Paul Scheerbart – Botschafter des Friedens

Die Kritik am wilhelminischen Militarismus und Lösungen für einen friedvollen Gesellschaftswandel in ›Die große Revolution‹

„[Für] Paul Scheerbart [fordere ich] gar nicht etwa den künftigen Nobelpreis für L i t e r a t u r, sondern – aufgepaßt! – für seine jährigen und jährigen Verdienste um den Weltfrieden, um die menschliche Eintracht überhaupt!“[1] schrieb der deutsche Publizist Anselm Ruest 1912 in einem offenen Brief an die künftigen Verteiler des Friedens-Nobelpreises in Stockholm. Ruest erkannte Paul Scheerbarts pazifistische Bemühungen.[2] Mit seinem Gesuch hatte er jedoch keinen Erfolg.

Der Schriftsteller Paul Scheerbart (1863-1915) veröffentlichte im Laufe seines Lebens über dreißig Romane sowie weitere literarische Werke, und hatte dennoch wegen ausbleibendem Erfolg ständig mit Geldnot zu kämpfen.[3] Scheerbart interessierte sich für Physik, Astronomie, Philosophie, Architektur und mehr, wobei er sein Wissen in seine Romane einbezog. Auch war er engagierter Pazifist und warnte vor der progressiven Militarisierung im deutschen Kaiserreich.[4]

Die große Revolution

Sein 1902 erschienenes Werk ›Die große Revolution. Ein Mondroman‹ beinhaltet Kritik an politischen und gesellschaftlichen Aspekten seiner Zeit. Im Roman werden die Menschen den Mondbewohnern gegenübergestellt, die mit ihren fortschrittlichen Technologien die Erde beobachten. Die Mondbewohner teilen sich in zwei Lager: die Erdfreunde und die Weltfreunde. Die große Revolution auf dem Mond soll durch den Bau eines großen Fernrohrs die Abkehr von der Erde bringen, wobei die Weltfreunde dies begrüßen, die Erdfreunde dagegen sind.

Die weitere Erdbeobachtung wird aufgrund des Interessenkonflikts von der „Weiterexistenz [der] irdischen Kriegsheere abhängig“[5] gemacht. Werden „die großen Heereskörper [auf der Erde] sichtbarlich verringert … verzichten die Weltfreunde auf das große Fernrohr“ (S. 47) und damit auf die Beobachtung der noch unbeobachteten Areale im Weltall.

Nachdem auf der Erde kein entsprechender Wandel stattfindet, wenden sich die Mondbewohner vom blauen Planeten ab, da die dortige Situation „einem permanenten Kriegszustand“ (S. 174) gleicht. Sie richten ihren Blick in das Weltall und bemerken „den überschäumenden, vernichtenden Reichtum der Welt … >zwischen< den Sternen.“ (S. 176).

Theoretischer Zugang

Fiktion modelliert die Welt und macht sie als Modell durchschaubar und verfügbar.“[6] Der Autor ist Weltschöpfer, wobei die fiktive Welt als Schein mit der realen Welt in Konkurrenz tritt, zum Modell wird, und in ihrem imaginären Charakter vielfältige Funktionen wie etwa Weitergabe von Wissen, didaktische Absichten, Zeitvertreib, Kompensation und mehr erfüllen kann.[7] „Das in der Fiktion entworfene Model hat seine Funktion sowohl in der konstruktiven Gestaltung und Etablierung wie in der kritischen Infragestellung und Modifizierung von Realität.“[8]

Im Hinblick auf Scheerbarts Roman kann die fiktionale Ausgestaltung mit seiner zeitgenössischen Lebensrealität und seinen Bemühungen auf diese einwirken zu wollen in Verbindung gebracht werden. Der Interpretation des Romans liegt die Hermeneutik als literaturwissenschaftliche Methode zugrunde. Unter anderem wird die „… Rekonstruktion des Kontextes samt (historischem) Erwartungshorizont“[9] zur Beantwortung der Forschungsfrage herangezogen sowie die Intention des Autors untersucht.

Kontextuelle Mechanismen

„Zum Erwartungshorizont gehören Faktoren aus den unterschiedlichsten Bereichen, darunter insbesondere literarisches […] Wissen und solches über die zeitgenössische Lebenswirklichkeit, Kultur und Gesellschaft.“[10] Bei Scheerbart sind dies „allgemeine Einsichten über gesellschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche oder politische Realitäten.“[11] Es wird davon ausgegangen, dass Paul Scheerbart eine bestimmte Intention beim Erschaffen seines Werkes hatte, da seine astrale Literatur im Zusammenhang mit der Krisen- und Aufbruchstimmung der Jahrhundertwende steht.[12]

Mit der Intention „können […] unterschiedliche Absichten, Ziele und Interessen mit dem Verfassen eines literarischen Textes verbunden [sein], [d]ie etwas Bestimmtes auszusagen, etwas zu problematisieren,“[13] haben. Demzufolge wollte Scheerbart die Gesellschaft durch seine Werke für sein pazifistisches Gedankengut empfänglich machen.

Vorgehen

Diese Arbeit geht der Frage nach, inwiefern Paul Scheerbart in ›Die große Revolution‹ die zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Umstände im deutschen Kaiserreich kritisierte.

Scheerbart gehört zu den von der Forschung in dieser Hinsicht weniger beachteten deutschen Literaten. Seine pazifistischen Bemühungen wurden bisher nicht gebührend gewürdigt. Vielen mag er, wenn überhaupt, durch Aussagen von Zeitgenossen bekannt sein als „[d]er weise Clown“[14], „Antierotiker“[15], „Dichter der Sternenwelt“[16] sowie anderen Umschreibungen und Beinamen.

Es wird davon ausgegangen, dass Paul Scheerbart mit seinem Roman ›Die große Revolution‹ politische und gesellschaftliche Aspekte die Militarisierung der wilhelminischen Zeit betreffend kritisierte, und in seinem Werk Lösungen für den Wandel der Gesellschaft hin zu einem friedvollen Miteinander anbot.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden entsprechende Passagen aus ›Die große Revolution‹ und einem späteren Werk Scheerbarts mit dem Titel ›Glasarchitektur‹ herangezogen. Zunächst wird der historische Hintergrund des Romans untersucht sowie die Ereignisse aufgezeigt, die mit seiner Entstehung zusammenhängen könnten. Im Anschluss daran wird genauer auf Textstellen eingegangen, aus denen Scheerbarts Kritik an zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Aspekten hervorgeht. Daran anknüpfend werden die von Scheerbart aufgezeigten Lösungen für die Wandlung der Gesellschaft und des Menschen anhand entsprechender Auszüge untersucht.

Historischer Hintergrund

Militarismus im deutschen Kaiserreich

„Ganz allgemein wird heute unter Militarismus die tatsächliche oder angenommene Vormachtstellung des Militärs in Staat und Gesellschaft verstanden. […] Für den modernen Militarismus ist Voraussetzung die allgemeine Wehrpflicht, die zu einer Militarisierung der ganzen Gesellschaft führen kann.“[17]

Nach den deutschen Einigungskriegen, dem Deutsch-Dänischen Krieg (1864), dem Deutschen Krieg (1866) und dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71), wurde der Traum von einem vereinten deutschen Nationalstaat verwirklicht, wobei der schnelle Aufstieg zur Macht die Entwicklung des Militarismus unterstützte.[18] In der Außenpolitik bewirkte der Machtzuwachs Rüstungsverstärkungen sowie vermehrtes Interesse an der Kolonialpolitik.[19] Innenpolitisch fand eine Übertragung der im Krieg erfolgreichen militärischen Denkweisen und Strukturen auf die Gesellschaft statt.[20]

Es gab nationale Gedenktage mit vom Militär unterstützten Zeremonien und Aufmärschen inszeniert unter anderem von Kriegervereinen und Sängerbünden, der Schulunterricht war militärisch durchorganisiert und Literatur und Presse zeigten sich begeistert vom neuen Militarismus.[21] Die Überhöhung militärischer Werte wurde durch Kaiser Wilhelm II. gefördert, der als Galionsfigur des deutschen Volkes dessen nationale und internationale Interessen verkörperte.[22] Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde die Basis zur Erziehung der deutschen Nation im militärischen Sinne gelegt.[23]

Pazifismus im deutschen Kaiserreich

Die üblichen Verdächtigen: Von links nach rechts: Paul Von Hindenburg (1847-1934) Kaiser Wilhelm II (1859-1941) & Erich Von Ludendorff (1865-1937)
Die üblichen Verdächtigen

In der Wilhelminischen Zeit gab es pazifistische Bewegungen, die sich gegen die Militärbegeisterung richteten, und vor einem drohenden Krieg als Konsequenz der stetigen Aufrüstung warnten, wie die 1892 gegründete Deutsche Friedensgesellschaft.[24] Der Friedensgedanke konnte die Massen jedoch nicht erreichen.[25]

Vom 18. Mai bis zum 29. Juli 1899 fand die erste Friedenskonferenz in Den Haag statt, auf der unter anderem über Rüstungsbeschränkungen beraten wurde.[26] Keiner der sechsundzwanzig teilnehmenden Staaten war bereit, seine Rüstungsausgaben zu begrenzen.[27] Einschränkungen hinsichtlich bestimmter Waffen wurden nur durchgesetzt, weil diese noch nicht einsatzfähig waren.[28] Abrüstung als oberstes Ziel der 1. Haager Friedenskonferenz konnte als verfehlt angesehen werden.[29]

Paul Scheerbart begann mit seiner Arbeit an dem Roman ›Die große Revolution‹ im Jahr 1901.[30] Da er in seinem Werk insbesondere die Militarisierung sowie den Abrüstungsgedanken anspricht, kann davon ausgegangen werden, dass er indirekt Bezug auf die misslungenen Bemühungen der 1. Haager Friedenskonferenz sowie die sich ausbreitende Militarisierungsbegeisterung in Deutschland nehmen wollte.

Kritik an zeitgenössischer Politik und Gesellschaft

Kritik der Erdbewohner an Teilaspekten des Militarismus

Mit ihrer fortschrittlichen Technologie können die Mondbewohner „ganz deutliche Bilder … von Schriftzügen und Druckwerken [auf der Erde]“ (S. 23) erkennen. Während der großen Revolution lesen sie drei irdische Zeitungsartikel (S. 62-67, S. 108-109, S. 132-133). Dabei erkennen sie, dass es sich um Glossen handelt, die grotesk Bezug auf die irdische Realität nehmen, um zeitgenössische Missstände aufzudecken.[31]

Für Scheerbart bot sich mit dem Einbinden der irdischen Glossen die Möglichkeit, bestimmte gesellschaftliche und politische Aspekte mit Stilmitteln der Übertreibung und Satire für seine Leserinnen und Leser zu veranschaulichen, und so seine eigenen Gedanken zu tarnen. Er lässt eben die Artikel von den Mondbewohnern lesen, in denen die allgemeine Militarisierung und bestimmte Aspekte derselben kritisiert werden. Die Glossen sowie deren Verfasser werden von den Mondbewohnern gelobt, die Militarisierung auf der Erde jedoch von ihnen verurteilt. Pro-militärische Zeitungsartikel werden nicht gelesen.

Kapitalismus und Unmenschlichkeit

In einer der Glossen wird vorgeschlagen, die in kriegerischen Auseinandersetzungen getöteten Menschen nicht einfach zu begraben. „[E]in derartiges Wegwerfen gesunder Fleischmassen [ist] ein himmelschreiendes Unrecht gegen unsre oft in sozialer Not befindlichen Volksmassen“ (S. 65). Stattdessen sollen die Leichen weiter vermarktet werden, um Geld zu verdienen.

Deutlich kann hier die Kritik am Kapitalismus in Kombination mit der Unmenschlichkeit des Krieges erkannt werden.[32] Indem das Töten überspitzt dargestellt wird, werden die natürlichen Anlagen des Menschen pervertiert.[33] „Wer Menschen totmacht, kann sie auch aufessen“ (S. 66), schreibt der anonyme Redakteur. Während in der Natur jedes Wesen am natürlichen Kreislauf des Lebens teilnimmt, nehmen die Menschen nur noch aus ihm heraus.

Dies wird durch die Mondbewohner bestätigt: „[Die Menschen] ernähren sich dadurch, daß sie verwandte Lebewesen als Leichen in ihren Körper stopfen und da vermodern lassen“ (S. 40). Der Mensch wird zum Raubtier, das den Kreislauf des Lebens auf zerstörerische Weise durchbricht.[34]

Die kulturelle Überlegenheit, derer sich die Menschen rühmen, wird in der Glosse als Schein entblößt.[35] Macht und Gier verleiten die Menschen zur gegenseitigen Vernichtung. Die angeblich überlegene menschliche Gesellschaft mit ihren humanistischen Idealen ist deformiert und erscheint als groteskes Zerrbild, wobei der entstellte Humanismus im Militarismus und der Kriegsbegeisterung zelebriert wird.[36]

Überdies kann in dem Vorschlag, das Menschenfleisch zu verwerten, Scheerbarts eigene Stimme vernommen werden. Die Idee, menschliches Fleisch für die Weiterverwertung als Konsumgut (ein interessanter Aspekt, der noch im Zuge der Auseinandersetzung mit Jospeh Hellers Roman Catch 22 in der Rubrik Textmosaik genauer betrachtet wird) einzusetzen, hat er später aufgegriffen und veröffentlicht.[37]

Zeitungsjournalismus

„Um [eine Abneigung der Volksmassen gegen alles Soldatenwesen großzuziehen] ist zunächst die gesamte Tagespresse […] zu beeinflussen“. (S. 108) Der anonyme Zeitungsredakteur von der Erde weiß demnach um die Macht der Medien, wenn es um die Meinungsbildung der Gesellschaft geht. Weiter schlägt er vor, die für Militär- und Kriegsangelegenheiten plädierenden Tageszeitungen zu isolieren, und diejenigen zu bevorzugen, die sich bereits dagegen aussprechen.

Die Glosse zeigt die gesellschaftliche Realität im deutschen Kaiserreich, die von der Bevölkerung als normal aufgefasst und dementsprechend nicht hinterfragt wurde.[38] Dabei tragen die dem Militarismus zugeneigten Zeitungen zur „Verbreitung der Kriegsideen [bei] – und verstanden es, ihre Leser durch kriegerische Alarmartikel und tägliche Mordsgeschichten […] zu verrohen […]“ (S. 134).

Der Weltraum - unendliche Weiten
Weit entfernt und doch so nah.

Zum einen wird die Macht der Presse aufgezeigt, die Manipulation und Beeinflussung der Volksmassen im Großen wie im Kleinen möglich macht. Diese Einwirkung könnte auch im Sinne des Friedens geschehen, wenn die Zeitungen von einer entsprechenden Person oder Institution gelenkt würden. Bei ihren Beobachtungen auf der Erde erkennen die Mondbewohner, dass „[d]ie von den Regierungen gut bezahlte Tagespresse […] dafür [sorgte], daß das Interesse am Heereswesen nicht wieder erschlaffte“ (S. 135). Die Doppelmoral des Journalismus wird entlarvt sowie das Volk als für äußere Impulse blind empfängliche Masse gekennzeichnet.

Zum anderen zeigt sich die Parteilichkeit der Medien, die im Grunde auch nur auf die vorherrschenden politischen und kapitalistischen Strömungen in der Gesellschaft reagieren sowie entsprechenden Anweisungen der Führungselite folgen.[39] Aufgrund dessen können Journalismus und Medien keineswegs als primäre Kulturträger bezeichnet werden, da dieses Verhalten von einem äußerst geringen Niveau zeugt.[40] Das Zelebrieren der kriegerischen Machtpolitik und des antihumanistischen Militarismus auch in den zeitgenössischen Medien stehen entgegen dem angeblich vollzogenen kulturellen Fortschritt der Gesellschaft.

Uniformkult

„[D]urch Verspottung aller Uniformgeschichten [soll es] jedermann für ungebildet ansehen, wenn er sich so kleidet wie sein lieber Nachbar“ (S. 109), heißt es in einer anderen Glosse. Der anonyme Verfasser schreibt weiter, dass „jede Uniform bald wie eine Karikatur wirken und Lachreiz erwecken [soll]“ (S. 109).

Hier wird das irrationale Verhalten entblößt, der Kleidung mehr Respekt entgegenzubringen als dem Menschen, der sie trägt. Dieser Vorschlag beruht auf der Realität in der Wilhelminischen Ära, wo die militärischen Umgangsformen und der übertriebene Uniformkult von allen Bevölkerungsschichten nachgeahmt wurden. [41]

„Vielerorts galt die Uniform als das angesehenste Kleidungsstück und zugleich als das unübersehbare Symbol der Zugehörigkeit zur militaristisch geprägten Gesellschaft.“[42] Je höher die Stellung beim Militär, desto mehr Achtung erhielt der Uniformträger. Der Glossenverfasser verspottet den übertriebenen Uniformkult und demontiert die durch diesen hervorgehobene gesellschaftliche militaristische Ehrvorstellung, die den Heldenpathos und den Dienst am Vaterland beinhalteten.

Ebenfalls in der Kritik am Uniformkult enthalten ist die Forderung nach mehr Individualität des Einzelnen. Der Mensch an sich geht unter in einem Meer aus Uniformen und vorgefertigten militärischen Vorstellungen der Führungselite. Er handelt gegen seine individuelle Natur. Wenn aber jeder seine individualistischen Interessen vertreten würde, dann gäbe es niemanden, der für die militaristisch und nationalistisch aufgeladenen Ziele der Führungseliten in den Krieg ziehen würde.[43]

Scheerbart dürfte sich als individualistischer Bohème-Schriftsteller, der sich Zeit seines Lebens größtenteils außerhalb gesellschaftlicher Konventionen befand, mit diesem Aspekt identifiziert haben.

Erziehung

Es wurde „als Vaterlandsverrat betrachtet […], wenn jemand seine Kinder nicht schon im zarten Alter von zehn Jahren militärisch drillen ließ“. (S. 134) Dies entnehmen die Mondbewohner einer der irdischen Glossen. Dort werden das Schulwesen und die Erziehung der jungen Bevölkerungsmitglieder als signifikantes Instrument für die Militarisierung der Gesellschaft angesehen.

Auch im deutschen Kaiserreich fand eine militärische Organisation der Gesellschaft statt.[44] Die militärisch nationale Erziehung begann bereits in der Schule. Für Männer wurde diese in der allgemeinen Wehrpflicht fortgeführt.[45] So wurde sichergestellt, dass die Militärbegeisterung schon früh in den Köpfen der jungen Menschen verankert wurde.

In der Glosse wird die militärische Erziehungskultur der wilhelminischen Zeit kritisiert. Diese ist wie auch die anderen bereits erörterten Aspekte für die innere Deformierung der irdischen Gesellschaften national sowie international verantwortlich, und sorgt für den von der Menschheit weiterhin aufrechterhaltenen niedrigen Bewusstseinszustand.

Die Mondbewohner begegnen diesem mit Unverständnis und Abwertung. Sie halten die Erde mit ihren „Begleiterscheinungen von Kampf und Vernichtung“ (S. 137) für „Pestbeulen“ (S. 137) und bezeichnen die irdischen Umstände als „seltsame Ausnahmezustände“ (S. 137) und „Abnormitäten“ (S. 137).

Die Mondbewohner über das Verhalten der Erdbewohner

„[D]ie Annahme oder Ablehnung der […] geplanten Bohrarbeiten [werden] von der Weiterexistenz dieser irdischen Kriegsheere abhängig [gemacht]“ (S. 35-36). Die Abmachung sorgt auf dem Mond für Aufruhr. Scheerbart hat seine astralen Wesen als den Menschen ethisch und geistig überlegen geschaffen. Streit artet bei ihnen nicht in Kampf aus.[46] Interessenkonflikte werden bis zur Einigung friedlich besprochen.[47]

Die Mondbewohner drücken ihre Stimmungen durch die verschiedene Farbigkeit ihrer Körper aus.[48] Emotionen sind für jeden sichtbar, sodass Lügen unmöglich ist.[49] Auch besitzen sie die Gabe der Regeneration. Es gibt in ihrer Gesellschaft keinen Tod, der mit dem Lebensende auf der Erde vergleichbar wäre.[50] Das Sterben gleicht einer Wiedergeburt, wobei der alte Körper schrumpft und einem neu wachsenden all sein Wissen übergibt.[51]

Von den geistig überlegenen Mondbewohnern wird das menschliche Verhalten interpretiert und kritisiert. Die Intention des Autors bei dieser Konstruktion liegt in der Aufdeckung der antihumanistischen Missstände seiner Zeit und der Kennzeichnung derselben als irrational und zerstörerisch.

Wenn höherentwickelte Wesen kritisch auf den Militarismus der Erde herabblicken, dann müsste doch auch die irdische Gesellschaft dessen zerstörerisches Potenzial erkennen, mag Paul Scheerbart beim Schreiben gedacht haben. Seinen pazifistischen Bemühungen und seiner ungewöhnlichen Kritik an den Umständen im deutschen Kaiserreich begegneten die meisten seiner Zeitgenossen jedoch mit Unverständnis.[52]

Gegenseitige Bekämpfung

„Die Erdmänner sind aber viel schlimmer als die gewöhnlichen Bestien – sie richten einzelne ihrer Stammesgenossen dazu ab, andre Stammesgenossen durch Schuß-, Schlag- und Sprengwaffen zu töten, um ihnen das, was sich diese ihre Brüder geschaffen haben, fortzunehmen“ (S. 40).

Mit dieser Aussage des Mondbewohners und Weltfreund Mafikâsu wird das unlogische Verhalten der Menschen untereinander aufgezeigt. Bei ihrer Beschreibung der Erde und ihrer Bewohner benutzen die Mondbewohner den Begriff „Bestienzustand“ (S. 40), der die „niederen Mordinstinkte“ (S. 39) der Menschen beschreibt, wobei diese daher nicht „mit einer höheren Stufe von Geistern“ (S. 39) wie den Mondbewohnern verglichen werden können.

Weiterhin bezeichnen sie die Menschen als „Millionen von kostümierten Massenmördern“ (S. 68). Aufgrund ihrer höher entwickelten geistigen und ethischen Bewusstseinsstufe können sie den Sinn, der „hinter solchen Mistexistenzen stecken könnte“ (S. 138) nicht erkennen.

Sie geben sich Mühe, Verständnis für die „jämmerliche Gewalts-Natur“ (S. 38) der Erdbewohner aufzubringen. Zunächst kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Menschen trotz ihrer fortgeschrittenen Technologien nicht anders können, als ihrem niederen Status entsprechend zu handeln.

Der Mondbewohner Knéppara meint, die Erdbewohner führten „nur ein Scheinleben“ (S. 138). Nach der Abwendung von der Erde hat sich ihre Ansicht abermals gewandelt. „Die Erdmänner wollen den Bewohnern andrer Sterne nur was zum Lachen geben“ (S. 175), ist die versöhnliche Ansicht für das seltsame Verhalten der Menschen. Scheerbart versuchte durch die Augen der hoch entwickelten Mondbewohner sein Lesepublikum die Irrationalität gegenseitiger Bekämpfung aufzuzeigen.

Gewalt und Aufrüstung

Gerade „die Bekämpfer des Soldatentums [seien] die gemeingefährlichsten Leute […].“ (S. 136) Die Mondbewohner erkennen, dass „die Bekämpfung des Militarismus vonseiten einzelner Erdmänner […] diesen erst recht stark gemacht [hatte].“ (S. 136-137) Sie stellen fest, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt. Eben die Gewalt, die der Gewaltbekämpfung zugrunde liegt, und einer ideellen und friedvollen Absicht entsprungen ist, bringt die entgegen liegende Wirkung. Kriegerische Gewalt gibt es nur bei den unvollkommenen Menschen auf der Erde, wobei dieses Handeln von den höher entwickelten Mondbewohnern kritisiert wird.[53]

 Die Mondbewohner bemerken bei späteren Beobachtungen der Erde auch, dass sich „der irdische Militarismus ganz erheblich vergrößert hatte.“ (S.142) Durch die Gründung neuer Militärstaaten, die ihrerseits Aufrüstung betreiben und sich gegenseitig bekriegen, haben die alten Militärstaaten ihre Wehrpflicht aufgegeben, weil „sie annehmen konnten, daß allein die Zwietracht der Nachbarn ihnen etwas Unantastbares verleihe.“ (S. 145) Die fadenscheinige Motivation für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht einzelner irdischer Staaten wird von den Mondbewohnern entblößt.

Sie ärgern sich über ihren Beschluss, den Bau des großen Teleskops überhaupt von der Wandlung der Erde abhängig gemacht zu haben. Der Erdenfreund Knéppara gibt zu, dass er verloren hat, und die „Beobachtung der Erde zu Ende ist.“ (S. 154-157) Er freut sich über seine Niederlage, weil endlich die Bohrung für den Teleskopbau beginnen kann. Knéppara ist damit Vorbild für ein dem Militarismus entgegenstehendes Modell der friedfertigen Einigung und Weiterentwicklung.

Nationalismus und Militarismus

„Unter den Zuhörern waren alle Rassen der Mondbevölkerung vertreten. [Sie unterschieden sich] durch die Zahl der Finger und durch die Länge der Arme [und] noch weitere nationale Unterschiede.“ (S. 40)

Auf dem Mond dürfen all diese verschiedenen Nationalitäten der Mondbewohner an den Ratssitzungen teilnehmen, es wird niemand ausgeschlossen oder aufgrund seiner Nationalität verurteilt oder bekämpft. Auf der Erde steht jede Nation für sich. Das Wettrüsten um die internationale und damit imperialistische Vorherrschaft ist ein Indiz für den steigenden Nationalismus.[54]

Im deutschen Kaiserreich äußerte sich das verstärkte Nationalbewusstsein unter anderem durch das Uniformwesen als fester Bestandteil des Militarismus.[55] Die verschiedenen Uniformen konnten einer bestimmten Nation, und innerhalb der Nation einem bestimmten Rang zugeordnet werden.

Während der Beobachtung der Erde nimmt dieses „Uniformwesen […] immer mehr überhand.“ (S. 136) Die Mondbewohner benutzen den Begriff Nationalismus nicht, wenn sie die Umstände auf der Erde kritisieren. Sie lehnen allgemein das Uniformwesen sowie den Militarismus ab, wobei beides in enger Beziehung zueinandersteht. Ihre Abneigung gegen die Machenschaften der Erdbewohner äußert sich darin, dass es ihnen zu langweilig wird, „diese wohlbewaffneten Erdvölker, die sich ewig und immer nur an die Gurgel packen zu wollen, noch länger anzusehen – statt anzuspeien.“ (S. 136)

Die Erde, der Mond und ihre Revolutionen im Vergleich

„[I]ch begreife nicht, wie man die kleinen Revolutionen auf der Erdoberfläche mit der großen Revolution des Mondes in einen ideelichen Zusammenhang bringen kann“ (S. 111), sagt der Weltfreund Mafikâsu. Auf den ersten Blick scheinen Erde und Mond nicht miteinander im Zusammenhang zu stehen. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass dies täuscht. Die Gesellschaften der Erde und des Mondes sind in zwei Lager geteilt.

Die Mondbewohner teilen sich auf in die Erdfreunde, die die Erdbetrachtung fortsetzen wollen, und die Weltfreunde, die ihren Blick in die Weiten des Alls richten wollen. Auf der Erde gibt es ebenfalls eine Zweiteilung. Es gibt Menschen, die sich für den Militarismus einsetzen und die Friedensfreunde, die sich gegen den Militarismus aussprechen. In diesem dualistischen Aspekt gleichen sich Erde und Mond.

Die Erdfreunde des Mondes sprechen sich jedoch nicht für den Militarismus aus, sondern für die Menschheit im Allgemeinen. Der Erdfreund Knéppara hat die Hoffnung für den Wandel der Erde noch nicht aufgegeben. „Es gibt eben überall Wunder“ (S. 140), meint er. Knépparas Optimismus ist jedoch nicht grenzenlos. Er kündigt selbst seine Niederlage an, und setzt damit die Wandlung der Mondgesellschaft in Gang.

Mittel und Wege der Revolution

Auch unterscheiden sich die Instrumente der Gesellschaftsumwandlung auf dem Mond von denen der Erde. Während die Umwandlung der vom Militarismus durchtränkten Gesellschaft auf der Erde durch weltliche Mechanismen wie Presse, Schulwesen, Wehrpflicht oder auch Kunst geschehen soll, werden die sich schon auf einer hohen Bewusstseinsstufe befindlichen Mondbewohner durch die Nutzung von Buntglasfunden sowie den Bau des großen Teleskops, und die sich daraus ergebende Möglichkeit die Weiten des Alls zu beobachten, verwandelt.

Dabei ist es jene neu entdeckte Welt, die „immer wieder und wieder neue große Wunder [offenbart].“ (S. 179) Durch die Abwendung von den irdischen Missständen kann eine Art Wirklichkeitsflucht erkannt werden, die Scheerbart als Autor aufgrund seiner Werke oft zugeschrieben wurde.[56] Diese Wirklichkeitsflucht überträgt Scheerbart auf die Mondbewohner, wobei hier die Abkehr von der Erde und ihren irdischen Missständen bewusst geschieht.

Die Revolution auf dem Mond spiegelt demnach die Verhältnisse auf der Erde im deutschen Kaiserreich in einer friedvolleren Form. Die positive Wandlung, zu der die Menschen nicht fähig sind, vollzieht sich an den astralen Mondbewohnern, die geistig, körperlich und ethisch zu Wachstum und Wandlung in der Lage sind.[57]

Lösungen für die Umwandlung der Gesellschaft

Glasarchitektur

1914 veröffentlichte Paul Scheerbart sein Werk ›Glasarchitektur‹. „Unsere Kultur ist gewissermaßen ein Produkt unsrer Architektur“[58], schrieb er. „Wollen wir unsre Kultur auf ein höheres Niveau bringen, so sind wir wohl oder übel gezwungen, unsre Architektur umzuwandeln.“[59]

Vormals geschlossene Räume und Gebäude sollen durch farbige Glasarchitektur Mond- und Sonnenlicht einlassen. Im übertragenen Sinne würden alte Verhaltensweisen und Denkmuster, dargestellt durch die geschlossene Backsteinarchitektur, abgeschafft, wobei das Glas eine Öffnung für neue kosmische Zusammenhänge präsentiert.[60] „Wir hätten dann ein Paradies auf der Erde“,[61] war Scheerbarts Ansicht.

Das farbige Glas in Kombination mit unterschiedlichem Lichteinfall und entsprechender architektonischer Konstruktion würde auf die menschliche Psyche wirken, und so zu einem Wandel der Gesellschaft im bestmöglichen Sinne führen.[62] „Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln.“[63] Der Gesellschaftswandel geht bei Scheerbart demnach nicht direkt von politischen und gesellschaftlichen, sondern von ästhetischen und architektonischen Aspekten aus.[64]

Glas - Perspektiven und Buntheit in sämtlichen Facetten.
Glas – Perspektiven und Buntheit in sämtlichen Facetten.

Glas als ästhetischer Wandlungskatalysator

Das Werk ›Glasarchitektur‹ wurde über ein Jahrzehnt nach Scheerbarts Mondroman veröffentlicht. Die Reformmacht von Buntglas findet sich auch in ›Die große Revolution‹. So erkunden die Mondbewohner die „Glasseite“ (S. 101) des Mondes und stoßen dort auf „wundervolle Glassorten“ (S. 90), und auf „weite[…] Platten, die von verschiedenen Farben koloriert sind […]“ (S. 90)

Für die Mondbewohner kann Glas, „die Stärke des Tageslichtes noch vervielfältigen […].“ (S. 91) „[D]ie neuen Teleskope mit ihren großen Naturglaslinsen“ (S. 175-176) sind es, mit denen die „kolossalen Ereignisse […] im Weltraume“ (S. 175-176) von den Mondbewohnern beobachtet werden können. Sie nutzen das Buntglas, um „die Museen, in denen sich die Photographien der Erdbilder befanden“ (S. 116) zu erweitern.

Die Mondbewohner wandeln sich stellvertretend für die wandlungsunfähigen Menschen. Glas dient hier als Katalysator für die geistige Evolution, und sorgt für die Abwendung der Mondbewohner von der mit kriegerischen Zuständen belasteten Erde.[lxv]

Wandel als Relationsgefüge

Es findet zweierlei Wandel bei den Mondbewohnern statt. Einmal wandeln sich ihre Ansichten über die Erdbewohner. Zu Beginn des Romans sehen sie in den Erdbewohnern „Bestien“ (S. 39). Am Ende findet diese harsche Ansicht Milderung in der Bezeichnung der Erde als „drollige[r] Stern“ (S. 178). Man ist den Erdmännern für ihr erheiterndes Verhalten sogar „dankbar“ (S. 175).

Zum anderen wandeln sich die Mondbewohner, indem sie die Erdbetrachtung aufgeben. So kann der Bau des Teleskops stattfinden und ihnen geistige Anregungen und ein besseres Verständnis für den Kosmos liefern. Mit dem neuen Teleskop kann der gesamte Kosmos beobachtet werden. Die Mondbewohner erfahren dadurch einen ungeheuren „Reichtum“ (S. 178) und eine nie gekannte „Lebensfülle“ (S. 178).

Der Fund des Buntglases ist demnach Teil der Gesellschaftsumwandlung auf dem Mond und stößt eine Evolution an, aufgrund der die Mondbewohner in der kosmischen Ordnung noch höher aufsteigen, während die Menschen für diese Art Wandlung unempfänglich sind. Paul Scheerbart war der Ansicht, dass Glasarchitektur auf der Erde ebenfalls die Macht hätte, die Menschen in ethischer Hinsicht zu verbessern.[66]

Technik als fortschrittlicher Wandlungskatalysator

Neue Technologien revolutionieren alles Bestehende.[67] Neben den Buntglasfunden wird die Revolution auf dem Mond auch durch technische Projekte vorangetrieben, wie etwa den Bau des großen Teleskops, das die Betrachtung des gesamten Kosmos ermöglicht.[68] Indem Scheerbart die Technik als Entwicklungsdynamo in die Wandlung mit einbezieht, verbaut er einerseits die eigene Technikbegeisterung in seinem Roman, andererseits bezieht er zeitgenössische technische Fortschritte ein, um die Massen für seine Werke gewinnen zu können.[69]

Eine zweckbefreite Technik mit ästhetischen Zielen wäre laut Scheerbart in der Lage, einen Gesellschaftswandel mit erlösender Funktion herbeiführen.[70] Erst durch den Bau des großen Teleskops, das den Mond „ganz Auge“ (S. 178) werden lässt, können die Mondbewohner an der „ungeheuren Lebensfülle“ (S. 178) des Universums teilhaben.

Dabei „arrangiert [Scheerbart] Technologie und Natur in einer symbiotischen Beziehung, sodass die Idee, Technologie könne dazu benutzt werden, Natur zu erobern oder auszubeuten […] fremd ist […].“[71] Das auf dem Mond natürlich vorkommende Buntglas unterstützt neue Technologien ästhetisch sowie in seiner Funktion eine höhere Bewusstseinsstufe zum Verständnis des Lebens im gesamten Kosmos zu erreichen.[72]

In der ästhetischen Glasarchitektur kombiniert mit fortschrittlichen Technologien hat Paul Scheerbart seine pazifistischen Wünsche für das militärisch aufgeladene deutsche Kaiserreich präsentiert.[73] Hierin zeigt sich auch seine Zuversicht für den Einsatz neuer Technologien, mit dem Ziel, die Wandlung einer bestehenden niedrigen Lebensform in eine höhere umzusetzen.[74] Die Hoffnung auf die Veränderung der Gesellschaft zum Friedlichen hin, wie Scheerbart sie sich wünschte, projizierte er in seinem Roman auf seine fiktionale Schöpfung, die Mondbewohner.[75]

Fazit

Paul Scheerbart hat als überzeugter Pazifist mit seinem 1902 erschienen Roman ›Die große Revolution‹ Aspekte des wilhelminischen Militarismus kritisiert. Gleichzeitig bot er Lösungen für den Wandel der bestehenden militärisch aufgeladenen Gesellschaft hin zu einem friedvolleren Zusammenleben an.

Zunächst wurde in dieser Arbeit auf den historischen Hintergrund von Scheerbarts Mondroman eingegangen. Dabei wurde festgestellt, dass zu Lebzeiten des Berliner Autors ein allgemeiner Militarismus die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs durchdrang. Pazifistische Bemühungen jener Zeit brachten jedoch keine sichtbaren Ergebnisse. Scheerbarts Werk steht daher unmittelbar mit den militaristischen und pazifistischen Ereignissen um 1900 in Verbindung.

Um diesen Zusammenhang aufzudecken, wurden entsprechende Textpassagen herangezogen. Zunächst wurde auf die Kritik der Erdbewohner am Militarismus eingegangen. Dabei wurden drei Zeitungsglossen untersucht. Der erste Kritikpunkt betrifft die Unmenschlichkeit des Kapitalismus, die sich durch die kriegerischen Handlungen der Menschen gegeneinander offenbart und den Menschen als Raubtier bloßstellt. In den Glossen werden ebenfalls Mechanismen der manipulativen Beeinflussung der Gesellschaft durch die Medien entlarvt sowie deren Instrumentalisierbarkeit für politische und militärische Zwecke aufgezeigt.

Weiterhin wird der mit dem Militarismus einhergehende Uniformkult kritisiert, der keinen Platz für Individualität lässt und für die Gleichschaltung der Massen steht. Die militärische Organisation sämtlicher Institutionen und besonders des Schulwesens stellt ebenfalls einen Kritikpunkt dar, wobei hier die frühe Integration der jungen Menschen in die militärische Gesellschaft initiiert wird.

Anschließend wurde die Kritik der höherentwickelten Mondbewohner am selbstzerstörerischen Verhalten der Menschen, der Gewalt, der stetigen Aufrüstung sowie dem Uniformkult und den damit in Beziehung stehenden Nationalismus gezeigt.

Vergleich von Erde und Mond

Bei einem Vergleich der Revolutionen der Erde und des Mondes wurde festgestellt, dass in einigen Aspekten eine Spiegelung der Ereignisse stattfindet. Aufgrund dessen kann angenommen werden, dass die Intention des Autors beim Verfassen seines Werkes im Aufzeigen der irdischen Missstände seiner Zeit lag, wobei er zugleich die Möglichkeit für den Gesellschaftswandel aufzeigen wollte.

Dieser Wandel findet auf dem Mond durch eine Kombination aus Buntglas und Technik statt. In diesem Sinne wird auf Scheerbarts 1914 veröffentlichtes Werk ›Glasarchitektur‹ eingegangen. Hier propagiert er die Umwandlung der Gesellschaft unter anderem mit Buntglas. Anklänge der die Gesellschaft wandelnden Macht von Buntglas finden sich auch in Scheerbarts Mondroman, sodass beide Werke trotz ihres zeitlich auseinanderklaffenden Veröffentlichungsdatums miteinander in Beziehung gebracht werden können.

Die Nutzung von Buntglas als Katalysator für alte verkrustete Denkweisen in Kombination mit fortschrittlicher Technologie sind demnach Scheerbarts Lösungen für die Umwandlung der Gesellschaft, die in seinem Mondroman stellvertretend für die Menschen an den Mondbewohnern vollzogen wird.

Bezüge zu politisch relevanten Ereignissen

In ›Die große Revolution‹ ist deutlich ein Bezug zu politischen und kulturellen Ereignissen des deutschen Kaiserreichs erkennen.[76] Dabei zeigt Scheerbart zeitgenössische Missstände grotesk und humorvoll auf. Seine antimilitaristische und pazifistische Haltung steht entgegen dem imperialistischen Expansionsgedanken, welcher in den zu seiner Zeit erschienenen Zukunftsromanen propagiert wurde.[77] Seine Hoffnung auf eine sich zum Besseren wandelnde Welt hat er bis zu seinem Tod nicht aufgegeben.[78]

Es erscheint tragisch, dass Paul Scheerbart nicht die gebührende Anerkennung für seine pazifistischen Bemühungen erhalten hat. Kaum jemand schien in ihm einen Botschafter des Friedens unter dem Deckmantel der Satire und des Spotts erkannt zu haben. Und doch ist „die Kosmologie Scheerbarts eine einzige glühende Anbetung und Verehrung des ewigfruchtbaren, unerschöpflichen, unendlichen Lebens [wobei wenig] Raum für irgendwelchen Fanatismus und Grausamkeit bleibt!“[79]

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Verwendete Literatur

Quellen:
Die Bücherei Maiandros. Das zweite Buch, Ausgabe vom 1. Dezember 1912.
Scheerbart, Paul: Die große Revolution. Ein Mondroman, Leipzig [u. a.] 1983.
Scheerbart, Paul: Glasarchitektur, Berlin 1914.

Forschungsliteratur

Alvizu, Josh: Utopie der grünen Sonne. Zu Benjamin, Scheerbart und Glasarchitektur, in: Bloch-Almanach 22 (2015), S. 201-218.
Assmann, Aleida: Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, 55), München 1980.


Bär, Hubert: Natur und Gesellschaft bei Scheerbart. Genese und Implikationen einer Kulturutopie (Sammlung Groos, 1), Heidelberg 1977.
Brunn, Clemens: Der Ausweg ins Unwirkliche: Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin, Hamburg 2010.
Ege, Müzeyyen: Das Phantastische im Spannungsfeld von Literatur und Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert. Die Pluralität der Welten bei Scheerbart, Carlos Castaneda und Robert Anton Wilson, Berlin 2004.


Gerigk, Anja: Möglichkeitssinn für Un/Vernunft. Literarische Utopien in Aufklärung und Klassischer Moderne: Schnabel – Heinse – Scheerbart – Musil, in: Antunes, Gabriela; Goldblum, Sonia; Pineau, Noémi: Rationalität und Formen des Irrationalen im deutschen Sprachraum. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Bern [u. a.] 2013, S. 41-56.
Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648-1939 Band 3, hg. v. Militärgeschichtliches Forschungsamt, München 1979.
Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien 1996.


Korber, Tessy: Paul Scheerbarts Glasarchitektur. Technik mit religiösem Auftrag, in: Sorg, Reto; Würffel, Stefan Bodo (Hg.): Gott und Götze in der Literatur der Moderne, München 1999, S. 139-150.
Reitzammer, Wolfgang: Die 1. Haager Friedenskonferenz von 1899. Ein Fallbeispiel der internationalen Politik im Zeitalter des Imperialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1 (1999), S. 462-472.
Riesenberger, Dieter: Militaristen und Pazifisten im Deutschen Kaiserreich, in: Kater, Thomas; Kümmel, Albert (Hg.): Der verweigerte Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003, S. 199-215.


Schardt, Michael M.; Steffen Hiltrud (Hg.): Über Paul Scheerbart II. 100 Jahre Scheerbart-Rezeption in drei Bänden (Kölner Arbeiten zur Jahrhundertwende, 4; Literatur- und Medienwissenschaft, 30), Paderborn 1996.
Spörl, Uwe: Basislexikon Literaturwissenschaft, Paderborn 2006.


Wendermann, Gerda: Paul Scheerbart. Jenseitskarikaturen. Hamburger Kunsthalle, 26. Januar bis 18. März 1990, Hamburg 1990.
Wette, Wolfram: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Frankfurt a. Main 2011.
Wolff, Eva: Utopie und Humor. Aspekte der Phantastik im Werk Paul Scheerbarts (Europäische Hochschulschriften Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, 392), Frankfurt a. Main [u. a.] 1982.


[1] Ruest, Anselm: Offener Brief an die künftigen Verteiler des Nobelpreises in Stockholm, in: Die Bücherei Maiandros. Das zweite Buch, Ausgabe vom 1. Dezember 1912, S. 4. [2] Bär, Hubert: Natur und Gesellschaft bei Scheerbart. Genese und Implikationen einer Kulturutopie (Sammlung Groos, 1), Heidelberg 1977, S. 44. [3] Wendermann, Gerda: Paul Scheerbart, Jenseitskarikaturen. Hamburger Kunsthalle, 26. Januar bis 18. März 1990, Hamburg 1990, S. 8. [4] Ebd., S. 9. [5] Scheerbart, Paul: Die große Revolution. Ein Mondroman, Leipzig [u. a.] 1983, S. 36. [6] Assmann, Aleida: Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 55), München 1980, S. 16. [7] Brunn, Clemens: Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin, Hamburg 2010, S. 13. [8] Assmann: Die Legitimität der Fiktion, S. 15. [9] Spörl, Uwe: Basislexikon Literaturwissenschaft, Paderborn 2006, S. 130. [10] Ebd., S. 131. [11] Ebd. [12] Ege, Müzeyyen: Das Phantastische im Spannungsfeld von Literatur und Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert. Die Pluralität der Welten bei Scheerbart, Carlos Castaneda und Robert Anton Wilson, Berlin 2004, S. 30. [13] Spörl, Uwe: Basislexikon Literaturwissenschaft, S. 132. [14] Schardt, Michael M.; Steffen Hiltrud (Hg.): Über Paul Scheerbart II. 100 Jahre Scheerbart-Rezeption in drei Bänden (Kölner Arbeiten zur Jahrhundertwende, 4; Literatur- und Medienwissenschaft, 30), Paderborn 1996, S. 20. [15] Wendermann: Paul Scheerbart, Jenseitskarikaturen, S. 8. [16] Schardt; Steffen; Steffen Hiltrud (Hg.): Über Paul Scheerbart II, S. 49. [17] Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648-1939 Band 3, hg. v. Militärgeschichtliches Forschungsamt, München 1979, S. 30. [18] Handbuch zur deutschen Militärgeschichte, S. 31. [19] Ebd., S. 36. [20] Ebd. [21] Ebd., S. 31-32. [22] Ebd., S. 32. [23] Wette: Militarismus in Deutschland, Geschichte einer kriegerischen Kultur, Frankfurt a. Main 2011, S. 69. [24] Riesenberger, Dieter: Militaristen und Pazifisten im Deutschen Kaiserreich, in: Kater, Thomas; Kümmel, Alber (Hg.): Der verweigerte Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003, S. 206. [25] Ebd. S. 213. [26] Reitzammer, Wolfgang: Die 1. Haager Friedenskonferenz von 1899. Ein Fallbeispiel der internationalen Politik im Zeitalter des Imperialismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1 (1999), S. 463-464. [27] Ebd., S. 466. [28] Reitzammer: Die 1. Haager Friedenskonferenz von 1899. S. 466, Zu den noch nicht einsetzbaren Waffen zählte der Abwurf von Geschossen aus Ballons. Man nahm an, dass diese Waffen nach der fünfjährigen Frist einsetzbar wären. [29] Ebd., S. 469. [30] Scheerbart: Die große Revolution, S. 187. Es handelt sich hier um Informationen aus dem Nachwort und nicht den zu untersuchenden Text. Aus diesem Grund wird die Seitenangabe nicht direkt in der Arbeit selbst gekennzeichnet, sondern in der Fußnote. [31] Wolff, Eva: Utopie und Humor. Aspekte der Phantastik im Werk Paul Scheerbarts (Europäische Hochschulschriften Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, 392), Frankfurt a. Main [u. a.] 1982, S. 164. [32] Bär: Natur und Gesellschaft bei Scheerbart, S. 45. [33] Wolff: Utopie und Humor, S. 166. [34] Ebd., S. 43. [35] Ebd., S. 165. [36] Ebd., S. 164. [37] In der Zeitschrift „Die Gegenwart“ hat Paul Scheerbart in der 81. Ausgabe von 1912, S. 107-109 selbst den Vorschlag zur kapitalistischen Verwertung toter Soldaten verbreitet. Der Titel seiner Glosse lautete „Das Ende der Fleischnot. Ein Vorschlag zur Güte“. [38] Wolff: Utopie und Humor, S. 164. [39] Wolff: Utopie und Humor, S. 157. [40] Ebd., S. 157. [41] Ebd., S. 50. 43] Wette: Militarismus in Deutschland, S. 64. [43] Wolff: Utopie und Humor, S. 50. [44] Ebd., S. 49. [45] Wette: Militarismus in Deutschland, S. 69. [46] Wolff: Utopie und Humor, S. 44. [47] Ebd., S. 44. [48] Deutlich ist dies kurz vor der Entscheidung der großen Revolution erkennbar. Die Weltfreunde denken, dass der Erdfreund Knéppara vor ihnen triumphieren will, weil ein drittes Heer auf der Erde abgeschafft wurde, und er gewonnen hätte: Scheerbart: Die große Revolution, S. 153-159. [49] Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien 1996, S. 345. [50] Wolff: Utopie und Humor, S. 44. [51] Ebd., S. 44. [52] Ebd., S. 57. [53] Wolff: Utopie und Humor, S. 51. [54] Wolff: Utopie und Humor, S. 22. [55] Wette: Militarismus in Deutschland, S. 64. [l56] Innerhofer: Deutsche Science Fiction 1870-1914, S. 360. [57] Wolff: Utopie und Humor, S. 59. [58] Scheerbart, Paul: Glasarchitektur, Berlin 1914, S. 11. [59] Ebd., S.11. [60] Korber, Tessy: Paul Scheerbarts Glasarchitektur. Technik mit religiösem Auftrag, in: Sorg, Reto; Würffel, Stefan Bodo (Hg.): Gott und Götze in der Literatur der Moderne, München 1999, S. 147. [61] Scheerbart: Glasarchitektur, S. 29. [62] Gerigk, Anja: Möglichkeitssinn für Un/Vernunft. Literarische Utopien in Aufklärung und Klassischer Moderne: Schnabel – Heinse – Scheerbart – Musil, in: Antunes, Gabriela; Goldblum, Sonia; Pineau, Noémi: Rationalität und Formen des Irrationalen im deutschen Sprachraum. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Bern [u. a.] 2013, S. 53. [63] Scheerbart: Glasarchitektur, S. 125. [64] Gerigk: Möglichkeitssinn für Un/Vernunft, S. 51. [65] Korber: Paul Scheerbarts Glasarchitektur, S. 143. [66] Wolff: Utopie und Humor, S. 92. [67] Korber: Paul Scheerbarts Glasarchitektur, S. 141. [68] Ebd., S. 141. [69] Korber: Paul Scheerbarts Glasarchitektur, S. 141. [70] Korber: Paul Scheerbarts Glasarchitektur, S. 142. [71] Alvizu, Josh: Utopie der grünen Sonne. Zu Benjamin, Scheerbart und Glasarchitektur, in: Bloch-Almanach 22 (2015), S. 208. [72] Innerhofer: Deutsche Science Fiction, S. 359. [73] Ebd., S. 20. [74] Ebd., S. 355. [75] Wolff: Utopie und Humor, S. 59. [76] Wolff: Utopie und Humor, S. 73. [77] Wolff: Utopie und Humor, S. 355. [78] Ebd., S. 74.[79] Ruest: Offener Brief an die künftigen Verteiler des Nobelpreises in Stockholm, S. 5.