scheinbar fand ein Teil des Dialogs in anderer Form seinen Weg in die Neuverfilmung von 2022 – man beachte das erwähnte Besteck.

Kapitän Wentworth wird glühend bewundert

Während Wentworth erzählt, durchforstet man in gemeinschaftlicher Runde die Flottenkalender nach den Schiffen, mit denen er in See gestochen ist. Der Kapitän genießt die Aufmerksamkeit und Verehrung, die ihm durch die jungen Mädchen zuteilwird, denn es sind neben Louisa und Henrietta noch die jungen Misses Hayter anwesend.

„Den Misses Hayter, den weiblichen Mitgliedern der bereits erwähnten verwandten Familie, war offenbar ebenfalls die Ehre zuteilgeworden, sich in ihn verlieben zu dürfen, und was Henrietta und Louisa anging, so waren sie beide anscheinend so ausschließlich mit ihm beschäftigt, dass nur der anhaltende Eindruck ungetrübtesten Einvernehmens zwischen ihnen es glaubhaft erscheinen ließ, dass sie nichts erbitterte Rivalinnen waren. Wen konnte es wundern, dass er sich ein bisschen geschmeichelt fühlte bei solch allgemeiner, solch glühender Bewunderung.“[45]

Warum überhaupt das Original transformieren?

Die Frage nach dem Warum der transformierten Rezeption steht immer noch im Raum. Muss man Jane Austen verfremden und überspitzt stilisieren, damit moderne Leserinnen und Leser es verstehen? Oder ist diese Form der Verfremdung einfach ein Stilmittel, mit der die Neuverfilmung sich aus den immergleichen Historienfilmen abheben soll? Das hatte ja Game of Thrones mit vor radikaler Gewalt und pornographisch anmutenden Sexszenen geschafft. Oder baut die Darstellung auf dem Vorgängerfilm aus dem Jahr 2007 auf, will der Film etwas richtigstellen und Anne mehr Biss geben, sie aus der dort verzweifelten und bemitleidenswerten Position entheben? Will der Film Anne Elliot eine andere Stimme geben? Ist sie Opfer der strukturellen Gewalt ihrer Zeit und muss darum zur Flasche greifen und sich in Ironie flüchten? Wobei dann wieder die Frage nach der Art der Stimme vorhanden wäre. Hat Anne eine sarkastische Stimme, evoziert sie in irgendeiner Form Empathie oder Mitleid, macht sie vielleicht sogar wütend oder nervt sie Rezipienten? Was wird mit dieser Art der Darstellung beim Rezipienten evoziert? Lässt sich das überhaupt als strukturelle Gewalt erkennen?

Mich jedenfalls hat gerade diese Szene an ‘Mansplaining’ und strukturelle Gewalt erinnert. Was mich zunächst amüsiert hat, hat mich dann irritiert und letztlich eben gestört, darum dieser Beitrag. Was mich konkret stört, ist leicht zu benennen. Denn wie Louise Anne gegenüber salopp formuliert:

Stell dich dumm, dann kriegst du ihn rum, weil Männer gern erklären

Diese Aussage genauer zu betrachten, kann sich in mehrfacher Hinsicht als sehr interessant erweisen. Ganz davon abgesehen, dass aufgrund des runden Reims im ersten Teilsatz auch ein gut von den Lippen gleitender Schlachtruf formen ließe oder ein passabler T-Shirtaufdruck für den nächsten Urlaub, damit beim spätmorgendlichen Treff am Frühstücksbuffet vielleicht doch ein Flirt gelingt. Das Zitat lässt ein ganzes Spektrum an Schlüssen zu. Handelt es sich um eine moderne Fassung von Jane Austens Roman im Sinne einer Aktualisierung? Ist es eine satirische Überspritzung, ein Auf-die-Schippe-nehmen der gesellschaftlichen Bedingungen Englands um 1800? Oder aufgrund der Modernisierung der zeitgenössischen Annäherung der Geschlechter? Werden hier vielleicht sogar die Machtverhältnisse der Geschlechter verkehrt, die Frau als die eigentlich kluge Dame im Schachmatt um die männliche Gunst entlarvt? Oder zeigt sich hier auf eine verkehrte Art eben doch mehrfach gefaltet die weibliche Unterlegenheit als vermeintliche Überlegenheit, die letztlich aber doch in der Unterlegenheit der unbedingt notwendigen Verheiratung mündet? Ist aber auf der einfachen Figurenebene Louisas Ausdruck wichtig, um Einsichten über die Motive und Charaktere der Figuren zu gewinnen? Wir wissen, dass Louisa keine Probleme damit hat, sich dummzustellen. Anne belächelt dies jedoch süffisant.

Ich denke, dass für den Film die Szenen aus Austens Roman deutlich überspitzt und satirisch inszeniert wurden, teilweise auch mit absurden Elementen und Phrasen (Das Gespräch über den Oktopus-Traum bei den Dalrymples oder die Anspielung auf die schicksalshaften Fügungen durch das Universum sowie den situativ unpassenden Agamemnon-Witz). Es ist aber gerade diese Absurdität bis hin zur Banalität, die in Annes Fall leider auch immer mehr oder weniger für Peinlichkeiten sorgt, sie aber neben all dem Sarkasmus verletzlich wirken lässt.

Und immer wieder passt – das Nibelungenlied

Apropos Heirat. In der Kudrun, einem spätmittelalterlichen Werk geht es auch um Heiratspolitik, werden Frauen unter gewalttätigen Maßnahmen geraubt, um für die Machtübernahme fremder Bereiche verheiratet zu werden. Auch im Nibelungenlied gibt es mit Kriemhild und Brünhild zwei Frauen, die sich den Gesetzen und Normen des Patriarchats fügen müssen. Allerdings bewegen wir uns hier zeitlich ins Mittelalter um 1200, was jedoch mit dem Begriff der strukturellen Gewalt in Einklang gebracht werden kann. In einer absurden Überblendung lassen sich gewisse strukturelle Gemeinsamkeiten ausmachen, hat sich nach über 1000 Jahren Menschheitsgeschichte im gesellschaftlich-strukturellen Bereich doch eher nicht so viel geändert?! Wer sich nun die Eckdaten des Nibelungenliedes nicht konkret ins Gedächtnis rufen kann, irgendwie an Wagner denkt oder an Benno Fürmann, an einen Drachen oder mächtig viel Geld alias der Hort (den übrigens immer noch viele Schatzsucher im Rhein oder darum herum meinen aufspüren zu können), dem sei gesagt: Es ist alles wahr! Aber was bedeutet schon Wahrheit?

Strukturelle Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied

Das Nibelungenlied ist um 1200 von einem unbekannten Dichter verfasst worden. Schon in mittelalterlichen Rechtstexten wird dem Ehemann mit Ehelichung der Frau all ihr Gut mit freier Verfügung darüber zugesprochen.[46] Kurz zusammengefasst geht es im Nibelungenlied um Macht, Liebe, Rache, Herrschaft und Intrigen. Es ist fast wie bei Game of Thrones, könnte Kriemhild als Cersei durchgehen, wäre Brünhild eine Variante der mythischen Drachenmutter Daenerys Targaryen. Neben dem Heroen, Hortbesitzer und Drachentöter Siegfried, der die schöne Kriemhild aus Worms heiratet, gehören zum weiteren Ensemble ihre Brüder Gunther, Gernot und Giselher sowie der Hofstaat und Verwandten, allen voran der zwielichtige Hagen, dem man in deutscher Rezeptionsmanier trotz allem eine gewisse Treue unterstellen wollte. Die zweite weibliche Hauptperson ist Brünhild, die im Wettstreit unbesiegte Königin von Island, die nur den Mann heiraten will, der ihr überlegen ist. Durch männliche List wird dies geschafft, besitzt der starke und durch Drachenblut fast unverwundbare Siegfried einen Tarnmantel unter dem versteckt er dem schwachen Gunther durch den Agon hilft. Brünhild wird besiegt und kann sich eigentlich freuen – denkt sie doch, sie hätte den stärksten Mann erhalten. Doch sie wird betrogen und bekommt Tropf König Gunther. Brünhild vermutet jedoch lange Zeit, dass etwas nicht stimmt. Letztlich kommt es zum Streit mit Kriemhild, zum berühmten Streit der Königinnen, der eine Katastrophe in Gang setzt. Es geht darum, wer zuerst die Kirche betreten darf, das ist mit Statusfragen verbunden und so kommt die vormalige Lüge aus Isenstein wieder auf den Tisch. Zunächst wird Siegfried von Hagen ermordet, Siegfrieds Hort, der nach seinem Tod seiner Frau Kriemhild zusteht, wird ihr geraubt und im Rhein versenkt, die Witwe neu verheiratet mit dem Hunnenkönig Etzel. Nach langen Jahren lädt Kriemhild die Verwandten ins Hunnenreich ein und vollzieht ihre blutige Rache. Wahrscheinlich hat Pygmalion mit genau dieser Sorte Frau seine schlimmen Erfahrungen gemacht.

Frauen und strukturell bedingte Machtlosigkeit im Nibelungenlied

[…] »ez solde ein frumer man / daheinem einem wîbe   niht des hordes lân.«[47] (Es sollte ein umsichtiger Mann den Hort nicht in der Verfügungsgewalt einer Frau lassen)

Die Enteignung der Frau ist im Nibelungenlied Programm: Weibliche Verfügungsgewalt über Besitz ist inakzeptabel – auch bei Königinnen und Herrscherinnen. Die enteignete Frau steht dadurch stets in männlicher Abhängigkeit, wie es sich für Frauen gehört (Achtung: Ironie!). Das funktioniert auch bei Edward Lewis aus Pretty Woman über Geld, bei Christian Grey aus 50 Shades über Exklusivität und Luxus und auch bei Professor Henry Higgins aus My Fair Lady findet man diverse Attribute. Brünhild und Kriemhild sind sich dieser misogynen Programmatik und ihrer Abhängigkeit bewusst, akzeptieren weitestgehend ihre Unmündigkeit sowie die Definition ihrer Existenz über den Status des über sie verfügenden Mannes. Wer jetzt neugierig darauf geworden ist, wie das die weiblichen Hauptfiguren in anderen Filmen und literarischen Werken handhaben, der kann ja zukünftig auch einmal genauer hinsehen, so wie Benjamin von Stuckrad-Barre es laut Klappentext bei Noch Wach? gemacht hat. Und möglicherweise gibt es sogar Übereinstimmungen mit der Realität, fallen so Muster und Relationen zwischen Kunst und Wirklichkeit auf, die sich bedingen.

Das Wissen beider Geschlechter um jene forcierte weibliche Abhängigkeit ohne eigene Ressourcen und Rechte stellt strukturelle Gewalt gegen Frauen dar, wobei sie „ein fester Bestandteil von Herrschaftsordnungen“[48] ist, insbesondere der im Nibelungenlied dargestellten patriarchalischen Herrschaftsordnung. So kommt es, dass Siegfried und Gunther die Frauen wie Tauschobjekte ‘verschachern’ können, sie quasi wie Spielfiguren über das Brett schieben. Das Schachspiel ist übrigens eine interessante Allegorie zur mittelalterlichen Gesellschaft, man vergleiche darüber hinaus die dem König und der Königin möglichen Züge.

Frauen als Tauschobjekte für Männer – Zickenhandel und Zickenkrieg

»gîstu mir dîne swester   sô will ich ez tuon,
diue schœnen Kriemhilde    ein kuneginne hêr.«  (Str. 331,2-3)
(Wenn Du mir Deine Schwester, die schöne Kriemhild, die edle Königin, zur Frau gibst, so will ich es tun.)

»[…] und kumt die schœne Brünhilt   her in ditze lant,
sô wil ich dir ze wîbe   mîne swester geben« (Str. 332,2-3).
([…] und wenn die schöne Brünhild in dieses Land kommt, dann will ich Dir meine Schwester zu Frau geben.)

Kriemhild ist Tauschobjekt für die Mithilfe zur Eroberung Brünhilds. Das ist möglich, weil sie in der sogenannten munt, der Vormundschaft ihrer Brüder Gunther, Gernot und Giselher steht. Die Muntehe beschreibt eine „Ehe mit der M[unt] des Mannes über seine Frau, [wobei diese durch einen] Sippenvertrag zustande kam, bei dem die Frau eher als ‚Kaufgegenstand‘ […]“[49] erschien. Es ist demnach um 1200 legitim, dass Gunther mit Siegfried per Handschlag den Tausch seiner Schwester für die Hilfe bei der Brautwerbung Brünhilds abmacht (Str. 331-332), als würde er seinem Nachbarn eine braune Ziege gegen eine weiße Ziege geben. „Wesentlicher Bestandteil der Vatermunt war der Heiratszwang, d. h. das Recht des Vaters, sein Kind zu verheiraten“[50], wobei Gunther als munt den Vater Kriemhilds ersetzt. Die Unterordnung der Frau ist im Nibelungenlied auch Erziehungssache. »soltu immer herzenliche   zer werlde werden vrô, / daz geschiht von mannes minne. […]« (Str. 14,2-3). (»Wenn du jemals auf der Welt sehr glücklich wirst, so geschieht dies allein durch die Liebe eines Mannes«)Diese Aussage von Kriemhilds Mutter Ute steht für die mit der weiblichen Erziehung zusammenhängende Indoktrinierung der weiblichen Abhängigkeit vom Mann. Mit Liebe ist allerdings weniger die Emotion gemeint, sondern der Status, die Sicherheit, die hier der männliche Part bietet.

Witzig, dazu gibt es auch ein Zitat in der neuen Jane Austen Verfilmung von 2022:

Anne: Warum gehen alle davon aus, dass Frauen sich nichts sehnlicher wünschen als von irgendeinem Junggesellen auserwählt zu werden?
Mary: Weil dir im Leben nichts Besseres passieren kann, als verheiratet zu sein.[51]

Wieder zum Nibelungenlied zurückkehrend – es scheint naheliegend, dass Brünhilds Mutter ihr einst ebenfalls entsprechende Weisheiten mit auf den Weg gegeben hat. Die Frau wird von klein auf in die unmündige Rolle in Abhängigkeit des ihr vorstehenden Mannes dirigiert, beziehungsweise ihr wird suggeriert, das Glück nur über den ihr vorstehenden Mann erlangen zu können.

Der Mann als Zentrum im Universum der Frau

Die gezielte Ausrichtung der weiblichen Existenz auf den Mann erfolgt so früh wie möglich. Die Enteignung der Frau sowie die totale Ausrichtung der Frau auf den Mann durch Vormundschaft und die damit einhergehende stark beschränkte Rechtsfähigkeit sind Aspekte des mittelalterlichen Lebens, die sich in vielen zeitgenössischen Quellen sowie entsprechender Literatur wiederfinden. In mittelalterlichen Diskursen ist das Wissen um das untergeordnete Bild der Frau somit stets präsent, wobei Dichter dieses Wissen aufgriffen, ihren Intentionen entsprechend in ihre Werke aufnahmen und veränderten. Die Enteignung durch den Mann, Vormundschaft unter dem Mann, Abhängigkeit vom Mann und Wahrnehmung der eigenen Existenz über den Mann stellen die Rahmenbedingungen struktureller Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied dar. An mehreren Stellen werden Brünhild und Kriemhild enteignet bzw. lassen sie sich enteignen, besser gesagt, müssen sie sich enteignen lassen. Das geht, weil sie schließlich heiraten und ab sofort alles über den Mann ‘läuft’. In diesem Sinne lohnt es sich einen Blick in das Gleichstellungsgesetz von 1957 zu unternehmen, das am 1. Juli 1958 in Kraft getreten ist.[52] Beispielsweise beschwert sich Brünhild, weil vor ihrer Reise nach Worms ihr gesamtes Vermögen verschenkt wird.

»[…] er swendet mir mîn golt« (Str. 515,3)
([…] er verschwendet sogar mein Gold.)
»Er gît sô rîche gâbe,   jâ wænet des der degen,
ich habe gesant nâch tôde.   ich wils noch lenger pflegen.« (Str. 516,1-2).

(Er gibt so reichlich, ja glaubt der Ritter denn,
ich dächte an mein Ende? Ich will noch länger leben.)

Auslöschung weiblicher Identität durch Enteignung – damals wie heute?

Genau das ist das Ziel: Brünhild soll sozusagen den Tod erleiden. Ihre Existenz als Herrscherin mit Verfügungsgewalt über Besitz soll durch Dankwarts milte bestenfalls vollständig eliminiert werdenDaz er milte wære,   daz tet der degen schîn. (Str. 512,4). (Dass er freigiebig war, stelle der Ritter dabei unter Beweis.)

Schenken ist zwar eine Herrschertugend, aber „völlige [ökonomische] Verausgabung bedeutet Tod durch Auslöschung der sozialen Existenz.“[53] Brünhild ist dementsprechend bereits nach der Übergabe ihrer gewalt (Str. 466,3) nach ihrer Niederlage im Wettkampf auf Isenstein an Gunther gesellschaftlich und ökonomisch tot, und kann sich nur noch als weibliches Anhängsel des Burgunden begreifen.[54] Allerdings hat sie selbst die Auflösung ihres Vermögens auf diese Weise initiiert. Hier zeigt sich die verinnerlichte strukturelle Gewalt durch Erziehung und die gesellschaftlichen Normen.

Bei Kriemhild ist es ähnlich, ihr Erbe in Form von Ländereien weißt Siegfried ab. Kriemhild nimmt in die Ehe keinen Besitz mit und ist in Xanten, dem Reich von Siegfried an seine Existenz gebunden. Die Frau definiert sich und ihren Status über den Mann, das wird im sogenannten Königinnenstreit zwischen Brünhild und Kriemhild noch überaus wichtig. Der entsteht nämlich aufgrund von Statusfragen, die an den Mann gebunden sind über den sich die Frauen identifizieren. Wir wissen als Rezipienten ja, dass Brünhild getäuscht wurde. Sie hat mit Gunther nicht den stärksten Mann geheiratet, sondern Siegfried steckte unter der Tarnkappe und verhalf ihm zum Sieg. Sie merkt auch, dass etwas nicht stimmt, aber kann nie richtig den Finger darauflegen.

Der Zickenkrieg / Königinnenstreit = strukturelle Gewalt gegen Frauen

Der Betrug an sich ist es aber nicht, der die Frauen interessiert, sondern die Frage nach dem Status. Das Königinnenstreit (Av. 14) erscheint absurd, zieht man in Betracht, dass sich die augenscheinlichen ‘Opfer’ wegen der Männer streiten, die sie enteignet, entmündigt, betrogen, objektviert und gedemütigt haben. Es geht schlicht darum, wer den angeseheneren, mächtigeren Ehemann hat (Str. 812-825), wobei keine der beiden Frauen sich als Opfer struktureller Gewalt begreift. Im Gegenteil, sie sind auch noch stolz auf ihre marginale Rolle, beziehungsweise auf den von ihrem Mann auf sie übertragenen Status.[55] Die Beeinflussung beider Figuren durch die dem Patriarchat innewohnenden Werte und Normen ist offensichtlich und damit strukturelle Gewalt gegen Frauen. Anstatt sich zu verbünden oder sich untereinander solidarisch zu zeigen, verkehren sich die Verhältnisse.

Und hier zeigen sich erschreckende Ähnlichkeiten zur modernen Rezeption und realen Verhältnissen. In Albert Ostermaiers Gold Der Film der Nibelungen verarbeitet er das Nibelungenlied im Rahmen kultureller Diskurse, Anleihen und Anspielungen der Popkultur und zeitgenössischen Themen, denn es wird ein Nibelungenfilm gedreht.

Das Nibelungenlied als Projektionsfläche für vieles und alles

KUBIK (Regisseur) Das ist mein »Apokalypse Now«, verstehst du. Das ist die fucking Metametaebene. Charlie, erkläre es ihm.
WEIDE (Drehbuchautor) Kubik ist Coppola. Worms ist der Kongo […][56]

Interessant ist die intertextuelle bzw. darüber hinaus die intermediale Verbindung, welche die fiktionale Figur hier über das mittelalterliche Epos und die damit zusammenhängenden Figuren eröffnet. Und natürlich darf dann auch der interkulturelle Aspekt nicht außer Acht gelassen werden. Der ist im Original ja mit Brünhild sehr deutlich vorhanden und später auch mit Etzel bzw. Kriemhilds Verheiratung mit einem ‘Fremden‘. Apocalypse Now ist ein US-amerikanischer epischer Kriegsfilm aus dem Jahr 1979, der von Francis Ford Coppola produziert und inszeniert wurde. Das von Coppola, John Milius und Michael Herr gemeinsam geschriebene Drehbuch basiert lose auf der Novelle Heart of Darkness von Joseph Conrad aus dem Jahr 1899, wobei der Schauplatz vom Kongo des späten 19. Jahrhunderts zum Vietnamkrieg geändert wurde. Und nun wird das alles von Ostermaier auf das deutsche mittelalterliche Nibelungenlied projiziert, das eben auch mehrere Weiblichkeitskonstruktionen enthält. Soviel zur Metametaebene und dem zugehörigen intertextuellen und intermedialen sowie interkulturellen Kontext.

Die im Nibelungenlied enthaltenen Themen verselbständigen sich auf das dargestellte Set, die Figuren projizieren ihre psychologischen Befindlichkeiten auf die fiktionalen Figuren, die sie spielen sollen, was eine Art absurden Katharsis-Effekt mit sich bringt und damit strukturelle Gewalt demonstriert. Die weiblichen Hauptrollen werden zur detailgetreuen Darstellung mit älteren und jüngeren Schauspielerinnen besetzt: Simone Gehel und Karina Bergmann spielen beide Kriemhild, Nathalie Aurun und Lotte Jünger spielen jeweils Brünhild.“[57]

Metametadiskursivität und strukturelle Gewalt in Osternmaiers Nibelungenlied-Neuauflage

Die alternde Schauspielerin Karina Bergmann spielt die Kriemhild und setzt ihre Racheabsichten mit jenen der mittelalterlichen Königin gleich – sie will trotz ihres Alters noch einmal ganz groß rauskommen „Aber die Rolle, da konnte ich nicht nein sagen. Das ist meine Rache, habe ich mir gesagt, endlich. Darauf hast du gewartet.[58] Letztlich wartet auch Kriemhild im Nibelungenlied auf den Tag der Rache.

Allerdings sexualisiert die ältere Krimhild Ostermaiers das Ganze. Sie hat ja schließlich auch Pornos gedreht. Sex sells. Das ist Fakt. Im Showbiz und überall sonst. Harvey Weinstein ist nur die Spitze des Eisbergs, die Debatten können endlos geführt werden. Schlimm ist allerdings, dass es Frauen gibt, die sich anbiedern und verkaufen, gerade auf den Einsatz ihres Körpers setzen, weil es sonst mit der Karriere oder dem Ehemann nichts wird. Eben diese Thematik verarbeitet Ostermaier über die intertextuelle, intermediale und interkulturelle Verwobenheit von mittelalterlichem Epos und moderner Popkultur im Zusammenhang mit zeitgenössischen Diskursen, die er zu transformieren weiß.

Ostermaiers Zwangsverheiratung von Brünhild – transformative Kunstgriffe mittelalterliche Heiratspolitik

Bezüglich der Verheiratung von Brünhild ist das Werk sehr deutlich.

KUBIK Carmen, ich will Brünhild in einem weißen Hochzeitskleid. Hagen kommt mit einem geschossenen Reh über dem Rücken. Er hängt es auf und öffnet es mit seinem Schwert. Zuerst Hagen, dann Gunther und Siegfried tauchen ihre Hände ein, bis sie voller Blut bis zu den Armen sind. Brünhild wird auf einen Thron in der Mitte der Bühne gesetzt. Sie wird gefesselt in ihrem Hochzeitskleid, die Augen werden ihr verbunden, die Ohren. Der Mund wird ihr verstopft mit einem Schal Kriemhilds.
KUBIK Passt auf, Jungs. Ihr spielt die Szene ganz normal, ihr ignoriert, dass Brünhild da ist. Sie ist Luft für euch, Schlachtvieh. Ihr kreist um sie und jeder berührt sie flüchtig mit den Händen. Und dann am Ende, Siegfried, legst du ihr den kleinen Hund in den Schoß. Und, bitte![59]

Alleine an dieser Szene könnte man Jagd und Liebe in der Literatur in Beziehung setzen, spezifische Attribute hinsichtlich ihrer Funktion analysieren wie den Schal und warum es hier ein Schal ist und nicht mehr der im Nibelungenlied den Streit auslösenden Gürtel, das Blut und vieles andere mehr. Der Zickenkrieg vorm mittelalterlichen Dom wird dann ebenfalls intertextuell und intermedial über mehrere Ebenen hinweg als Aspekt struktureller Gewalt aufgespannt.

SIMONE zu Nathalie So eine gute Schauspielerin ist sie gar nicht, als dass das gespielt sein könnte.
NATHALIE Sie wollen uns die Show stehlen. Das ist wie bei Sterbenden, kurz bevor sie abkratzen, durchpulst sie nochmals das Leben.
KUBIK Also, Kriemhild und Brünhild streiten sich, wer zuerst in die Kirche darf. Und ihr streitet euch, wer in den Film darf.[60]

Es geht hier nicht mehr nur um Status, sondern auch um das Alter und die damit häufig in der Gesellschaft und auch speziell in der Medienbranche verbundene Diskriminierung, Schönheitswahn und den Druck möglichst auf ewig jung zu bleiben.

Das patriarchalische Ausbeutungsnarrativ greift weiterhin

Ostermaier präsentiert die nibelungisch transformierte strukturelle Gewalt so:

KUBIK Es sieht aus wie von Trauer produziert, versteht ihr? Das ist so, wie es zu erwarten wäre, gut, ja, ihr wart gut, ja, gut, sehr gut, es ist alles vielleicht dunkler als im TV, und ihr seid, na ja, furioser als im ZDF und sicher fallen denen die Zähne aus dem Gebiss, wenn sie euch streiten sehen. Es ist bisschen Boogie Nights; Botox, Silikon, Gammelglamour, Seventies, aber over, und im Nebel.
KARINA Du meinst, wir spielen alte Nutten.
NATHALIE Milf-Wars.
LOTTE Was meint sie, Karina, die kleine Schlampe?
KUBIK Ich habe mir das mit der Doppelbesetzung überlegt, weil ich mir vorgestellt habe, ihr wolltet da alle vier rein in den Dom, das ist nicht nur Kriemhild gegen Brünhild, das ist auch alt gegen jung, berühmt gegen usw., das ist einfach durch alle Zeiten Zickenkrieg.
NATHALIE Das ist dieses zeitlos patriarchalische Ausbeutungsnarrativ.[61]

Jetzt spricht Nathalie alias die junge Brünhild eben aus, wovon ich hier schreibe und ergänzt den Begriff ‘Ausbeutung’.

Zeitlos. Patriarchat. Ausbeutung. Narrativ. Strukturelle Gewalt gegen Frauen.

Ich denke, die Zeitlosigkeit des im Mittelalter offensichtlichen und der heute immer noch latenten oder zumindest immer noch strukturell vorhandenen patriarchalen Muster und Aspekte wurde anhand der hier aufgeführten Beispiele deutlich. Ich kann hier nur für den deutschsprachigen Raum aus meiner Perspektive sprechen. Beispiele finden sich zum Beispiel im Kollektivroman wir kommen, auch in Delphine de Vigans Roman No & ich sind Aspekte vorhanden, werden auch in der Popkultur in Serien wie Buffy verarbeitet. In anderen Teilen der Welt sieht es noch ganz anders aus, ein literarischer Beleg ist zum Beispiel Aurora Venturinis Die Cousinen, ein argentinischer Roman. Einen anderen Fokus auf das Ausbeutungsnarrativ wirft der Gewinnerroman des diesjährigen Buchpreises Hey Guten Morgen, wie geht es dir? auf, bei dem das Thema Kolonialismus eine Rolle spielt und das weibliche Ausbeutungsnarrativ der weißen Frau auch noch verknüpft ist mit der kolonialien Ausbeutung. Ein Thema, das auch Lene Albrecht überdies auch in ihrem Roman Weiße Flecken mit der Suche nach der eigenen Herkunft, dem Erzählen von Identität und Scham verbindet.

Was ist mit Ausbeutungsnarrativ gemeint? Wie bereits erwähnt geht es bei dem Streit der mittelalterlichen Königinnen um die Identität und den Status der über den jeweiligen Ehemann bezogen wird. Diskriminierung und Ausgrenzung sind strukturelle Gewalt gegen Frauen und werden hier von den vermeintlichen Opfern selbst gegeneinander angewandt. Die aus dem Königinnenstreit resultierende Rache Brünhilds und die darauffolgende Ermordung Siegfrieds klären eindeutig die strukturell bedingte Statusfrage. Brünhild kann so absolut sicher sein, dass sie mit Gunther den mächtigsten Mann an ihrer Seite hat, wie sie es schließlich mit der Inszenierung ihrer Wettkämpfe vorgesehen hatte.[62] In diesem Sinne lässt sich am Königinnenstreit exemplarisch der „Dauerzustand von Gewalt [gegen Frauen aufzeigen, der] auf irgendeine Weise in die soziale Struktur eingebaut sein muss“[63], und als passive Gewalt in Form von Normen und Rechten die strukturellen Rahmenbedingungen liefert, in denen indirekte Gewalt stattfinden kann, und aus denen direkte Gewalt erwächst.[64]

Warum kann das patriarchalische Ausbeutungsnarrativ immer noch ausgebeutet werden?

Weil Frauen als Schuldige dargestellt werden können! Sie beschuldigen sich schließlich selbst gegenseitig, anstatt sich gegen die Schuldigen zu wenden und für Gerechtigkeit zu sorgen. Ja, das ist alteritär, zu modern gedacht. Ja, das hat man mir auch schon damals gesagt, als ich einige der hier besprochenen Passagen in meiner Bachelorarbeit aufgeführt habe. Aber gerade an Ostermaiers Darstellung, so überfrachtet sie manches Mal zu sein scheint, bricht sich diese transformierte Aktualität Bahn. Und er kann es benutzen, weil jeder sofort weiß, worum es geht! Wenn Frauen sich die Brüste, die Lippen, die Haare, den Hintern machen lassen müssen, um anzukommen, zu gefallen und zu bestehen ist das eine Seite. Wenn Frauen ihre Weiblichkeit verstecken müssen, ihre Physis vom Stil und der Kleidung her an Männer anpassen, um vor Männern überhaupt in ihrer Intelligenz zumindest bemerkt zu werden, sich damit aber immer noch anbiedern müssen, um in die so gleichberechtig erscheinenden Führungspositionen gelangen zu können, dann ist das die andere Seite. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Und die Medaille ist janusköpfig, ist das Ausbeutungsnarrativ. So oder so, die patriarchalen Strukturen sind vorhanden. Ich kann sie sehen. Ostermaier auch. Die Figuren sowieso – egal in welchem Zeitalter. Solange Frauen in Führungspositionen gelangen, die von ihren Angestellten verlangen, sich bei hierarchisch über ihnen stehenden Personen anzubiedern oder ‘heranzumachen‘ (was mir tatsächlich empfohlen wurde) sehe ich keine Verbesserung in der Hinsicht.

Die Suche nach wahren Vorbildern – gibt es die überhaupt?

Wie sollen Mädchen und junge Frauen Vorbilder bekommen, wenn weibliche Führungskräfte und Vorgesetzte Codes und Verhalten aus althergebrachten patriarchalen Systemen folgen, anstatt sich tatsächlich als weibliches Vorbild und Symbol für eine neue Zeit zu präsentieren und zu etablieren? Meiner Meinung nach haben Frauen in Führungspositionen die Pflicht, ein vernünftiges Vorbild für zukünftige Generationen darzustellen! Wem soll es helfen, wenn sie sich selbst, die ja bereits in diesen hohen Positionen stehen, (bei den männlichen Kollegen) anbiedern, einschmeicheln, in nicht ernst gemeinten Komplimenten suhlen und dann auch noch gegen Kolleginnen und Angestellte intrigieren? Damit sind sie Marionetten der patriarchalischen Strukturen. Es muss anders gehen, Jahre nach Machiavellis Il Principe oder Die Kunst des Krieges von Sun Tzu. Das scheint aber für einige oder viele aufgrund der beschriebenen und latent vorhanden männlich ausgerichteten Strukturen sowie der damit zusammenhängenden Gewalt, der Aussicht auf Macht und der damit einhergehenden Chance zur längst überfälligen Ausübung vermeintlich eigenständiger Kontrolle aufgrund langjähriger, vielleicht meist unbewusster Unterdrückung schwierig zu sein. Es könnte auch an mangelnder Charakterstärke, fehlender Moral und Empathie liegen.

Ein Arschloch kann jeder sein. Vielleicht hängt alles ja gar nicht mit struktureller Gewalt zusammen. Menschen sind eben so. Nachdem ich damals diesen erwähnten Tipp von meiner ehemaligen Vorgesetzten bekam, war ich jedenfalls enttäuscht und angewidert. Von so jemandem sollte ich etwas lernen? Was konnte ich von so jemandem wirklich lernen? Mein Bild bedurfte einer Korrektur. Das herauszufinden bleibt letztlich jedem selbst überlassen. Ich gehe eigentlich auch davon aus, dass diese Fragen nicht wirklich jemanden interessieren, weil es eben eine gängige Praxis im Sinne von ‘nach oben buckeln, nach unten treten’ ist und das ist überall präsent. Doch ich fühlte mich durch diesen Rat in meiner Intelligenz herabgewürdigt. Das haben Frauen in Führungspositionen nicht nötig! Sie sollten es nicht nötig haben! Und doch scheint es notwendig zu sein, wenn dieses mir angeratene Vorgehen allumfassend und nicht die Ausnahme, sondern die Regel scheint. Und vielleicht handelt es sich dabei auch einfach um eine Einstellungssache, kommt es darauf an, mit welcher Art von Mensch man es zu tun hat, ist die Angelegenheit also individueller Natur.

Und wieder sind wir beim universalen Ausbeutungsnarrativ.

Zeit, ein anderes Kapitel in dieser Hinsicht aufzuschlagen, strukturelle Gewalt zu erkennen und aufzulösen!

Verwendete Literatur

Quellen

Austen, Jane: Überredung. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe. Stuttgart 2009.

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Cracknell, Carrie: Persuasion [Film]. United States: MRC, Bisous Pictures, Mad Chance, Fourth and Twenty Eight Films, 2022.

Ostermaier, Albert. Gold. Der Film der Nibelungen.: Eine Komödie. (Kindle-Version)

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Sekundärliteratur

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[1] Fenske, Hans: Gewaltenteilung, in: Brunner, Horst; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart: Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 2 (1975), S. 924. [2] Vones, Ludwig: potestas, in: LexMa 7 (1999), Sp. 131. [3] Imbusch, Peter: „Strukturelle Gewalt“. Plädoyer für einen unterschätzten Begriff, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 26/3 (2017), S. 28. [4] Ebd., S. 29. [5] Ebd. [6] Ebd., S. 31. [7] Ebd., S. 49. [8] Cyba, Eva: Patriarchat: Wandel und Aktualität, in: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (Geschlecht & Gesellschaft, 35), Wiesbaden 2010, S. 18. [9] Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 2010, S. 30-31. [10] Ebd., S. 30. [11] Galtung, Johan: Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Senghaas (Hg.): Kritische Friedensforschung, Frankfurt am Main 1972, S. 79. [12] Ebd., S. 81. [13] Imbusch: „Strukturelle Gewalt, S. 49. [14] Das sind die schönsten Liebesfilme aller Zeiten, online unter: www.brigitte.de/liebe/persoenlichkeit/das-sind-die-schoensten-liebesfilme-aller-zeiten-10835494.html (zuletzt abgerufen am 05.04.2024). [15] Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. In deutsche Hexameter übertragen und herausgegeben von Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg. München/Zürich 1992, S. 371. [16] Ebd., S. 373. [17] Ebd. [18] Ebd. [19] Merriam-Webster.com Dictionary: Mansplain, Merriam-Webster, https://www.merriam-webster.com/dictionary/mansplain, online unter: https://www.merriam-webster.com/dictionary/mansplain (zuletzt aufgerufen am 24.3.2024). [20] Cambridge Advanced Learner’s Dictionary & Thesaurus © Cambridge University Press: mansplaining, online unter: https://dictionary.cambridge.org/de/worterbuch/englisch/mansplaining (zuletzt aufgerufen am 24.3.2024). [21] Stangl, W.: Mansplaining. In: Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik, online unter: https://lexikon.stangl.eu/35284/mansplaining (aufgerufen am 06.04.2024). [22] Solnit, Rebecca: Men Explain Things To Me. London 2014, S. 12. [23] Ebd., S. 14. [24] Ebd. [25] Ebd. [26] Galtung: Gewalt, Frieden und Friedensforschung, S. 62. [27] Ebd., S. 67. [28] Ebd. [29] Neuwöhner, Marianne: Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich an Rechten. Frauenrechte und der Auftrag für die Soziale Arbeit, Marburg 2010, S. 65. [30] Ebd., S. 71. [31] Ebd., S. 77. [32] Frank, Petra: Weiblichkeit im Kontext von potestas und violentia. Untersuchungen zum Nibelungenlied, online in: https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/frontdoor/index/index/docId/1004, 2004 (Stand: 29.08.2018), S. 19. [33] Freche, Katharina: Von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn. Untersuchungen zur Geschlechterkonstruktion in der mittelalterlichen Nibelungendichtung, in: Berger, Günter; Kohl, Stephan; Röcke, Werner (Hg.): LIR (Anglistische, germanistische, romanistische Studien, 21), Trier 1999. [34] Rummel, Mariella: Die rechtliche Stellung der Frau im Sachsenspiegel-Landrecht. Frankfurt am Main [u. a.] 1987 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte, 10), S. 46. [35] Ebd., S, 47. [36] Frank: Weiblichkeit im Kontext von potestas und violentia, S. 28. [37] Neumann, Hugo: Handausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich unter Berücksichtigung der sonstigen Reichsgesetze nebst einem Anhang betreffend die Preußische Ausführungsgesetzgebung für Studium und Praxis. Zweiter Band, Berlin 1900, S. 757. [38] Lettmaier, Saskia: „Law and …“: Wandlungen des Eherechts im Lichte sich wandelnder Subjektkulturen, in: Rechtskultur. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte. Methode der Rechtsgeschichte und ihrer Nachbarwissenschaften, 2 (2013), S. 14. [39] Neuwöhner: Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich an Rechten, S. 43. [40] Ebd., S. 65 [41] Imbusch: „Strukturelle Gewalt“, S. 67. [42] Neuwöhner: Die Frau ist frei geboren und gleich dem Manne an Rechten, S. 65. [43] Cracknell, Carrie: Persuasion [Film]. United States: MRC, Bisous Pictures, Mad Chance, Fourth and Twenty Eight Films, 2022, 0:19:43-0:20:48. Es mag unnötig erscheinen, doch manchmal lässt die automatische Übersetzung zu wünschen übrig. Aus diesem Grund führe ich auch die Originalversion mit auf. Louisa: Have you ever met Captain Wentworth? Anne: In passing, long ago. Louisa: Is it true he’s devastatingly handsome? Anne: He has a kind face, yes. Louisa: And is it true he actually listens when women speak? Anne: He listens. He listens with his whole body. It’s … electrifying. Louisa: Well, then, he sounds like just the man for you. I insist you pursue him. Anne: Louisa … Louisa: No, no. I’ve made up my mind, Anne. Anne: No more hiding your ligt unterneath a bushel. Louisa: You are very sweet, but I’m not interested in receiving instruction on where to put my light. Or my bushel. Louisa giggles. Louisa: Tell me, honestly, why aren’t your married? Anne: I‘ waiting to fall in love. Louisa: All right, here’s what you’ll do. At dinner, you’ll sit right next to him. Anne: I’ll sit right next to him. Louisa: Then, you’ll pretend not to know a thing about anything. Men like explaining things. Tell him you’ve never used utensils, aks him to teach you how to hold them. Anne: Is this how they’re teaching courtship these days? Louisa: Then, just when he starts to seem interested, don’t respond to a single thing he says. As you were a ghost.  [Anne looks irritated] He’ll be hooked. [44] Austen, Jane: Überredung. Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe. Stuttgart 2009, S. 78. [45] Ebd., S. 88. [46] Rummel: Die rechtliche Stellung der Frau im Sachsenspiegel-Landrecht, S. 103. [47] Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift B herausgegeben von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2010, Str. 1127,1-2. [48] Imbusch: „Strukturelle Gewalt“, S. 42. [49] Ogris, Werner: Munt, Muntwalt, in HRG 3 (1984), Sp. 750-761, hier Sp. 750. [50] Ebd., Sp. 756. [51] Cracknell: Persuasion, 0:33:35-0:34:03 Anne: Why must everyone always assume that all women want ist o be chosen by any eligible bachelor? Mary: Because marriage ist he greatest blessing that life can offer. [52] Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts, online unter: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl157026.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl157026.pdf%27%5D__1712393486310 (zuletzt aufgerufen am 06.04.2024) sowie weitere Informationen unter: Gleichberechtigung wird Gesetz, online unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/271712/gleichberechtigung-wird-gesetz/#:~:text=Am%201.%20Juli%201958%20trat,bis%20heute%20werden%20Frauen%20benachteiligt.&text=in%20Artikel%203%20der%20Verfassung%20formuliert (zuletzt aufgerufen am 06.04.2024). [53] Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 348. [54] Ebd., S. 349. [55] Lienert: Geschlecht und Gewalt im ‘Nibelungenlied’, S. 12. [56] Ostermaier, Albert. Gold. Der Film der Nibelungen. Eine Komödie, Kindle-Version, S. 16-17. [57] Ebd., S. 5. [58] Ebd., S. 13. [59] Ebd., S. 40. [60] Ebd., S. 65-66. [61] Ebd., S. 67-68. [62] Lienert: Geschlecht und Gewalt im ‘Nibelungenlied’, S. 13. [63] Imbusch: „Strukturelle Gewalt“, S. 29. [64] Ebd., S. 46.

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