Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt

Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt. München 2024.

Zuletzt bearbeitet am 22. Dezember 2025

Auf das Buch von Mohamed Amjahid mit dem Titel Alles nur Einzelfälle bin ich durch eine Lesung aufmerksam geworden, bei der auch Asal Dardan mit Traumaland zugegen war. Die beiden Werke haben Berührungspunkte. Wo Amjahids Buch strukturellen Machtmissbrauch durch die Polizei als Institution mit seinen komplexen Auswirkungen sichtbar macht, weist Dardan auf Knotenpunkte der Gewalt im historischen Kontext und macht betroffene Personen sichtbar.

Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt. München 2024.
Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt. München 2024.

Was Amjahid in der kurzen Zeit der Lesung erzählte, hat mich schockiert – sodass ich an dieser Stelle darauf aufmerksam machen möchte. Außerdem interessierte mich besonders die institutionelle Entstehungsgeschichte, für wen sie gedacht war, was sie ursprünglich schützen sollte und welche Aspekte sich von der Gründung im Kern bis heute bewahrt haben.

Alles nur Einzelfälle? ist ein aufrüttelndes Sachbuch, das Polizeigewalt und Rassismus in Deutschland beim Namen nennt. Der Journalist und Autor dokumentiert darin zahlreiche Erfahrungen mit Diskriminierung, die Menschen mit Migrationsgeschichte täglich erleben. Durch persönliche Anekdoten, Interviews und Beweismittel macht er sichtbar, was gerne als Einzelfall abgetan wird. Amjahid zeigt allerdings, dass dem nicht so ist. Mit deutlicher Sprache fordert er die deutsche Gesellschaft heraus, sich ihrer Realität zu stellen. Während Alles nur Einzelfälle? eindrücklich die strukturellen Probleme der Polizei sichtbar macht, zeigt Amjahid zugleich, wie wichtig es ist, zwischen individuellem Fehlverhalten und institutionell verankerten Mustern zu unterscheiden – gerade um das System hinter der Gewalt präziser kritisieren zu können. Das Buch liefert eine unverzichtbare Grundlage für diese Debatte.

Alles nur Einzelfälle? ist lesenswert, weil…

👉 es die Verharmlosung von Polizeigewalt durch den Begriff Einzelfall entlarvt und strukturelle Diskriminierung sichtbar macht.

👉 Amjahid persönliche Erlebnisse mit gesellschaftlicher Analyse verbindet und so sowohl emotional berührt als auch intellektuell überzeugt.

👉 das Buch konkrete Beispiele aus verschiedenen Lebensbereichen liefert – von Behördengängen über Wohnungssuche bis zu Polizeikontrollen.

👉 es Menschen ohne Rassismuserfahrung die Augen öffnet und Betroffenen das Gefühl gibt, mit ihren Erlebnissen nicht allein zu sein.

👉 der Autor trotz der ernsten Thematik einen zugänglichen, teils humorvollen Ton findet, der zum Weiterlesen motiviert und Diskussionen anregt.

Vorgeschmack auf Alles nur Einzelfälle?

Es wird einige schockieren, aber die Polizei ist nicht naturgegeben. Sie ist menschengemacht, sie wurde mit bestimmten Vorstellungen von Ordnung, Sicherheit, Gewaltanwendung und Verteilung von Ressourcen erfunden, weiterentwickelt, oft von autoritären Regimen pervertiert. Sodass einige von dieser Institution maximal profitieren – manchmal auf Kosten anderer Menschen und Gruppen in der Gesellschaft. Die Polizei hat sich mit der Zeit als unverzichtbar erscheinendes Phänomen in der menschlichen Zivilisation etabliert. So wie Sauerstoff, allzeit verfügbares, günstiges Fleisch auf unseren Tellern, superbillige Flugtickets oder leichte Unterhaltung auf unseren Smartphones. Okay, außer dem Sauerstoff sind all diese Dinge wirklich menschengemacht und irgendwie doch verzichtbar. In prähistorischen, sogenannten primitiven Gemeinschaften wurden Konflikte von Stammesältesten oder Räten geschlichtet, die Regeln für das Zusammenleben aufstellten. Diese Tradition wurde teilweise zu Gesetzen und sozialen Normen gemacht, auf Gerechtigkeit ausgerichtet und so in einigen Regionen der Welt weiter bewahrt (siehe Kapitel 22). Mit dem Entstehen von Städten und komplexen Gesellschaften in der Antike kamen erste organisierte Sicherheitsmechanismen auf. Beispielsweise gab es in Mesopotamien sogenannte Stadtwächter, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Prävention von Kriminalität zuständig waren. Im alten Ägypten wurde eine königliche Wache etabliert, um den Pharao zu schützen und seinen Willen durchzusetzen. Wenn man so will, gilt dieses System bis heute in Ägypten.

Im Römischen Reich wurde die Sicherheit durch das Militär und regionale Präfekten gewährleistet. Diese Beamten (es waren immer Männer) standen im Dienst des Staates, sie hatten militärische und polizeiliche Befugnisse, sie durften zum Beispiel Bürger*innen durchsuchen und festnehmen, Wege absperren oder privates Eigentum beschlagnahmen. Sie waren für die Aufrechterhaltung der damals geltenden öffentlichen Ordnung verantwortlich. Da es sich hier um eine kleine Geschichte handelt, springe ich an dieser Stelle direkt ins Mittelalter. Dort entwickelten sich Stadtwachen und Bürgermilizen als Antwort auf die steigende Kriminalität in den Städten, diese Wachen und Milizen sind bis heute wichtig für unser eurozentrisches Verständnis von Polizei Die Stadtwachen wurden von der Stadtverwaltung angestellt, um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Bürgermilizen hingegen bestanden aus freiwilligen Bürgern, die sich zusammenschlossen, um ihre Gemeinschaften zu schützen. Manchmal wurden sie aber auch zum Wachdienst verpflichtet.

Hauptsächlich ging es darum, den Besitz von wenigen zu verteidigen. Die Wachen und Milizen waren für jene da, die es sich leisten konnten, einen Sold zu zahlen. Besitzverhältnisse waren gar nicht so deutlich festgeschrieben, wie wir es heute kennen. Es gab selten ein gültiges Grundbuch, in dem man nachlesen konnte, wer welches Gebäude oder Land besitzt. Reiche setzten auf eine private Polizei, um ihr (vermeintliches) Eigentum vor der verarmten Bevölkerung zu schützen, die naturgemäß ein Stück vom Kuchen abhaben wollte. Es ging darum, die proletarischen Massen zu kontrollieren und sie dem Adel und später dem Bürgertum als billige, ausgebeutete Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.

Die moderne Polizei, wie wir sie heute kennen, basiert auf diesem Prinzip: Menschen und vor allem Besitz sollen geschützt werden. Aber vor wem? Für wen? Von wem? Im 19. Jahrhundert wurden exakt diese Fragen in England geklärt. […] Der moderne Staat, wie wir ihn kennen und zu selten hinterfragen, ist eine Erfindung des Westfälischen Friedens von 1648. Ein wichtiges Prinzip dieses Vertrags bestand darin, dass ein Staat offiziell existiert, wenn ihn genug andere Staaten anerkennen. Dementsprechend muss der anerkannte Staat diplomatische Beziehungen pflegen, seine eigene Wirtschaft und den Handel ausbauen und nach innen für Sicherheit sorgen. Die Polizei ging später im (zumindest theoretischen) Sinne von Peel in die Geschichte und-politische Praxis des Staatswesens ein. Der Polizei wurden im Zuge der Erfindung und Etablierung von moderner Staatlichkeit auch eine maßgebliche Rolle beim Schutz staatlicher Grenzen zugewiesen. So begannen Polizeibehörden damit, die eigenen Staatsbürger*innen vor vermeintlichen » Eindringlingen« zu schützen mit allen erdenklichen Mitteln (siehe Kapitel 21). Dies als menschengewollte Erfindung in· Erinnerung zu rufen, hilft zumindest mir, meinen Blick auf diese Institution heute zu schärfen.

Peels Polizeimodell fand schnell Verbreitung in anderen Ländern, darunter auch den USA. Womit wir schon beim Thema Kolonialismus und Versklavung wären: Ohne das Prinzip der Polizei hätte es keine Gewalt von Europa aus und von den Nachfahren europäischer Siedler*innen in Amerika gegen die Völker der Welt geben können. Die Wurzeln der Polizei in den USA liegen im 18. und 19. Jahrhundert in den Slave Patrols. Es handelt sich dabei um organisierte Milizen von weißen SkIavenhändler*innen und -besitzer*innen, die aus Afrika verschleppte und versklavte Schwarze Menschen kontrollierten, unterdrückten und töteten. Schwarze Männer wurden ausgepeitscht, gedemütigt, gelyncht – ohne Gerichtsverfahren, nur weil sich weiße Frauen über sie beschwerten. So zum Beispiel im Jahr 1857 in Post Oak im texanischen Bexar County geschehen, als sich eine »deutsche Frau« über einen versklavten Schwarzen Mann »empörte« und eine Bürgerwehr ihn zur Strafe hängte. Solche unzählig verübten öffentlichen Exekutionen dienten dazu, anderen Schwarzen Menschen Angst zu machen, sie gefügig zu machen. Die Slave Patrols spielten vor allem in den Südstaaten der USA eine zentrale Rolle, vor allem, weil sie später in das Staatsgebilde und das lokale institutionelle Gefüge übergegangen sind. In den USA sorgten die sogenannten Jim-Crow-G.esetze17 auch nach der formalen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 dafür, dass Schwarze Körper entmenschlicht, der gesellschaftlichen Diskriminierung und den Sicherheitsbehörden ausgeliefert wurden. Offiziell bis ins Jahr 1964 und zum Inkrafttreten des Civil Rights Act, der die Segregation gesetzlich verboten hat. Inoffiziell, dank der institutionellen Kontinuitäten, bis heute. Viele städtische und ländliche Polizeibehörden, die heute noch in den USA, aber auch in Brasilien zum Beispiel operieren, gehen auf die Slave Patrols zurück. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn Schwarze Menschen in Amerika und auf anderen Kontinenten zum Abolitionismus, also zur Auflösung des herrschenden Polizeisystems, aufrufen (siehe Kapitel22). In den USA hat schließlich August Vollmer, Sohn deutscher Einwanderer im Bundesstaat Louisiana, Anfang des ,2o. Jahrhunderts die Polizei in Nordamerika professionalisiert und dazu beigetragen, dass sie militarisiert aufgestellt gegen Teile der eigenen Bevölkerung eingesetzt wurde.19 Vollmer hat vor allem die Technisierung und Taktik der US-Armee in den von den USA besetzten Philippinen auf Polizeibehörden übertragen.

Ich möchte hier auf die oben genannten Fragen zurückkommen: Wer schützt wen und vor wem? Die Polizei sollte die weiße Bevölkerung Europas und Amerikas und ihre Privilegien vor den vermeintlich minderwertigen nicht-weißen Menschen, vor allem vor Schwarzen Menschen in den Kolonien »schützen«. Die koloniale Gewalt verbreitete sich über alle Kontinente dank des Militärwesens. Auch ein deutscher KoJonialismus. Die Gewalt gegen »die Anderen« konnte ich über Jahrhunderte allerdings nur dank der disziplinierenden Funktion polizeiähnlicher oder polizeilicher Organisationen halten. In den Kolonien, egal ob in Afrika, Asien oder Amerika, wurden Menschen verdinglicht, und dieser vermeintliche Besitz wurde im Sinne der ursprünglichen Idee, was die Polizei überhaupt zu leisten hat, »geschützt«. Die einen profitierten maximal, die anderen mussten im Elend leben oder sterben.

Aus: Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt. München 2024, S. 11-16.

Zum Autor Mohamed Amjahid

Mohamed Amjahid wurde 1988 als Sohn marokkanischer Einwanderer in Frankfurt am Main geboren. Er arbeitet als investigativer Journalist, ist Autor und Moderator und ist für überregionale Medien wie die Süddeutsche Zeitung und die Zeit tätig. Amjahid hat mehrere Jahre als Auslandskorrespondent in Nordafrika und dem Nahen Osten gearbeitet, insofern bringt  er eine internationale Perspektive in seine Arbeit ein. Seine Texte zeichnen sich durch präzise Beobachtung, klare Haltung und die Fähigkeit aus, komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge verständlich zu machen. Ich habe ihn auch bei der Lesung als jemanden erlebt, der seine Position klar kommuniziert und deutlich macht, so dass keinerlei Missverständnisse aufkommen können. Mit seinen Büchern und seiner journalistischen Arbeit ist er zu einer wichtigen Stimme in der deutschen Rassismusdebatte geworden. Ich denke auch, dass es Talent ist, direkt und ungeschönt auf Wahrheiten einzugehen, welche von der Gesellschaft nicht gesehen werden wollen oder schlimmer – unter den Teppich gekehrt werden. Amjahids Buch eröffnet neue Perspektiven auf hochaktuelle Themen und Debatten, das darüber hinaus noch zum Nachdenken anregt. Dabei verliert er nie den Blick für die Menschen hinter den Geschichten und macht deutlich, dass gesellschaftliche Muster immer individuelle Auswirkungen haben.

Zusammenfassung von Alles nur Einzelfälle?

Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt zeigt anhand zahlreicher dokumentierter Fälle von Racial Profiling, rechtsextremen Polizei-Chats, Machtmissbrauch im Amt und tödlicher Polizeigewalt, dass diese Vorfälle nicht als isolierte Ausnahmen verstanden werden können, sondern Ausdruck eines strukturellen Problems innerhalb der deutschen Polizei sind. Amjahid verbindet repräsentative Studien, langjährige investigative Recherchen und persönliche Erfahrungen zur Beschreibung der sogenannten Cop Culture, in der Loyalität nach innen, Abschottung nach außen und mangelnde Kontrolle durch Justiz und Politik dazu führen, dass polizeiliche Übergriffe selten konsequent geahndet werden. Dies gilt insbesondere für Gewalt gegen marginalisierte Gruppen wie etwa junge Geflüchtete, die überproportional gefährdet sind. Im Buch wird damit konsequent das offizielle Narrativ von den Einzelfällen demontiert und das unkritische Grundvertrauen in die Institution Polizei erschüttert. Amjahid plädiert mit seiner langjährigen Recherche im polizeilichen Darkspace mit seinem aktuellen Sachbuch für eine ehrliche gesellschaftliche Debatte sowie Reformen, die Transparenz, unabhängige Kontrolle und den Schutz Betroffener stärken sollen.

Zur Einzelfall-Rhetorik und aktuelle Debatten

Alles nur Einzelfälle? erschien bereits 2024 und greift aktuelle Debatten um Rassismus in Deutschland auf, die durch Bewegungen wie Black Lives Matter und die Aufdeckung rechtsextremer Netzwerke in Sicherheitsbehörden neu entfacht wurden. Amjahids Titel spielt bewusst auf die Rhetorik an, mit der rassistische Vorfälle in Deutschland oft heruntergespielt werden – Politiker und Medien sprechen gerne von bedauerlichen Einzelfällen, statt die strukturelle Probleme anzuerkennen Aktuell taucht die „Einzelfall“-Rhetorik vor allem in Debatten über Polizeigewalt und Rassismus, rechten Terror und Hasskriminalität sowie sexualisierte Gewalt auf. Besonders sichtbar ist sie bei tödlichen Polizeieinsätzen gegen Schwarze oder als migrantisch gelesene Menschen oder Personen in psychischen Krisen (z.B. Fälle wie Mouhamed in Dortmund oder jüngst Lorenz in Oldenburg), wo Innenpolitiker:innen und Polizeigewerkschaften problematische Einsätze häufig als tragische, aber isolierte Ausnahmen darstellen, während Betroffeneninitiativen von einem Muster struktureller Gewalt sprechen. Ähnlich wird bei rechtsterroristischen Anschlägen und Netzwerken, etwa im Umfeld der NSU-Morde oder Anschläge wie Halle und Hanau, lange von „radikalisierten Einzeltätern“ gesprochen, obwohl Ermittlungen und Forschung immer wieder auf ideologische Netzwerke, institutionelle Blindstellen und rassistische Stereotype in Sicherheitsbehörden hinweisen. Auch nach rassistischen, antisemitischen oder antifeministischen Angriffen und Drohschreiben – von „NSU 2.0“ bis zu Gewalt gegen queere oder feministische Einrichtungen – wird in der öffentlichen Kommunikation häufig betont, es handle sich um „Ausreißer“, während zivilgesellschaftliche Organisationen auf wiederkehrende Muster und ein Klima der Enthemmung verweisen. Dagegen zeigt Amjahid in Alles nur Einzelfälle? auch auf, wie Rassismus intersektional mit anderen Diskriminierungsformen wie Klassismus zusammenwirkt und plädiert für einen differenzierten Blick auf Machtverhältnisse in der Gesellschaft.

Katrin Beißner

Bildquellen

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