Oben Erde, unten Himmel von Milena Michiko Flašar ist für mich weich und warm. Wie eine Decke, die mich beim Lesen umhüllt hat. Wärme ist wichtig in Zeiten der Kälte.
Bewegt sich der Roman also tatsächlich am Rande der „Wohlfühliteratur“[1] wie die Kritik auf dem Blog von Dieter Wunderlich urteilt? Dem stimme ich aus mehrfachen Gründen nicht zu; auch wenn ich den Roman mit einer warmen Decke verglichen habe. Denn es werden Themen behandelt, die in der Gesellschaft kaum beachtet oder vernachlässigt werden, weil sie unangenehm sind. Ein Roman, der unangenehme Themen aufgreift, damit Unbequemes ans Licht kommen kann oder zumindest Beachtung finden soll (so denke ich zumindest), verdient Respekt, nicht die Kategorisierung in eine Sparte.
„Ein umwerfender Roman über Nachsicht, Umsicht und gegenseitige Achtung“ – steht auf dem Rücken des Buches. — Und das stimmt.
Zur Erklärung für die genannte Analogie: Oftmals erlebe ich literarische Werke, darin enthaltene Sätze, Worte und Buchstaben als Gegenstände mit spezifischen Eigenschaften, Formen oder einer konkreten Beschaffenheit. Einige Wörter fühlen sich spitz oder starr oder weich an. Andere wiederum sind rund, symmetrisch, nachgiebig. Das Wort flauschig ist ebendies. Ganze Werke können grob sein oder sanft. Eine Form der Synästhesie vielleicht.
Eine einführende Inhaltsangabe von Oben Erde, unten Himmel
Die 25-jährige Takada Suzu (im Japanischen wird der Familienname vorangestellt) ist gern alleine und lebt zurückgezogen mit ihrem Hamster Punsuke, der für sie „der wichtigste Mensch“[2] ist. Beziehungen scheiterten bislang und auch aus ihrem Job als Bedienung in einem Restaurant wird sie gekündigt, weil ihr Liebreiz, Charme und Empathie fehlen. Ihr Chef empfiehlt ihr einen Job, „bei dem sie so wenig wie möglich mit Menschen zu tun“[3] hat und sieht ihre Stärken im Umgang mit einem Mopp. Bei Herrn Sakai, der sich die Reinigung und Entrümpelung Verstorbener und konkret der sogenannten einsam Verstorbenen, den Kodokushis, widmet, wird sie als Leichenfundortreinigerin angestellt. Die neue Arbeitsstelle bringt einen Perspektivwechsel mit sich, sodass Suzu nach und nach beginnt sich aus ihrer Isolation zu lösen.
Die existenzielle Basisstruktur des Lebens
Grob unterteilt sich das Buch in drei große Abschnitte, die frei nach Elton John als Circle of Life benannt werden könnten.
Winter, Frühling …
… Sommer …
… Herbst und wieder Winter
Dies ließe sich auch anders darstellen:
Winter, Frühling … Sommer … Herbst und wieder Winter
Oder auch so:
Winter, Frühling, Sommer und wieder Winter.
In diesem Fall ist die lineare Abfolge des Lebens anhand von Jahreszeiten aufgeschlüsselt. Auch in literarischen Werken wird der Frühling gleichgesetzt mit jungen Menschen, deren Jugend und Sexualität aufblüht wie Pflanzen. Der Sommer steht für die Fülle mittlerer Lebensjahre für Sattheit des Lebens und Reproduktion. Im Herbst dagegen wird das Leben kühler, die Ernte wird eingeholt, es werden Vorbereitungen für die winterliche Kargheit getroffen, während die Blätter fallen; übrigens ein häufig in Literatur oder Traueranzeigen verwende Umschreibung für den Tod oder das Altern. Im Winter herrscht dann Stille. Persephone ist bei Hades.
Es geht aber auch so:
Winter, Frühling, Sommer und wieder Winter, Frühling, Sommer und wieder Winter, Frühling, Sommer und wieder Winter usw.
Im Roman Oben Erde, unten Himmel wird der Kreislauf des Lebens anzitiert durch die Fortsetzungspunkte, die eine Verbindung zwischen den Kapiteln darstellen sowie dadurch, dass kein Punkt gesetzt wird. Natürlich handelt es sich um Kapitel, ein Punkt erübrigt sich. Aber das Wort »Winter« stellt eben die Verbindung zwischen Anfang und Ende her und generiert insofern das Bild des Lebenskreises, in das sich alle Figuren des Romans Oben Erde, unten Himmel nahtlos einfügen.
Oben und unten – Erde und Himmel
Bevor ich mich konkreter mit dem Werk auseinandersetze, erscheint mir der Blick auf den Titel relevant. Oben Erde, unten Himmel: ein Chiasmus, eine entgegengesetzte Anordnung von Satzgliedern. Hier ist sie inhaltlicher Natur. Es handelt sich ganz offensichtlich um grobe Ortsangaben, mit denen Objekte innerhalb eines vorgegebenen Systems in einem bestimmten Raum lokalisiert werden können. Oben und unten. Erde und Himmel. Es sind perspektivische Angaben. Was für den einen oben sein mag, kann für den anderen unten sein. Diese Angaben sind verlinkt mit den Begriffen Erde und Himmel. Aber der Kontext ist zu beachten.
Ist die Erde der Planet Erde im astronomischen Sinne oder handelt es sich um die Erde, den Boden auf dem wir uns üblicherweise bewegen. Ist der Boden gemeint, der für das Pflanzenwachstum so wichtig ist und dem auch die Menschen auf Friedhöfen wieder zugeführt werden? Solche Fragen lassen sich auch für das Wort Himmel stellen: Ist die Atmosphäre gemeint, der Himmelraum im physikalischen Sinne? Oder wird der Begriff im Rahmen einer religiösen Tradition verwendet und als Ort der religiösen Herrlichkeit betrachtet, vielleicht auch als Ort des Friedens nach dem Tod?
Der Begriff hat auch eine metaphorische Verwendung: Verliebte schweben im siebten Himmel oder der Himmel kann bei überschwänglicher Freude voller Geigen hängen. Sind die Begriffe überhaupt konkret deutbar? Denn für jeden Rezipienten besitzen sie eine eigene Bedeutung und werden während der Lektüre auch entsprechend subjektiv ausgelegt und interpretiert. Richtig und falsch sind damit Kategorien, die sich erübrigen. Doch für eine sinnvolle Untersuchung wird eine konkrete Zuordnung als Basis notwendig, um eine klare Argumentation oder mindestens einen Interpretationsversuch starten zu können.
Das Leben und der Tod – unten und oben
Erde und Himmel, oben und unten, diese Begriffe definieren Milena Michiko Flašars Oben Erde, unten Himmel in jeder Hinsicht und decken sämtliche dort behandelte Themen ab, umhüllen und inszenieren die Figuren und loten letztlich nicht nur die scheinbar den Worten inhärenten unüberbrückbaren Gegensätze aus, sondern vor allem das Dazwischen. Denn zwischen Himmel und Erde spielt sich vor allem das Leben ab. Und zum Leben gehört der Tod. Leben und Sterben, das ist ein ewiger Kreislauf, den noch kein Mensch zuvor aufzuhalten vermochte. Sämtliches Nachleben in Form von memoria und autobiografischen Zeugnissen und mehr ausgenommen (und hier über ein spezifisches Nachleben zu sinnieren und zu diskutieren würde auch sehr interessant sein sowie langwierig). Und ganz konkret behandelt Milena Michiko Flašar ein in der japanischen Gesellschaft hochaktuelles Thema. Es geht um die sogenannten Kodokushi.
Japans einsam verstorbene Toten
„Mit dem Wort kodokushi werden in Japan Todesfälle von sozial isolierten Personen bezeichnet, welche erst nach mehreren Tagen oder Wochen entdeckt werden. Das Wort hat sich seit den 1970er und 1980er Jahren als feststehende Bezeichnung etabliert und wird in der aktuellen medialen Berichterstattung gehäuft verwendet. In der jüngeren Vergangenheit wurden die einsamen Tode dabei in unzähligen, zumeist populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Symptom einer kranken, nur bedingt funktionsfähigen Gesellschaft erklärt. Die Bezeichnung einsamer Tod identifiziert bestimmte Todesfälle in dieser Hinsicht als gesellschaftliches Problem, von dem ausgehend der Aufbau eines lokalen Netzwerks für die Betreuung und Pflege der rasant ansteigenden Zahl von alten und hilfsbedürftigen Menschen thematisiert wird.“[4]
Suzu beschreibt ihren ersten Fall in Herrn Sakais Firma, bei dem sie die vereinsamte Wohnung von Herrn Ono Tarō reinigen muss. „Ich musste an den alleinstehenden Mann denken, der in seinem Bett verrottet war. Sein Tod war ein Kodokushi gewesen. Ich kannte den Begriff, er war mir geläufig, benutzt hatte ich ihn jedoch nie. Er war ein Begriff, den ich irgendwo in meinem Gehirn abgespeichert hatte. Ich wusste, wofür er stand, und wenn ich ihm in den Nachrichten begegnete, empfand ich ein vorübergehendes Entsetzen darüber. Jemand war verstorben. Er hatte seinen letzten Atemzug getan und hatte daraufhin für Wochen oder Monate, manchmal sogar für ein Jahr oder länger in seiner Wohnung gelegen. Er wurde aufgefunden – und damit endete die Geschichte.“[5]
Verstehen ermöglichen, Verständnis zeigen und Veränderung versuchen
Es geht, und das ist klar, um Einsamkeit und die Relevanz von Vernetzung, um Humanismus in einer vom sozialen Verfall ergriffenen Welt, es geht um Empathie, um Nachsicht gegenüber Menschen, die es nicht besser wissen oder nicht besser gelernt habe, es geht um das Aufbringen von Verständnis für solche Menschen und ein Verstehen der dahinterstehenden Zusammenhänge, es geht um das Aufzeigen von Lösungen für ein vernetztes Miteinander im sozialen Umgang und darum wie Lebenden und Toten gleichermaßen respektvoll begegnet werden sollte.
Es geht um Austausch bzw. Transfer zwischen alten und jungen Menschen, zwischen Familienmitgliedern, zwischen Ehepartnern, zwischen Kolleginnen und Kollegen, zwischen Vorgesetzten und Angestellten, zwischen Medien und Mensch, zwischen Staat und Mensch. All dies geschieht im begrenzen Zeitrahmens des Lebens, das Menschen zur Verfügung steht und das genutzt werden will. Diese Themen treten deutlich hervor, werden durch den Mund der Figuren in der Diegese ausgesprochen, dringen durch Lektüre auch in die Rezipienten ein. Doch mir geht es noch um etwas anderes.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Marcel Proust beschreibt in seinem im November 1913 erschienenen Roman In Swanns Welt, der am Anfang seines umfassenden Werkes Auf der Suche nach der verlorenen Zeit steht, ein wichtiges Phänomen und nutzt dafür ein Gebäckstück, ein Madeleine, und kommt in seinen Ausführungen zu dem Schluss, dass Geruch und Geschmack intensive Erinnerungen wachrufen können.
„Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher und lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.“[6]
Proust beschreibt hier ein wichtiges Phänomen, das auch in Flašars Werk zu finden ist – Geruch und Geschmack können intensive Erinnerungen wachrufen. Erinnerungen sind zudem abhängig vom jeweiligen Moment und der Stimmung des sich Erinnernden. Demzufolge sind Erinnerungen flexibel und veränderbar. Rezepte können weitergegeben werden und die Erinnerung an die Person konservieren, die dann nicht nur in der Kombination aus verschriftlichen Zutaten besteht, sondern im Geschmack des jeweiligen Gerichts.[7] Diese Thematik wird überdies auch in dem Jugendbuch Mein Freund Pax von Sara Pennypacker an der Freundschaft zwischen einem Fuchs und einem Jungen behandelt.
Der Duft von Leben und Tod in Oben Erde, unten Himmel
Die Toten riechen. Die Lebenden riechen. Dem Leben wie dem Tod haften Gerüche an. Der süßlich-faule Verwesungsgeruch ruft bei den Reinigungskräften Brechreiz hervor und auch nach getaner Arbeit haftet der Geruch der Toten an ihnen. Sie waschen sich die ihnen anhaftenden Toten jeden Abend im Badehaus gründlich aus den Poren. Gerüche besitzen in Oben Erde, unten Himmel also eine besondere Relevanz. Her Sakai schwört sowieso auf Aroma-Therapie mit Ölen aus Nadelhölzern, die belebend wirken.[8]
Menschen und Gerüche
„Es roch nach Takada. Das war es. Es roch eindeutig nach Takada. Nicht, dass er einen ausgeprägten Eigengeruch gehabt hätte. Es war eher ein Hauch. Ein Hauch Takada eben. Und ihn zu beschreiben, war schwierig. Er roch nach frisch gespritzten Bleistiften, einem eng beschrieben Blatt Paper und ganz entfernt nach Coca-Cola.“[9] So erinnert sich Suzu an ihren gleichnamigen Arbeitskollegen.
Wer kennt das nicht? Der Geruch von gemähtem Gras ruft Erinnerungen an die Kindheit wach, als der Opa jeden Samstag um Punkt 9 Uhr morgens den Rasen kürzte. Zimt erinnert vielleicht an die Gemeinschaftsstunde im Kindergarten, die es einmal in der Woche gab. Der Duft eines bestimmten Parfüms erinnert an die erste große Liebe und lässt das Herz immer noch höherschlagen. Ich stelle die Behauptung auf, dass wirklich jede und jeder solche Erinnerungen, die durch bestimmte Gerüche wachgerufen werden, in sich trägt.
„Tomos Seifen- und Weichspülergeruch fiel mit wieder ein. Der Geruch meiner Mutter nach einem Bad im Winter- Herrn Sakais Zigarettengeruch. Der dezente Parfümgeruch meiner Maniküristin. Ihre jeweiligen Gerüche hatten sich mir eingeprägt, und während ich sie mir vergegenwärtige, wurde mir bewusst, wie unpersönlich, weil immer gleich, der Leichengeruch war, mit dem wir täglich auf der Arbeit zu tun hatten. Er machte einen vergessen, dass Menschen rochen, und das nicht erst, wenn sie verstorben waren. Schon zu Lebzeiten verströmten sie einen unverwechselbaren Geruch.“[10]
Als die Eltern der verstorbenen Rie ihr Kuscheltier, den Affen Bobo finden, riechen sie daran, saugen den Geruch ihrer verstorbenen Tochter ein, der noch an dem Stoff haftet.[11]
Suzas frühere Schulfreundin riecht für sie „klamm, aber nicht muffig, wie feuchte Wäsche, die zum Trocknen in der Sonne hing.“[12] Es gibt im Roman noch mehr Passagen, in denen Gerüche spezifiziert werden, die mit Personen zusammenhängen.
Der Gegensatz von Wort und Geruch, von Festhalten und Erinnern
„Wörter sind flüchtig. Verstehst du? Wenn man sie nicht festhält, verpuffen sie. Pro Tag sprechen wir an die 17.000 Wörter, und die meisten davon sind Lückenfüller. Wie dein Öhm vorhin diesen sie der Aufrechterhaltung des Redeflusses, sagen aber selbst nichts aus. Manche Wörter aber“, hier stockte Takada, „haben es sich verdient, festgehalten zu werden. […] Leichen. Zufällig verwandt. Indem ich die Wörter aufs Papier gebannt habe, bleiben sie erstens. Und zweitens ergeben sie einen Zusammenhang. Etwas verbindet sie miteinander. Da ist ein Link zwischen ihnen, und der Link ist dadurch entstanden, dass ich sie absichtslos nebeneinander geschrieben habe. Es beruhigt mich, wenn das passiert.“[13] Einige Wörter halten es alleine das, andere wirken verwaist und müssen kombiniert werden.[14]
Doch seien dies Notizen mit rein persönlichem Wert. Ähnlich den Gerüchen, die jeder für sich genommen einen Reiz darstellen, der bei jedem aufgrund individueller Erfahrungen bestimmte Erinnerungen auslösen und Assoziationen wecken kann.
Die zufälligen Links, sie entstehen auch bei Gerüchen, die mit Menschen zusammenhängen, ebenso wie bei den Worten, die Menschen von sich geben und die letztlich im Gespräch oder Aufzeichnungen persönlichen Wert besitzen. Sie sind zudem subjektiv und besitzen vielleicht sogar einen unermesslichen Wert für jemanden.
Worte – erreichen sie die Toten?
Herr Sakai hat ein Ritual, wenn er die Wohnung eines einsam Verstorbenen betritt. Eine seiner Standardsätze laute „Machen Sie sich keine Sorgen.“[15] Banale Sätze, meint Suzu, die jedoch den Verstorbenen einbeziehen, damit er sich nicht von den Eindringenden überrumpelt fühlt.[16] Die Anrede geschieht in der Gegenwart, so als wäre der Verstorbene noch da. „Aber erreichen ihn unsere Worte?“[17] fragt Suza. Dies sei eine Glaubensfrage, lautet die Antwort von Herrn Sakai. Er glaube daran.[18]
Und ja, das ist wohl wahr. Für die einen ist alles mit dem Tod zu Ende. Aber was ist mit denen, die an ein Leben nach dem Tod glauben? Und gibt es nicht auch Menschen, die mit Verstorbenen kommunizieren können?
Suza hat als Kind den Geist ihres Großvaters gesehen, als sie an seinem Sarg kniete.[19] Mit ihren acht Jahren sah er für sie „gleichzeitig tot und lebendig aus. Hier lag er. Dort saß er. Das eine schloss das andere nicht aus.“[20] Inwiefern hier physikalische Gedankenexperiment wie Schrödingers Katze erläuternd zum Einsatz kommen könnten, muss leider aufgrund meiner fehlenden Kompetenzen in diesem Bereich ausgespart werden. Doch scheint für einige Menschen, der Raum zwischen Leben und Tod durchlässiger zu sein als für andere, scheinen sie eine andere Wahrnehmung zu besitzen, eine empfindsamere Wahrnehmung für Zwischenräume, Grautöne und Kleinigkeiten oder deren Gleichzeitigkeit. Menschen mit einer erweiterten Wahrnehmung auszugrenzen, weil sie anders sind und ihren Gedankengängen oder Sichtweisen schwer zu folgen ist, muss nicht sein. Aus einer anderen Perspektive erscheint sowieso vieles anders, wenn sie nur erst einmal erreicht ist. So geht es auch Suzu, die eine Plattform mit weitreichendem Ausblick auf ihrem Wohnhaus entdeckt.
Die Beschaffenheit der Figuren in Oben Erde, unten Himmel
Takada Suzu
Die Figur der 25-jährigen Suzu ist bereits einführend beschrieben worden. Einige Erweiterungen sind für ein umfassenderes Verständnis der Figur allerdings notwendig. Da wäre etwa die Frage, ob Suzu autistisch ist. Das soziale Plus fehle ihr, stellt ihr Chef zu Beginn des Romans fest, als er ihr den Job als Serviererin kündigt und zieht die Schwierigkeiten autistischer Menschen im sozialen Umgang beispielhaft heran. Ihre Kolleginnen beziehen Suzu nicht in Gespräche ein und möglicherweise hat sie tatsächlich Schwierigkeiten die Signale anderen Menschen zu deuten.
Leben und leben lassen ist ihr Motto, andere sind ihr gleichgültig und wenden sich irgendwann von ihr ab, andere Menschen interessieren Suzu nicht, sie ist Außenseiterin und erwartet nichts von ihren Mitmenschen oder vom Leben, wenn überhaupt von ihrem Hamster. Autistin ist Suzu deshalb aber meiner Ansicht nach nicht. Eher jemand, der nicht gesehen und in seiner Persönlichkeit, in seinem Sein von anderen angemessen wahrgenommen wurde. Durch die Arbeit mit Herrn Sakai und in seinem Unternehmen lernt sie schließlich kennen, was der Austausch mit Menschen bedeuten kann und wie wichtig er im Leben ist. Der Kontakt zu den Eltern, die auf dem Land leben ist per Messenger vorhanden aber recht lose, Geschwister gibt es nicht und auch keine Freunde.
Takada Yūto
Gemeinsam mit Suzu fängt auch Yūto als Reinigungskraft im Betrieb von Herrn Sakai an. Er wohnt in einem Manga Kissa, einem Internet-Café mit Kabinen zum Übernachten. Obwohl nicht verwandt haben sie denselben Nachnamen. Er sammelt Wörter, angelt „sie aus den Wörtern der Leute heraus.“[21] Schon als Kind hat er Tics, grimassiert, rollt mit den Augen, muss vor dem Einstigen dreimal um ein Auto laufen, grunzt, macht Hampelmänner. Seinen richtigen Vater hat er nie kennengelernt. Von dem Mann, der ihm Vaterersatz war und auch die Tics kein Thema waren wie für seine Mutter, trennte sich seine diese, weil es ihr mit ihm „zu langweilig geworden“ war.[22] Er sucht aber nach diesem Vater, wobei ihn diese Suche auszehrt.
Herr Sakai
Er besitzt eine Reinigungsfirma und hat sich auf die Kodokushi-Fälle spezialisiert. Weitere Mitarbeiter sind Yamamoto und Suga. Die einzelnen Fälle behandelt er mit Respekt und Würde. „Es geht darum, etwas für einen Toten zu tun, was man sonst nur für einen Lebenden tut.“[23] Der sich bereits im Rentenalter befindliche Saika hatte einst ein anderes Leben als verheirateter Salaryman mit zwei Kindern. Doch etwas fehlte ihm. Er war unglücklich. Ende 40 kündigte er und gründete sein
Reinigungsunternehmen. Doch dies kostete ihn die Ehe, da seine Frau ihn für verrückt hielt. Er bringt Dinge für Menschen in Ordnung, die es nicht mehr selbst machen können.[24] Herr Sakai hat viele Kontakte, die gerne seinen Einladungen folgen und ihn auch besuchen. Zu beschreiben ist er als zupackend, authentisch und großzügig, als jemand der mir sich im Reinen ist. Möglicherweise auch ein wenig grenzüberschreitend, als er Suzu anweist, Takada nach seiner Krankmeldung zu besuchen und sich um ihn zu kümmern. Funktional oder psychologisch fundiert – es wäre wohl beides richtig bezüglich der Motivation für diese Anweisung von ihm.
Die Fujis
Es handelt sich bei dem alten Ehepaar um die Nachbarn von Suzu. Mit ihrer neuen Anstellung beginnt sie sich zunehmend Sorgen um deren Ableben und Befindlichkeiten zu machen, als sie längere Zeit nichts von ihnen hört.
Weitere Figuren runden die im Roman dargestellte Geschichte ab.
Abschließende Fakten zum demographischen Wandel in Japan
Die Zahlen sprechen für sich: Laut dem Daten- und Statistikportal Statista ist das Durchschnittsalter in Japan in einer Langzeitstudie seit 1950 von 21,2 Jahren bis 2022 auf 48,4 gestiegen. Schätzungen zufolge liegt es im Jahr 2050 bei 53,3 Jahren.[25] Ein prozentualer Querschnitt durch die Altersstrukturen in demselben Zeitraum ist alarmierend. 1950 zählten 35,4 Prozent zu den bis 14-Jährigen, 59,7 Prozent waren zwischen 15 und 64 Jahre also und nur 4,9 waren älter als 65. 2022 gehörten nur noch 11,6 Prozent zu den bis 14-Jährigen, 58,5 Prozent waren mittleren Alters und 30,1 Prozent waren 65 und älter.[26] Jeder fünfte Japaner ist heutzutage über 65, 2030 wird es jeder Dritte sein.
Der japanische Film Departures hat 2009 einen Oscar in der Kategorie bester ausländischer Film gewonnen und das Thema um die Kodokushi auch außerhalb Japans bekannt gemacht. Masaki Ichinose, Philosoph an der Universität Tokio und Leiter des Instituts für Todes- und Lebensstudien der Universität, vermutet einen Zusammenhang mit dem Kodokushi Trend und Japans kultureller Angewohnheit, den Tod zu ignorieren.[27] Doch der Tod ist ein Thema, mit dem sich viele Menschen in Japan nicht auseinandersetzen wollen. „I don’t know why,“ he says, „but people don’t want to see a dead body and, in general, they don’t want to talk about death.“[28] Es handelt sich also um ein aktuelles Thema, das vor allem in Japan Dringlichkeit beweist.
Auch die Figuren diskutieren die Situation
Vor ihrem ersten Probearbeitstag fragt Herr Sakai, was seine zwei neuen potenziellen Angestellten zum Bleiben bewegt, wo doch besonders junge Menschen wenig mit dem Tod zu tun haben wollten. Yūto antwortet. „Einsamkeit“, begann er, „ist eine Volkskrankheit.“ […] Lang und breit ließ er sich über die soziale Kälte aus, die durch den Zerfall familiärer Strukturen entstanden sei. „Das Phänomen der Kodokushi ist eine direkte Folge des Zerfalls. Insofern betrifft es nicht nur den Einzelnen. Es betrifft uns alle“, schloss er, worauf Herr Sakai begeistert in die Hände klatschte […] „Sie sprechen mit aus der Seele. Bei circa dreißigtausend Fundleichen pro Jahr – Tendenz steigend – lässt sich das Problem nicht kleinreden, und es ist eines, das gleich nebenan wohnt. Kennen Sie Ihre Nachbarn?“[29]
Einsamkeit und Zerfall sozialer Netze sind nicht nur Themen, die Japan betreffen. Die Frage der Figur richtet sich daher auch an die Leserinnern und Leser.
Eindringlichkeit im Erzählen vom Leben und Sterben
In Oben Erde, unten Himmel werden die Leserinnen und Leser an dieses Thema aus der Sicht Suzus herangeführt, die mit ihren 25 Jahren als junge Frau im zeugungsfähigen Alter mitbestimmend ist die Japans Situation von morgen. Aber die ersten Sätze, die zugleich auch das Ende vorausdeuten und somit ebenfalls auf den titelinhärenten Chiasmus verweisen, sind sinnstützend und richtungsweisend. Denn die menschenverweigernde Figur wird vielleicht so sympathischer, Rezipienten neugierig, wie der Sinneswandel geschieht und was die Figur zum Umdenken bewegt.
„Ich war gerne allein. Und eigentlich hat sich daran auch nichts geändert. Nach wie vor bin ich kein Mensch, der viel Gesellschaft um sich braucht. Anders als früher brauche ich jedoch welche, und die Erkenntnis, dass dem so ist, hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Davor glich es einer Einbahnstraße, auf der nur ich allein unterwegs war. Kein Gegenverkehr. Kein Stau. Ich kam einigermaßen voran. Aber macht es mir denn Spaß voranzukommen? Die Antwort lautete definitiv Nein.“[30]
Abschluss zu Oben Erde, unten Himmel
Der Tod ist ohnehin ein Thema, mit dem sich in einer von Konsum und Agilität befindlichen Gesellschaft ungern auseinandergesetzt wird. Dies ist nicht nur in Japan so. Es betrifft auch die Menschen hierzulande. Wie möchte ich mein Leben beenden? Und was passiert mit mir, wenn ich alt bin? Was kann ich für mich selbst tun, damit es mir anders geht? Es handelt sich um Fragen, die jeden betreffen, gerade weil der Tod jeden betrifft. Ich halte Oben Erde, unten Himmel von Milena Michiko Flašar daher nicht für einen Wohlfühlroman, weil er sich wohlwollend an Rezipienten richtet und sie indirekt zur Auseinandersetzung mit derartigen Fragen und Themen bringen kann.
Ich bin sehr gespannt auf die Lesung morgen, am Sonntag, den 3.12.23 im Bremer Theater.
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Verwendete Literatur:
Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Berlin 2023, S. 99.
Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt am Main 1997.
Weitere Quellen:
Dieter Wunderlich: Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Online unter: https://www.dieterwunderlich.de/flasar-oben-erde-unten-himmel#:~:text=Die%2025%2Dj%C3%A4hrige%20Japanerin%20Suzu,nach%20l%C3%A4ngerer%20Zeit%20entdeckt%20werden (zuletzt aufgerufen am 30.11.2023).
Nobel, Justin: Japan’s ‚Lonely Deaths‘: A Business Opportunity. In: Time, erschienen am 6. April 2010, online unter: https://content.time.com/time/world/article/0,8599,1976952,00.html (zuletzt aufgerufen am 30.11.2023).
Dahl, Nils: Kodokushi – Lokale Netzwerke gegen Japans einsame Tode. Bielefeld 2016 (Alter(n)skulturen 10), S. 9-10.
[1] Dieter Wunderlich: Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Online unter: https://www.dieterwunderlich.de/flasar-oben-erde-unten-himmel#:~:text=Die%2025%2Dj%C3%A4hrige%20Japanerin%20Suzu,nach%20l%C3%A4ngerer%20Zeit%20entdeckt%20werden (zuletzt aufgerufen am 30.11.2023). [2] Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel. Berlin 2023, S. 99, S. 19. [3] Ebd., S. 34. [4] Dahl, Nils: Kodokushi – Lokale Netzwerke gegen Japans einsame Tode. Bielefeld 2016 (Alter(n)skulturen 10), S. 9-10. [5] Flašar: Oben Erde, unten Himmel, S. 56. [6] Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt am Main 1997, S. 66-67. [7] Bei einem Picknick zum Kirschblütenfest erwähnt dies Suga gegenüber Suza, die dann die Suppe mit Sugas Onkel gleichsetzt: Onkel schmecken gut, siehe Flašar: Oben Erde, unten Himmel, S. 131. [8] Ebd., S. 63. [9] Ebd., S. 191. [10] Ebd., S. 191. [11] Ebd., S. 229. [12] Ebd., S. 240. [13] Ebd., S. 100. [14] Ebd., S. 117. [15] Ebd., S. 224. [16] Ebd., S. 225. [17] Ebd. [18] Ebd. [19] Ebd., S. 140. [20] Ebd., S. 140. [21] Ebd., S. 99. [22] Ebd., S. 208. [23] Ebd., S. 246. [24] Ebd., S. 161. [25] Veröffentlicht von René Muschter, 11.01.2023 auf statista.com:: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/200666/umfrage/durchschnittsalter-der-bevoelkerung-in-japan/, zuletzt aufgerufen am 30.11.2023. [26] Veröffentlicht von René Muschter, 11.01.2023 auf statista.com: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/165976/umfrage/altersstruktur-in-japan/#:~:text=Im%20Jahr%202022%20waren%20rund,Prozent%2065%20Jahre%20und%20%C3%A4lter, zuletzt aufgerufen am 30.11.2023. [27] Nobel, Justin: Japan’s ‚Lonely Deaths‘: A Business Opportunity. In: Time, erschienen am 6. April 2010, online unter: https://content.time.com/time/world/article/0,8599,1976952,00.html (zuletzt aufgerufen am 30.11.2023). [28] Ebd. [29] Flašar: Oben Erde, unten Himmel, S. 58. [30] Ebd., S. 11.
Bildquellen
- Unten-Erde-oben-Himmel: Verlag Klaus Wagenbach
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