Grenzen der Erkenntnis: McEwans Was wir wissen können als literarische Reflexion über Wahrheit und Überlieferung

Der Roman Was wir wissen können von Ian McEwan greift ein Thema auf, das besonders für mich als Literaturwissenschaftlerin äußerst interessant ist: Wie viel lässt sich mit Quellensichtung, Wissen über Biographien, zeitgenössischem Kontext, literarischen Werken und Aussagen von Zeitzeugen über die vergangene Wahrheit rekonstruieren?

Für die Beantwortung dieser Frage versetzt McEwan seinen Protagonisten in die von uns ausgesehen ferne Zukunft des Jahres 2119. Dort begegnet uns eine durch Kriege und Klimakatastrophen veränderte Welt, in der Europa sozusagen „abgesoffen ist“. Der englische Literaturwissenschaftlicher Thomas Metcalfe interessiert sich für ein verschollenes Gedicht des Dichters Francis Blundy aus dem Jahr 2014. Mit wissenschaftlicher Akribie forscht der Anglist in den ihm zur Verfügung stehenden Quellen und setzt ein detailliertes Erinnerungsmosaik zusammen. Doch ist die Wahrheit nicht sehr viel komplexer als der Versuch der Rekonstruktion? McEwan hat mit Was wir wissen können einen Roman geschrieben, der aus unserer zeitlichen Perspektive als dystopische Zukunftsvision gilt, zugleich eine Art literarischer Thriller ist dazu noch ein komplexes erkenntnistheoretisches Gedankenexperiment. Er stellt die Frage, die jede wissenschaftliche Arbeit heimlich begleitet: Wie viel können wir wirklich wissen, wenn wir nur fragmentierte Quellen vorliegen haben?

Was wir wissen können ist lesenswert, weil…

👉 es die Grenzen literaturwissenschaftlicher (historischer) Forschung schonungslos offenlegt: McEwan zeigt, dass selbst mit allen verfügbaren Dokumenten, Briefen und Zeugnissen die Wahrheit über ein Leben immer unvollständig bleibt – weil Menschen lügen, verschweigen und sich selbst inszenieren.

👉 es eine faszinierende Doppelstruktur besitzt: Der erste Teil folgt Metcalfes akribischer Recherche, der zweite Teil enthüllt durch die Perspektive von Vivien Blundy, was wirklich geschah – und zeigt damit, wie sehr wissenschaftliche Rekonstruktion an der Realität vorbeigehen kann.

👉 es eine erschreckend plausible Klimadystopie entwirft: Die Welt von 2119 wirkt nicht wie Science-Fiction, sondern wie eine logische Konsequenz unserer Gegenwart – mit überfluteten Metropolen, Migrationskrisen und einer Gesellschaft, die fassungslos auf unsere Verschwendung zurückblickt.

👉 es literarische Detektivarbeit spannend wie einen Krimi inszeniert: Die Suche nach dem verschollenen Gedicht entwickelt einen echten Sog, jede neue Quelle bringt neue Wendungen, und McEwan versteht es meisterhaft, Spannung aus Archivrecherche zu erzeugen.

👉 es eine tiefgründige Reflexion über Wahrheit, Erinnerung und Interpretation bietet: Der Roman stellt grundlegende Fragen: Was können wir über vergangene Leben wissen? Wie konstruieren wir aus Fragmenten Narrative? Und wie viel von dem, was wir als Wahrheit bezeichnen, ist eigentlich nur gut gemachte Fiktion?

Zusammenfassung der Handlung von Was wir wissen können

Ian McEwans Roman gliedert sich in zwei kontrastierende Teile, die sich gegenseitig ergänzen und sein erkenntnistheoretisches Anliegen strukturell umsetzen.

Teil 1: Die Rekonstruktion der Ereignisse durch Quellen durch den Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe, 2119

Thomas Metcalfe forscht als angesehener Literaturwissenschaftler im überschwemmten England des 22. Jahrhunderts über den britischen Dichter Francis Blundy (1975-2070). Blundy, eine mittelmäßige literarische Figur seiner Zeit, erlangte postum Bedeutung durch ein mysteriöses verschollenes Gedicht namens Sommer 2014, das als sein einziges bedeutendes Werk gilt. Metcalfe durchforstet digitalisierte Archive, E-Mails, Tagebucheinträge und Zeitdokumente aus dem frühen 21. Jahrhundert – jener fatalen Epoche vor den Klimakatastrophen, die seine eigene Welt formten.

Seine Recherche führt ihn tief in Blundys Leben: eine gescheiterte akademische Karriere, eine komplizierte Ehe mit Vivien, literarische Ambitionen und persönliche Krisen. Metcalfe rekonstruiert akribisch die Umstände jenes Sommers 2014, als Blundy das Gedicht verfasst haben soll und entwickelt eine Obsession für dessen Ehefrau. Er analysiert Wetterdaten, Reisebewegungen, Kontoauszüge – alles, um dem Moment der künstlerischen Entstehung auf die Spur zu kommen. Dabei entsteht ein detailliertes Bild eines Mannes in der Midlife-Crisis, der mit seiner eigenen Mittelmäßigkeit ringt.

Doch je tiefer Metcalfe gräbt, desto fragmentarischer wird sein Bild. Widersprüche häufen sich, Lücken klaffen in der Überlieferung, und der Wissenschaftler muss erkennen, dass die Quellenlage – so umfangreich sie scheint – letztlich nur Annäherungen zulässt.

Teil 2: Die Wahrheit (Vivien Blundy, 2014)

Der zweite Teil zeigt dann die Ereignisse aus der Perspektive einer der Personen, die bei dem von Metcalfe so detailliert konstruierten Ereignis tatäschlich anwesend war: Blundys Ehefrau Vivien. Wir als Lesende erleben denselben Zeitraum, den der Literaturwissenschaftler so umsichtig recherchiert hat. Und damit können wir aus unserer Perspektive auch erkennen, wo die Schlussfolgerungen des Anglisten stimmen und wo er danebenliegt. Und so ergeben sich zwei völlig verschiedene Geschichten – und dass trotz der aufwändig rekonstruierten Fakten.

So werden uns durch Vivien die wirklichen Umstände des Sommers 2014 offenbart. Was dabei zum Vorschein kommt gleich weniger dem Idyll, das Metcalf glaubt, aus den ihm vorliegenden Dokumenten entschlüsselt zu haben: eine von Francis verschwiegene Affäre, Geldprobleme, die in keiner E-Mail erwähnt wurden, und vor allem die Tatsache, dass es das berühmte Gedicht Sommer 2014 nicht gab. Doch wozu das Ganze? Ich möchte hier ungern die Spannung vorwegnehmen, allerdings will ich erwähnen, dass McEwan hier ein zentrales Motiv inszeniert, das beispielsweise auch Harari in Nexus anspricht: Es geht um Macht und um Selbstinszenierung, dabei weniger um Fakten und Wahrheit. Und wie viele Begebenheiten unserer Welt zeigen, so entwirft niemand einen Mythos einfach so – es gibt eine bestimmte Absicht dahinter.

McEwan zeigt in Was wir wissen können also, wie sehr die historische bzw. literaturwissenschaftliche Forschung an der Realität vorbeigehen kann. Und das nicht, nicht weil Wissenschaftler:innen inkompetent wären, sondern weil die Überlieferung selbst lückenhaft ist, intentionale manipuliert wurde und Menschen getäuscht werden sollten. Was in den Archiven landet, ist nicht das Leben, sondern nur das, was Menschen aufschreiben, aufheben oder inszenieren wollten.

Diese Einsicht führt direkt zu einem zentralen geschichtswissenschaftlichen Konzept, das McEwans Roman literarisch durchspielt: Die Begriffe Überlieferungschance und Überlieferungszufall des Historikers Arnold Esch. Doch bevor wir diese theoretische Dimension vertiefen, lohnt ein Blick auf den Autor selbst.

Informationen zum Autor Ian McEwan

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot, England, gilt als einer der bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren. Bereits sein erster Roman Der Zementgarten von 1978 machte ihn bekannt, internationalen Durchbruch erlangte er mit Abbitte, das 2001 erschien, einer virtuosen Reflexion über Literatur, Schuld und die Macht des Erzählens. Für Amsterdam (1998) erhielt er den Booker Prize.

McEwan zeichnet sich durch präzise psychologische Zeichnung seiner Figuren aus, die sehr komplex und authentisch gezeichnet sind – oft verwebt er philosophische Fragen in spannende Narrative. Vor allem scheut er sich nicht, seine Leserschaft mit konsequenten Plot-Twist zu schockieren, die sie einfach nicht kommen sehen. Häufig drehen sich die Geschichten auch um moralische Dilemmata in Extremsituationen – von wissenschaftlicher Ethik wie in Kindeswohl (2014) über Krieg, Moral und der Zerbrechlichkeit der Zivilisation in Saturday (2005) bis zu künstlicher Intelligenz und was Menschlichkeit bedeutet aus Maschinen wie ich (2019). Dabei ist McEwan ein intelligenter Erzähler, der Worte gleich chirurgischer Instrumente über die Seiten in die Seelen seiner Leserschaft dringen lässt. Seine Romane sind nicht einfach nur pure Unterhaltung, sie bewegen etwas in einem selbst. Ich finde, das können nicht viele Autor:innen.

2023 folgte dann Was wir wissen können, der im englischen Original What We Can Know betitelt ist. Im weitesten Rahmen geht es um Erinnerung und die Konstruktion der Vergangenheit durch Quellenkunde und Sichtung von persönlichem Material. Dabei ist die dystopische Kulisse thematisch eng mit der im Narrativ inszenierten Fragestellung verflochten.

McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature und lebt in London. Seine Werke wurden in über vierzig Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet.

McEwans literarische Intelligenz zeigt sich in Was wir wissen können besonders in der Art, wie er wissenschaftliche Methodik selbst zum Thema macht. Der Roman ist nicht nur eine Geschichte über Forschung – er ist eine Reflexion über die Grenzen jeder Erkenntnis.

Literaturwissenschaftliche Perspektiven in Was wir wissen können

Ich denke nicht, dass ich die bereits genannten Aspekte weiter ausführen muss, denn die literaturwissenschaftliche Arbeit ist ja im Roman implizit und explizit – darum gefällt er mir ja so gut. Grob betrachtet könnte man Was wir wissen können grundsätzlich aufgrund seiner inhärenten Zweiteilung grob in These und Gegenthese einteilen, also die Schlussfolgerung und den wiederlegenden Beweis. Doch das wäre zu einfach gedacht, obwohl ja oft Schlichtheit und Einfachheit durchaus Schönheit in sich bergen können.

Denn widerlegt wird ja mit der Offenlegung der Wahrheit auch die Abtrünnigkeit von wissenschaftlicher Arbeit, die – so akribisch, genau und intelligent schlussfolgernd sie sein mag – niemals an die Wahrheit wie sie war, herankommt. Und auch die Wahrheit ist ja wiederum nur subjektiv und fragmentarisch.

Da hat sich mir die Frage aufgedrängt, welchen Sinn derartige Forschung dann letztlich hat. Weitergabe von Wissen? Ja, natürlich. Metcalfe lehrt schließlich auch an seinem Institut – doch wen interessiert das, was er lehrt überhaupt? Geht es nicht viel mehr um die Publikationen? Die Wahrheit kann niemand mehr prüfen. Wenn auf Quellen basierende Ergebnisse veröffentlicht werden, dann, so lautet meine These, ist alle Forschung auch bloße Fiktion. Dann hat man neben der literarischen Fiktion die akademische Fiktion bzw. die wissenschaftliche Fiktion. Und noch eine These: Ist Literatur nicht in seinen Grundfesten auch nur eine Art forschende Herangehensweise an Seinszustände und verschiedene Medien? Zwei Seiten einer Medaille?

Mich persönlich fasziniert diese Klarheit, die McEwan hinsichtlich der literaturwissenschaftlichen oder auch historischen Quellenarbeit offenbart. Dazu möchte ich kurz eine Passage (mit der dringenden Empfehlung zur eigenständigen Anschaffung und Lektüre) anbringen.

Ein Einblick auf literaturwissenschaftliche Landschaften in Was wir wissen können

Unsere Biografen, Historiker und Kritiker, deren Forschung in die Zeit nach dem Jahr 2000 fällt, erben über ein Jahrhundert dessen, was die Ära der Blundys so wolkig die ›Cloud‹ nannte: ein riesiger, sich stetig ausweitender Sommerkumulus, bei dem es sich natürlich nur um Datenspeicher handelte. Wir haben fast zwei Jahrhunderte Fotografie und Film geerbt. Zahllose Vorträge von Francis Blundy, Interviews und Lesungen wurden aufgezeichnet und bleiben uns dank des nigerianischen Internets erhalten. All die Artikel über ihn Zeitungen und Zeitschriften existieren in digitaler Form. Nachdem ab etwa 2004 die Handys der Blundys auch zu Kameras wurden, vervielfältigten sich Aufnahmen der Scheune, der Innenräume und der umgebenden Landschaft. Weder er noch Viviel waren in den sozialen Medien aktiv, doch verschickten sie in ihren späteren Lebensjahren Abertausend digitale Nachrichten. Ihnen verdanken wir, dass sich die täglichen Belanglosigkeiten verfolgen lassen, und sie geben uns einen akkuraten Bericht über Freunde und Bekannte, abgeschlossene Gedichte und das Auf und Ab ihrer Stimmungen. […]

Dennoch hat unsere Kenntnis deutliche Grenzen. In einer Mail oder SMS finden sich selten so interessante und subjektive Reflexionen wie in einem gedankenschweren Brief des 19. oder 20. Jahrhunderts. […]

Von Shakespeare trennen uns zu viele unübersichtliche Brüche, kulturell wie materiell. Die Blundys und ihre Zeitgenossen konnten sich ihm auf eine Weise nahe fühlen, die sie für selbstverständlich hielten und die wir mit digitalen Mitteln allein nie nachvollziehen können.

Dennoch wissen wir über das 21. Jahrhundert mehr, als es selbst über seine Vergangenheit wusste. Literaturspezialisten der Zeit vor 1990, wie etwa unsere Kollegen weiter unten im Fachbereichsflur, wissen über die Schriftsteller ihres Zeitraums nur so viel wie die Gelehrten zu Blundys Zeit. Die seit jeher spärlichen Quellen sind vor langer Zeit ausgetrocknet. Für sie gibt es keine neuen Fakten, nur neue Blickwinkel. Und dich reden sie über ihre fünfhundert Jahre alten Forschungsthemen, über ihre Dramatiker und Dichter, als würden sie sie so gut kennen, wie ihre Nachbarn. Wir an unserem Ende des Flurs, im Abschnitt »Englische Literatur von 1990 bis 2030«, verfügen dagegen über mehr Fakten und Interpretationsmöglichkeiten, als sich in einem dutzend Leben erläutern ließen. Und für die vielen Dorschenden der Zeit nach 2030, die den größten Teil des Fachbereichs ausmachen, gibt es sogar noch mehr.

Aus Ian McEwan: Was wir wissen können. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich, S. 31-34.

Die Quellenlage bestimmt, was wir wissen können – Ein Beispiel aus McEwans Roman

McEwan lässt seinen Protagonisten in Was wir wissen können erklären, dass für Wissenschaftler:innen, die keine neuen Fakten gewinnen können nur Veränderungen der Blickwinkel möglich sind. Das kann man sich mit Wellenbewegungen vorstellen: Jemand wendet eine neue Methode auf einen mittelalterlichen Text an und bringt neue Gedanken auf einem Text an, die zwar für sich genommen nicht neu sind, doch in ihrer Anwendung auf den Text schon. Das gilt beispielsweise für die literaturwissenschaftliche Kategorie der Figur, die vor einiger Zeit noch gar nicht so intensiv erforscht wurde.

Ich will diesen Umstand einmal genauer erörtern, denn für viele ist die Arbeit mit mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Quellen ein fremdes und unnahbares Feld. Und wenn selbst die Figur in McEwans Roman trotz sämtlicher ihm vorliegenden Quellen nicht die korrekten Schlussfolgerungen ziehen kann – wie sieht es dann mit Werken aus, in denen wir – wenn überhaupt – nur Bruchteile zur Verfügung haben? Das erinnert mich an eine Geschichtsvorlesung zur Geschichte des antiken Griechenlands. Ich habe nicht mitgezählt, aber ich weiß gar nicht wie oft der betreffende Dozent sagte: „Sie wissen genauso viel wie ich.“ Zugegeben, das stimmte natürlich nicht – ihn und mich trennten mindestens 30 Jahre und hat auf jeden Fall mehr Wissen über den Gegenstand des Seminars gehabt als ich. Was er gemeint hat, war aber die Quellenlage. Texte, Scherben, Ausgrabungsgegenstände – die war überschaubar. Und trotzdem hat er sein Programm durchgezogen, seine Thesen vorgestellt und war felsenfest davon überzeugt, er habe Recht. Mit seinen Ansichten über die Handlungsweisen einer Person, die vor 2000 Jahren gelebt hat. Was wäre denn, wenn wir diese Person nun per Zeitreise á la Eschbachs Das Jesus Video zufällig durch die Zeit in diese Veranstaltung hätten plumpsen lassen können (Sprachbarrieren und so weiter einmal außen vorgelassen wie in einem richtigen Gedankenexperiment) – was denkt ihr, hätte dieser Mensch von damals über die Ansichten von heute über sein Verhalten gesagt?

Ich erinnere mich noch an eine andere Situation nach einer mündlichen Prüfung über Kleists Die Verlobung von St. Domingo. Ja gut, ich habe eine glatte ein für meinen Vortrag erhalten. Aber im Gedächtnis geblieben ist mir, wie ich die Farbmetaphorik in der Novelle erörterte. Rot. Weiß. Schwarz. Und mein Dozent – der war richtig persönlich angegriffen von meiner anmaßenden Aussage – der drehte sich zur Seite und es sah für mich so aus, als würde er verächtlich auf den Boden spucken. Es war eine Geste des Ekels. Ich hatte Unrecht. Er hatte Recht. Gut, dass ich meine Note schon hatte. Aber was wäre, wenn Kleist auch mit im Raum gesessen hätte. Hätte er kommentiert: „Mein Herr, ich verstehe gar nicht, was der Aufstand soll! Wenn man aufgeregt ist oder sich schämt, dann wird man rot. So wie sie gerade! Und welche Farben könnten die Differenzen der Menschen zweier verschiedener Kulturen besser darstellen als Weiß und Schwarz! Da gibt es keine scheinheiligen Hintergedanken. Da brauchen Sie jetzt gar nicht so ein Gesicht zu machen!“

Es war aber kein Kleist im Raum.

Überlieferungschance und Überlieferungszufall in Was wir wissen können

McEwans Roman liest sich wie eine literarische Ausformulierung der geschichtswissenschaftlichen Thesen Arnold Eschs, der in seinen Studien zur mittelalterlichen Geschichte die fundamentale Problematik historischer Quellenarbeit offengelegt hat. Esch prägte die Begriffe „Überlieferungszufall“ und „Überlieferungschance“, um zu beschreiben, dass das, was in Archiven überliefert ist, nicht repräsentativ für vergangene Realität ist, sondern das Ergebnis zahlloser Zufälle, bewusster Auswahlen und materieller Bedingungen.[1] Überlieferungen sind ungleich gewichtet durch die Chance, an die Personen, Vorgänge und Quellengattungen gebunden sind, sowie der Zufall, der auch bestimmt, ob etwas überhaupt überliefert wird oder nicht.[2] Die Überlieferungschance spiegelt daher auch die Absichten ihrer Zeit wieder, wohingegen der Zufall frei von jeglicher Absicht ist.[3] Die grundlegende These lautet insofern: In Bezug auf den Grund und die Bedeutung der Überlieferung sollte man keine falschen Schlüsse ziehen. Man kann dieses Prinzip im Übrigen von der reinen Betrachtung hinsichtlich historischer Quellen loslösen und es genauso gut auf Schlussfolgerungen über Menschen anwenden.

Eschs Konzepte lassen sich übrigens über die Geschichtswissenschaft hinaus anwenden – auch auf unsere alltäglichen Urteile über Menschen. Wir schließen aus sichtbaren ‚Quellen‘ (Aussehen, Verhalten in bestimmten Kontexten) auf eine Person, übersehen aber systematisch, was nicht überliefert wird: den DJ, der im Büro unsichtbar bleibt, die Tiefe hinter einem Erscheinungsbild. Auch hier wirken Überlieferungschance und -zufall: Was von uns anderen zugänglich wird, ist selektiv – und die Lücken füllen wir mit Projektion. Wir sind schnell in Urteilen und Kategorisierungen, einige mehr, andere weniger schnell. Eschs Publikation stammt zwar aus dem Jahr 1985, ist meiner Ansicht nach aber weiterhin aktuell. Und viele meiner Dozenten im Fachbereich Geschichte haben ihn in ihren Seminaren erwähnt und in Literaturlisten aufgenommen. ie dieser Umstand im Kontext der Thematik betrachtet werden sollte, ist natürlich selbst Gegenstand der Betrachtung.

1. Überlieferungszufall und Überlieferungschance: Arnold Esch und die Fragilität historischer Erkenntnis

Was überdauert, ist nicht das Wichtige, sondern das Haltbare: Stein überdauert Holz, Pergament überdauert Papier, offizielle Dokumente überdauern private Notizen. Bestimmte Textsorten haben strukturell höhere „Überlieferungschancen“ – Rechtsdokumente etwa werden archiviert, Alltagsgespräche nicht. Was dramatisch ist, wird aufgeschrieben; was normal ist, verschwindet spurlos. Aber – und genau aus diesem Grund ist Was wir wissen können vor dem Hintergrund des Beitrags von Esch relevant. Dieser macht in seinem Beitrag deutlich, dass die von Chance und Zufall gewollte Auslese der Überlieferung Folgen für die Erkenntnis hat. Es bleibt dem Historiker und der jeweiligen Fragestellung überlassen, wie das Überlieferte von der Vergangenheit übertragen wird. Dabei erwähnt Esch aber auch, dass es wichtig sei, abzuschätzen, welche Flecken weiß bleiben müssen. Man sollte das, was weg ist, erkennen können, weil man sonst Gefahr laufen würde, Flecken unbewusst zu füllen, wobei dann eine Verzerrung der Überlieferung stattfindet.[4]

In Was wir wissen können demonstriert McEwan diese Mechanismen am Beispiel der uns heutzutage zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel: Thomas Metcalfe liegen als Quellen digitalisierte E-Mails, Tagebücher, Chatgespräche, veröffentlichte Texte wie Blogs und Interviews vor – alles Quellen mit hoher „Überlieferungschance“ in einer digitalen Gesellschaft. Doch gerade das Entscheidende – die verschwiegene Affäre, die wahren finanziellen Verhältnisse, die Nicht-Existenz des Gedichts – hat keine Überlieferungschance, weil es bewusst verschwiegen, nicht dokumentiert oder aktiv gelöscht wurde.

2. Metahistoriographie und die Konstruktion von Vergangenheit

Was wir wissen können funktioniert als metahistoriographisches Experiment: Der Roman zeigt nicht nur eine historische Rekonstruktion, sondern zugleich die Mechanismen, durch die historische Erkenntnis überhaupt zustande kommt. Thomas Metcalfe ist zwar Literaturwissenschaftler, verkörpert allerdings den idealtypischen Historiker: methodisch sauber, quellenkritisch, bewusst um die Grenzen seiner Aussagen und zuletzt unternimmt er sogar eine Reise an den Ort, an dem er das Gedicht vermutet und beginnt Ausgrabungen. Und dennoch scheitert er fundamental.

McEwan demonstriert damit die Grundproblematik jeder Geschichtswissenschaft: Vergangenheit ist nicht zugänglich, Allein die Spuren sind vorhanden – und die sind bruchstückhaft wie Arnold Eschs Begrifflichkeiten des Überlieferungszufalls und der Überlieferungschance zeigen. Metcalfe hat keine Zeitmaschine, die ihn zu Francis Blundy im Sommer 2014 bringt – er hat nur Texte, Dokumente, Überreste. Und diese Überreste sind nicht neutral: Sie sind Produkte von Auswahl, Intention, Zufall und materiellen Bedingungen.

Hier lässt sich der Archivar einsetzen, der Aussonderungs- und Wertungsverfahren bestimmt bzw. den Objekten, die aufbewahrt werden sollen einen Wert zu misst und letztlich entscheidet, was bewahrt wird und was nicht. Insofern ist der Archivar Chance und Zufall in einer Person, wobei seiner Entscheidung auch persönliche Auswahlkriterien zugrunde liegen können.[5] Man könnte nun, um wieder auf Was wir wissen können zurückzukommen, einbringen, dass die beteiligten Figuren wie Francis und Vivien in McEwans Geschichte als Archivar gelten können, weil sie im Falle des nicht existenten Gedichts als Archivar fungierten.

Diesen Mechanismus erkennt man als Leser:in erst, wenn man den zweiten Teil von Was wir wissen können liest, weil hier der Perspektivwechsel zur Wahrheit vollzogen wird: Indem McEwan uns die Geschichte aus Viviens Sicht erzählt, suggeriert er zunächst eine privilegierte Erzählerposition – als hätte er tatsächlich eine Zeitmaschine. Doch auch diese Perspektive ist gebrochen: Auch Viviens Erinnerung ist subjektiv, selektiv, möglicherweise trügerisch. McEwan löst das epistemologische Problem nicht auf, er vertieft es: Wenn schon die Zeitgenossin keine objektive Wahrheit liefern kann, wie viel weniger dann der Historiker ein Jahrhundert später?

3. Die Poetik des Archivs

McEwans Roman reflektiert auch die spezifische Materialität und Ästhetik des Archivs – um nun auch das vom Archiv als Wächter des Archivinhalts zu erwähnen. Das Archiv ist nicht einfach ein neutraler Speicher, sondern selbst ein produktiver Ort, der bestimmte Narrative ermöglicht und andere ausschließt. Michel Foucault beispielsweise hat auf die Machtstrukturen hingewiesen, die in Archiven wirken: Was archiviert wird, ist bereits ein Akt der Macht – die Entscheidung, was bewahrenswert ist und was nicht. Wie erwähnt ist der Archivar bei Arnold Esch die Person, die Chance und Zufall in einer Person ist, sie hat die Macht, die Auslese vorzunehmen.

Die Figur Metcalfe bewegt sich in einem digitalisierten Archiv des 21. Jahrhunderts, das scheinbar alles bewahrt: E-Mails, Social-Media-Posts, digitale Spuren aller Art. Diese „totale Archivierung“ suggeriert gläserne Vollständigkeit – und ist doch trügerisch. Denn was digital nicht existiert, existiert für den zukünftigen Forschenden überhaupt nicht. Die Affäre, die nur analog existierte, die Gespräche, die nie aufgezeichnet wurden, die Gedanken, die nie getippt wurden – sie alle fallen durch die Maschen des digitalen Archivs.

McEwan zeigt mit seiner Inszenierung in Was wir wissen können auch die spezifischen Blindstellen digitaler Überlieferung: Während frühere Epochen unter Quellenmangel litten, leidet die Gegenwart unter Quellenüberfluss bei gleichzeitiger struktureller Lückenhaftigkeit. Die schiere Masse an trivialen Daten verdeckt, was fehlt. Doch auch Arnold Esch warnt Historiker – explizit wendet er sich an Mediävisten – davor, der Versuchung zu widerstehen, sich Erkenntnisse von der Überlieferung zuteilen zu lassen oder nur dort finden zu wollen, wo es hell ist. Auch das Dunkel soll befragt werden.[6]

4. Biographik und die Illusion des Lebens

McEwans Was wir wissen können ist auch eine Kritik an der Gattung der Biographie. Sie suggeriert Leser:innen ein ganzes Leben wahrheitsgetreu erfassen zu können – von Geburt bis Tod, mit Motiven, Entwicklungen, Wendepunkten. Doch McEwan zeigt, dass diese narrative Geschlossenheit eine Illusion ist, ein literarisches Konstrukt, das der Fragmentarität und Zufälligkeit realen Lebens aufgezwungen wird. Diese Kritik an der biographischen Illusion hat historische Vorläufer. Schon mittelalterliche Heiligenviten und Legenden – die Hagiographie – konstruierten ein kohärentes Narrativ mit klarer Botschaft: Glaubwürdigkeit, Authentizität, Vorbildfunktion. Auch dort ging es weniger um ‚das Leben, wie es war‘, sondern um das Leben, wie es wirken sollte – oft im Dienst religiöser oder herrschaftlicher Interessen.

Hagiographie bezeichnet die Darstellung des Lebens von Heiligen sowie die wissenschaftliche Beschäftigung mit solchen Texten. Dazu gehören etwa Heiligenviten und Legenden. Diese Schriften liefern wichtige Einblicke in religiöse Vorstellungen, gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Praktiken ihrer Zeit. Die Hagiographie ist dabei nicht auf das Christentum beschränkt, sondern findet sich auch in anderen religiösen Traditionen. Ich habe diese mittelalterlichen Textsorten mit angeführt, weil ich denke, dass das Prinzip gleich ist – suggeriert werden soll Glaubwürdigkeit, Authentizität – und das eben auch mit bestimmten Intentionen verbunden, die im Mittelalter eben oft an religiöse oder herrschaftliche Aspekte geknüpft waren.

Metcalfes Blundy-Biographie folgt allen Konventionen: chronologisch geordnet, psychologisch motiviert, auf einen Höhepunkt (das Gedicht) zulaufend. Diese Dramaturgie stammt aus der Literatur, nicht aus dem Leben. Das Leben selbst – wie Vivien es schildert – ist unordentlicher, widersprüchlicher, sinnloser.

5. Zeitlichkeit und die Dystopie als Verfremdungseffekt

Die dystopische Zukunftswelt von 2119 ist dabei kein bloßes Szenario, sondern dient als Verfremdungseffekt. Indem McEwan uns zeigt, wie ein zukünftiger Wissenschaftler auf unsere Gegenwart blickt, verfremdet er unseren eigenen Blick auf Vergangenheit. Wir können in Metcalfes Fehlinterpretationen unsere eigenen methodischen Blindstellen beim Blick auf die aus unserer Zeit vergangenen Epochen erkennen, etwa wenn wir auf das 19. oder 16. Jahrhundert blicken.

Zugleich funktioniert die Dystopie als Mahnung: Die Welt von 2119 ist eine direkte Folge der Ignoranz des frühen 21. Jahrhunderts – jener Epoche, die Metcalfe erforscht und die Blundy durchlebte. Die Ironie ist bitter: Während Metcalfe akribisch untersucht, ob Blundy an einem bestimmten Tag in London oder Oxford war, ist eben dieses London längst überflutet, Ergebnis der Klimakatastrophe, die sich bereits in Blundys Zeit abzeichnete. Dabei ist das verschollene Gedicht Blundys ein wichtiges Puzzlestück in der Klimakrise des 21. Jahrhunderts und wurde dort aufgrund seiner mythenhaften Existenz in den Köpfen der Menschen gottgleich stilisiert und wurde wichtig für Klimaktivisten. Und das nur, weil Gerüchte über die Beschaffenheit des Gedichts und angebliche Inhalte über die Darstellung der Natur in Umlauf gebracht wurden.

McEwan stellt damit in Was wir wissen können implizit die Frage nach der Relevanz literaturwissenschaftlicher Arbeit: Was bedeutet es, Gedichte zu analysieren, während die Welt untergeht? Ist Metcalfes Forschung Eskapismus oder legitimes kulturelles Gedächtnis? Der Roman lässt diese Frage offen, aber er stellt sie unüberhörbar. Tatsächlich habe ich mir derartige Fragen auch schon öfter gestellt, allerdings eher über das friedvolle Zusammenleben, denn um Klimaaktivismus.

6. Die Epistemologie des Fragments

Letztlich ist Was wir wissen können eine Meditation über die Epistemologie des Fragments. Alle historische Erkenntnis arbeitet mit Bruchstücken – und konstruiert daraus Ganzheiten, die illusionär sind. Carlo Ginzburg hat in seinem Spurensicherungsparadigma beschrieben, wie Geschichtswissenschaft wie Detektivarbeit funktioniert: aus minimalen Spuren werden Narrative rekonstruiert. Aber während der Detektiv irgendwann den Täter überführen kann, gibt es in der Geschichtswissenschaft keine definitive Verifikation. Wir können eben nicht zurückreisen und uns alles selbst ansehen oder die bereits Verstorbenen zum Leben erwecken. Allerdings verweise ich hier nochmals auf Andreas Eschbachs Das Jesus Video.

McEwan führt in Was wir wissen können also vor, dass selbst die bestmögliche und umfangreichste Quellenlage keinerlei Gewissheit liefert. Die Wahrheit über Francis Blundy bleibt unerreichbar, nicht weil die Quellen fehlen, sondern weil die Quellen selbst problematisch sind: Sie lügen, schweigen, inszenieren. Das wiederum ist ja menschlich.

Damit berührt der Roman grundlegende Fragen der Hermeneutik: Können wir vergangene Leben verstehen? Oder projizieren wir nur unsere eigenen Interpretationen auf stumme Texte? McEwan zeigt die Grenzen hermeneutischen Verstehens auf und lässt zugleich offen, ob es jenseits dieser Grenzen überhaupt etwas zu verstehen gibt. McEwans Roman ist damit weit mehr als eine dystopische Zukunftsvision oder ein literaturwissenschaftlicher Thriller. Er ist ein philosophisches Gedankenexperiment über die Grenzen menschlicher Erkenntnis – und eine Erinnerung daran, dass wir, egal wie viele Quellen wir haben, niemals die ganze Wahrheit kennen werden. Vielleicht ist das aber auch die eigentliche Pointe: Nicht die Wahrheit selbst ist entscheidend, sondern wie wir mit ihrer Unerreichbarkeit umgehen. Was wir wissen können ist begrenzt – aber die Frage selbst bleibt es wert, gestellt zu werden.

Katrin Beißner

[1] Esch, Arnold: Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers. In: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529-570. [2] Ebd., S. 548. [3] Ebd. [4] Ebd., S. 558. [5] Ebd., S 565. [6] Ebd, S. 570.

Worum geht es?

Dieser Blog dient dem Interpretieren von Literatur, Filmen und Kunst, individuellen Erfahrungen und der Realität. Die Analysen und Interpretationen erfolgen als Gedankenexperimente im Rahmen einer Beschäftigung mit dem Erzählen, literarischen Figuren, historischen Personen sowie realen Menschen unter Anwendung literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden.

archive

Aktuelle Beiträge

Grenzen der Erkenntnis: McEwans Was wir wissen können als literarische Reflexion über Wahrheit und Überlieferung

Grenzen der Erkenntnis: McEwans Was wir wissen können als literarische Reflexion über Wahrheit und Überlieferung

Der Roman Was wir wissen können von Ian McEwan greift ein Thema auf, das besonders für mich als Literaturwissenschaftlerin äußerst interessant ist: Wie viel lässt sich mit Quellensichtung, Wissen über Biographien, zeitgenössischem Kontext, literarischen Werken…

Kleiner Mann – was nun? Zusammenfassung, Analyse und Interpretation von Hans Falladas Gesellschaftsroman

Kleiner Mann – was nun? Zusammenfassung, Analyse und Interpretation von Hans Falladas Gesellschaftsroman

In den Wirren der Weltwirtschaftskrise entstand mit Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? 1932 ein literarisches Zeitdokument von historischer Authentizität. Der Roman traf mit seiner Wirklichkeitsgetreuen Darstellung den Nerv einer ganzen Generation und…