In den Wirren der Weltwirtschaftskrise entstand mit Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? 1932 ein literarisches Zeitdokument von historischer Authentizität. Der Roman traf mit seiner Wirklichkeitsgetreuen Darstellung den Nerv einer ganzen Generation und wurde über Nacht zum Bestseller. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass Fallada die Ängste, Hoffnungen und den täglichen Überlebenskampf der kleinen Leute in der Weimarer Republik sehr eindringlich schildert und sich viele Menschen damit identifizieren konnten.
Mir persönlich gefiel am Roman besonders die zeitlose Aktualität – denn viele der dargestellten Themen sind universell und hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension übertragbar. Und vor allem gefiel mit beim Lesen die subtile Gesellschaftskritik, die Fallada in Kleiner Mann – was nun? eingebunden hat. Es handelt sich um keine plakative Anklage, aber auch keine sentimentale Verklärung, sondern einfach ein Abziehbild des damaligen Ist-Zustandes. Vermutlich wird das Werk deswegen der Neuen Sachlichkeit zugeordnet; weil es die gesellschaftlichen Abgründe der Zwischenkriegszeit realistisch darstellt.
Kleiner Mann – was nun? ist lesenswert, weil…
👉 der Roman mit ungeschönter Ehrlichkeit den Alltag einfacher Menschen in der Wirtschaftskrise porträtiert und dabei zeitlos aktuelle Fragen nach Würde, Zusammenhalt und Existenzangst stellt.
👉 Falladas Figuren authentisch sind und Mitgefühl erzeugen, sodass man bei der Begleitung auf ihrem Weg mit ihnen mitfiebert.
👉 die im Roman dargestellten Mechanismen sozialer Ausgrenzung und der Verlust von bürgerlichen Sicherheiten so präzise analysiert wird, dass man daraus auch aktuelle Erkenntnisse gewinnen kann.
👉 der nüchterne und realistische Stil der Neuen Sachlichkeit die Dramatik der Ereignisse eindringlicher macht und der Roman dadurch eine dokumentarische Authentizität erhält.
Zusammenfassung Kleiner Mann – was nun?
Johannes Pinneberg und seine Verlobte Emma, die wir im Roman unter dem Namen Lämmchen kennenlernen, erwarten ein Kind. Als junger Angestellter in einer Kleinstadt erhält Johannes ein bescheidenes Gehalt, dass die Familie gerade so über Wasser hält. Nach der Heirat beginnt für das junge Paar ein zermürbender Kampf ums wirtschaftliche Überleben. Neben den finanziellen Schwierigkeiten wird auch die Wohnsituation für Johannes bei den Schwiegereltern immer schwieriger. Der Umzug in die Großstadt Berlin soll den Aufschwung bringen: Pinneberg findet eine Stelle als Verkäufer in einem Herrenmodengeschäft. Doch auch hier ist das Glück nicht von Dauer. Die Weltwirtschaftskrise verschärft sich und Pinneberg verliert seine Anstellung. Trotz verzweifelter Bemühungen findet er keine neue Arbeit, sodass die kleine Familie die Wohnung aufgeben und in eine schäbige Unterkunft ziehen muss.
Pinneberg erlebt die Demütigungen der Arbeitslosigkeit: den Gang zum Arbeitsamt, die erniedrigenden Verhöre, den Verlust der Selbstachtung. Er gerät in die Spirale der Verzweiflung und fühlt sich zunehmend entfremdet von der Gesellschaft, als ein Außenseiter und degradierter Bürger.
Durch all diese Prüfungen hindurch bleibt die Liebe zwischen Pinneberg und Lämmchen bestehen. Lämmchen erweist sich als der stabilere Part, der Hoffnung und Lebensmut bewahrt. Am Ende steht keine triumphale Lösung, sondern ein trotziges Festhalten an der Menschlichkeit und der kleinen Gemeinschaft der Familie – ein leiser, aber beharrlicher Widerstand gegen den gesellschaftlichen Niedergang und die Diskriminierungen, die Pinneberg von seinen Mitmenschen entgegengebracht wurden.
Zum Autor Hans Fallada
Hans Fallada (1893-1947), geboren als Rudolf Ditzen in Greifswald, wählte sein Pseudonym nach Figuren aus Grimms Märchen: Der Vorname Hans stammt aus Hans im Glück; der Nachname Fallada stammt von dem sprechenden Pferd namens Falada (wird oft nur mit einem l geschrieben) aus Die Gänsemagd. Falladas Leben war geprägt von persönlichen Krisen, Drogensucht und Gefängnisaufenthalten – er kannte also die Abgründe der Gesellschaft aus eigener Erfahrung. Diese aus eigenen Erfahrungen gewonnene Authentizität macht seine Werke so glaubwürdig und realistisch. Kleiner Mann – was nun? machte ihn 1932 schlagartig berühmt und wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Trotz des Erfolgs blieb Fallada zeit seines Lebens ein Außenseiter, der sich weder den Nationalsozialisten andiente noch emigrierte, sondern in einer Art innerer Emigration in Deutschland blieb. Nach dem Krieg schrieb er mit Jeder stirbt für sich allein noch ein bedeutendes Werk über den Widerstand gegen das NS-Regime, bevor er 1947 in Berlin starb.
Stationen aus dem Leben Falladas:wichtigste Lebensdaten und prägende Ereignisse
1893
21. Juli: Hans Fallada (Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen) wird als Sohn des Reichsgerichtsrats Wilhelm Ditzen und dessen Frau Elisabeth in Greifswald geboren.
Weil er in Leipzig einem ihm nur sehr flüchtig bekannten Mädchen nachstellte − schrieb den Eltern des Mädchens anonyme und anzügliche Briefe über die angebliche heimliche Beziehung –, schickten ihn seine Eltern in das Sanatorium Schloss Harth.
1911
Mit seinem Freund Hanns Dietrich von Necker beschloss er am 17. Oktober 1911, einen als Duell getarnten Doppelsuizid zu begehen. Bei dem Schusswechsel starb von Necker, während Ditzen schwer verletzt überlebte. Er wurde wegen Totschlags angeklagt und in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Wegen Schuldunfähigkeit wurde die Anklage fallengelassen. Ditzen verließ das Gymnasium ohne Abschluss. Einweisung in die Psychiatrische Universitätsklinik in Jena.
1913
Beginnt er eine Lehre in der Landwirtschaft.
1917
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wurde jedoch als „dauernd untauglich“ abgewiesen. Die Zeit von 1917 bis 1919 verbrachte er aufgrund seiner Alkohol- und Morphinsucht hauptsächlich in Entzugsanstalten und Privatsanatorien. Erste schriftstellerische Versuche. Zwei damals im Rowohlt Verlag veröffentlichte Romane waren ein wirtschaftlicher Misserfolg. Konnte sich danach mit Gelegenheitstätigkeiten, vor allem als Gutsverwalter, aber auch als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter der Landwirtschaftskammer Stettin und später als Angestellter einer Kartoffelanbaugesellschaft in Berlin, finanziell über Wasser halten.
1917-1919
Fallada wird aufgrund seiner Alkohol- und Rauschgiftsucht mehrmals in Heilanstalten für Suchtgefährdete eingewiesen, in denen er sich vergeblichen Entziehungskuren unterzieht.
1920
Veröffentlichung seines ersten, noch vom Expressionismus geprägten Romans Der junge Godeschal.
1923
Fallada muß sich wegen des Tatbestands der Unterschlagung vor Gericht verantworten und wird zu mehreren Monaten Haft verurteilt. Später wurde Ditzen zweimal zu Haftstrafen verurteilt, weil er zur Finanzierung seiner Drogen- und Alkoholsucht Betrugs- und Unterschlagungsdelikte begangen hatte.
1926-1928
Erneuter Gefängnisaufenthalt wegen Betrugs.
1929
Heirat mit Anna Issel, die als Lämmchen in seine Romane eingeht. Der Ehe entstammen drei Kinder.
Fallada wendet sich in dieser Zeit vermehrt sozialkritischen Themen zu und wird zu einem Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Das bevorzugte Milieu seiner Romane wird das Kleinbürgertum, das unter den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu leiden hat. Durch die einfache, leicht verständliche Sprache seiner Werke wird Fallada nicht nur zum Autor über, sondern besonders für diese Gesellschaftsschicht.
1931
Sein erster großer Roman Bauern, Bonzen und Bomben zeigt eine Kleinstadt während der Bauernunruhen Ende der zwanziger Jahre. Er beruht auf Falladas Erfahrungen als Gerichtsreporter beim Landvolk-Prozeß 1929. In ihm zeichnet er ein realistisches Bild der Zustände und der Unzufriedenheit der Bevölkerung.
1932
Der Roman Kleiner Mann, was nun? bringt Fallada Weltruhm ein.
ab 1933 Im März 1933 wurde Rudolf Ditzen von seinen Mietern bei der örtlichen SA denunziert. Die Mieter hatten ein Gespräch Ditzens mit Ernst von Salomon belauscht, das angeblich staatsfeindlichen Inhalt hatte. Ditzen wurde kurzzeitig in Haft genommen und kaufte noch 1933 in Carwitz ein Anwesen. Dort schrieb er als Hans Fallada weitere Romane, darunter auch den sozialkritischen Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frißt, in dem er seine Erfahrungen im Zentralgefängnis Neumünster verarbeitete. Das Buch konnte unter der nationalsozialistischen Herrschaft erscheinen, weil es sich gegen die Behandlung der Gefangenen in der Weimarer Republik – der von den Nationalsozialisten so genannten „Systemzeit“ – richtete. Das Werk wird von der nationalsozialistischen Kritik abgelehnt.
1935/36
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Hans Falladas Werke von staatlicher Seite immer negativer beurteilt, deshalb wandte er sich politisch unverfänglicher Unterhaltungsliteratur zu. Als RAD-Sonderführer (Der Reichsarbeitsdienst (abgekürzt RAD) war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Ab Juni 1935 musste dort jeder junge Mann eine sechsmonatige, dem Wehrdienst vorgelagerte Arbeitspflicht im Rahmen eines Arbeitsdienstes ableisten.) unternahm er eine Reise in das besetzte Frankreich. Sein Buch Wolf unter Wölfen, das als Kritik an der Weimarer Republik interpretiert wurde, wurde von Joseph Goebbels ausdrücklich gelobt.
1944
Nach dem Scheitern der Ehe Ditzens wurde diese am 5. Juli 1944 geschieden. Im Streit mit seiner geschiedenen Frau schoss er am 24. August 1944 unter Drogeneinfluss mit einer kleinen Terzerol-Pistole in einen Tisch. Daraufhin wurde er wegen versuchten Totschlags angeklagt und am 4. September 1944 in den Maßregelvollzug zur Beobachtung eingewiesen. Er schrieb hier das Trinkermanuskript – eine Reihe von Kurzgeschichten, den Roman Der Trinker und einen Erfahrungsbericht über den NS-Staat. Am 13. Dezember 1944 wurde er wieder entlassen und heiratete im Februar 1945 die fast 30 Jahre jüngere Ursula Losch. Diese hatte ebenso wie er mit Drogenproblemen zu kämpfen.
1945
1945 übte Ditzen für eine kurze Zeit in Feldberg das Amt des Bürgermeisters aus. Er übersiedelte dann mit seiner Frau nach Berlin und arbeitete dort auf Wunsch Johannes R. Bechers (Johannes Robert Becher war ein deutscher expressionistischer Dichter und Politiker, Minister für Kultur sowie erster Präsident des Kulturbundes der DDR. Verfasser des Textes der Nationalhymne der DDR.) für die Tägliche Rundschau. Fallada durfte zusammen mit den Machthabern der SED – wie Becher selbst – im bevorzugten und von der Außenwelt abgeschotteten Quartier Majakowskiring („das Städtchen“) wohnen. Die hier erlebte Abschottung ist in Falladas Roman Der Alpdruck eingegangen.
Heirat mit der ebenfalls alkoholabhängigen Ursula Boltzenthal.
1947
Fallada findet zu seinem früheren, kritischen Stil zurück. Er verfasst den Widerstandsroman Jeder stirbt für sich allein. Er veranschaulicht hier die Machtlosigkeit des einzelnen gegenüber dem Staat, aber auch den Mut einzelner, zu ihren Werten zu stehen.
Erneuter Klinikaufenthalt aufgrund seiner Drogensucht. 1946 wurde Ditzen aufgrund seiner Alkoholkrankheit und Morphinismus in die Nervenklinik der Berliner Charité
eingewiesen. Innerhalb eines Monats schrieb er dort in schlechtem körperlichem Zustand den Roman Jeder stirbt für sich allein. 5. Februar: Hans Fallada stirbt in Berlin an Herzversagen.
1950
Postum wird sein persönlichstes Buch Der Trinker veröffentlicht.
Literaturwissenschaftliche Perspektiven zu Falladas Kleiner Mann – was nun?
Die Krise des bürgerlichen Subjekts und die Frage nach Handlungsfähigkeit
Falladas Kleiner Mann – was nun? stellt Fragen zur Selbstbestimmung des Individuums innerhalb gesellschaftlicher Umbrüche. So wird insbesondere an der Figur des Johannes Pinneberg, die unter anderem auch die bürgerliche Tradition vertritt, der Aspekt der Massenarbeitslosigkeit und damit einhergehende Identitätsproblematiken inszeniert. Pinneberg verliert sukzessive sein Selbstverständnis – er wird vom Handelnden zum Erleidenden.
Die literaturwissenschaftliche These lautet: Fallada dekonstruiert die Vorstellung des sich selbst entwerfenden Subjekts und zeigt stattdessen, wie ökonomische Strukturen den Handlungsspielraum bis zur völligen Passivität verengen. Die zentrale Fragestellung: Mit welchen narrativen und sprachlichen Mitteln inszeniert Fallada diesen Prozess der Entsubjektivierung, und gibt es im Text Momente, in denen diese scheinbar totale Determination durchbrochen wird?
Es wäre interessant literarische Stilmittel von expressionistischen Werken zum Vergleich heranzuziehen – möglicherweise auch von lyrischen Werken wie Else Laser-Schülers Heimweh oder aber Gerrit Engelkes Heimkehr.
Das Paradox der Intimität im öffentlichen Raum
Mit Fragestellungen und Thesen zur Entsubjektivierung zusammen hängt die Inszenierung verschiedener literarischer Räume. In Kleiner Mann – was nun? inszeniert Fallada private sowie intime Momente bewusst in halböffentlichen und öffentlichen Räumen. Dazu gehören beispielsweise Warenhäuser, Parks, Straßenbahnen und andere Orte. Diese Grenzverwischung ist keine stilistische Marotte, sondern sie reflektiert eine soziale Realität: Wer keine Wohnung mehr hat oder sich diese nicht leisten kann, muss sein Privatleben in die Öffentlichkeit verlagern. Oder womit könnte diese Form der Darstellung sonst noch verbunden werden? Eine mögliche Forschungsfrage lautet: Wie verändert der Verlust von Privatheit die emotionale und psychische Verfassung der Figuren? Und inwiefern wird durch diese räumliche Entgrenzung auch die bürgerliche Trennung von öffentlich/privat als Klassenprivileg entlarvt und dargestellt?
Die narrative Spannung zwischen Sentimentalität und Sachlichkeit
Obwohl dem Stil der Neuen Sachlichkeit verpflichtet, arbeitet Fallada mit erstaunlich sentimentalen Elementen. Dazu gehört als Kern von Kleiner Mann – was nun? die Liebe zwischen Pinneberg und Lämmchen, die Hoffnung auf das Kind, die Sehnsucht nach dem kleinen Glück. Diese emotionale Basis steht entgegen der externen Welt, die von Zerfall und Auflösung gekennzeichnet ist. Die mögliche These könnte so lauten: Fallada untergräbt bewusst die „Reinheitsgebote“ der Neuen Sachlichkeit und zeigt, dass gerade die Verbindung von nüchterner Analyse und emotionaler Wärme die soziale Katastrophe erträglich macht. Als Fragestellung könnte hinter dieser These dann so etwas stehen wie: Ist diese Sentimentalität eine Form des Widerstands gegen die Kälte der ökonomischen Verhältnisse oder handelt es sich um eine problematische Verschleierung der Klassenkämpfe durch Privatromantik?
Konsumkritik und die Dialektik der zeitgenössischen Warenwelt
Das Warenhaus, in dem Pinneberg arbeitet, ist ein interessanter Raum, der in mehrfacher Hinsicht für die literaturwissenschaftliche Analyse relevant ist. Es handelt sich bei dem Warenhaus nicht nur um Pinnebergs Arbeitsplatz, sondern um einen symbolischen Ort einer Konsumgesellschaft, die Bedürfnisse weckt, die nicht erfüllt werden können. An diesem Ort zeigen sich menschliche Abgründe und Differenzen verschiedenster Art. So verkauft Pinneberg Luxusgüter an Kund:innen, die er verachtet, während er selbst nicht einmal das Nötigste hat. Er selbst steht nicht einmal stellvertretend für den im Warenhaus dargebotenen Luxus, auch wenn er dem System dient. Die literaturwissenschaftliche These könnte hier so lauten: Falladas Kleiner Mann – was nun? zeigt, wie der moderne Kapitalismus durch die Zurschaustellung von Waren eine permanente Frustration erzeugt und wie Konsum gleichzeitig Klassenzugehörigkeit markiert und Ausschluss produziert. Dazu eine daran anknüpfende Forschungsfrage: Wie wird die Warenhaus-Szene narrativ gestaltet, um diese doppelte Funktion von Konsum (als Versprechen und als Ausschlussinstrument) sichtbar zu machen, und welche Rolle spielt Pinnebergs Position als Verkäufer für diese Inszenierung?
Das Schweigen über politische Alternativen
Auffällig ist, dass der Roman zwar die soziale Katastrophe minutiös dokumentiert, aber politische Lösungsansätze – Gewerkschaften, Parteien, kollektive Organisation – weitgehend ausspart. Das unterscheidet den Roman meines Erachtens nach von anderen Werken der Weimarer Republik. In Kleiner Mann – was nun? bleibt Pinneberg jedoch ein isoliertes Individuum. Die These dazu: Falladas vermeintlich unpolitischer Roman ist hochpolitisch, weil er gerade durch das Fehlen kollektiver Perspektiven die Alternativlosigkeit der Verhältnisse naturalisiert. Zugehörige Forschungsfrage: Ist der Roman ein Dokument politischer Resignation oder zeigt er gerade durch die Darstellung individuellen Scheiterns die Notwendigkeit kollektiven Handelns?
Die Ästhetik des Scheiterns und die Poetik des „Beinahe“:
Kleiner Mann – was nun? ist durchzogen von Momenten des „Beinahe“ – beinahe hätte Pinneberg eine Stelle bekommen, beinahe hätte es gereicht, beinahe wäre das Glück möglich gewesen. Diese narrative Struktur des permanenten Fast-Erfolgs erzeugt eine spezifische Lektüreerfahrung der Frustration. Natürlich sind die subjektiven Empfindungen der Lesenden nicht nachvollziehbar, doch lassen sich trotzdem spezifische Details erörtern. Dazu die These: Fallada entwickelt eine Ästhetik des Scheiterns, die nicht tragisch-erhaben ist, sondern kleinbürgerlich-zermürbend. Die Forschungsfrage: Wie wird durch diese narrative Strategie bei den Rezipienten Empathie, aber auch Ohnmacht erzeugt, bzw. durch welche Stilmittel wäre dies möglich und welche Wirkungsabsicht verfolgt Fallada damit?
Aufgabenstellungen Kleiner Mann – was nun?
Aufgabenblock zur Neuen Sachlichkeit und Kleiner Mann – was nun?
1) Recherchiere, wodurch sich literarische Werke der Neuen Sachlichkeit auszeichnen.
Die Neue Sachlichkeit ist eine realistische Stilrichtung, die zu Beginn der 1920er zunächst in der Kunst entstand, und später in der Literatur aufgegriffen wurde. Künstler wandten sich der Realität zu und erfassten diese in ihren Werken künstlerisch objektiv und sachlich, zum Beispiel in der Darstellung von Alltags- und Gebrauchsgegenständen.
In der Literatur wandte sich die Neue Sachlichkeit von der pathetischen Form des Schreibens ab. An Stelle romantisch angehauchter, geschönter und dramatisierender Sprache, trat eine detaillierte und beschreibende Darstellung der Gesellschaft und des alltäglichen Lebens. Die Haltung des Erzählers war dabei distanziert und objektiv. Ebenso wurden auf Übertreibungen und weitläufige Ausschweifungen verzichte. Die Sätze waren kurz, einfach und oft auch umgangssprachlich. Gefühle und Emotionen wurden nicht mehr ausgedrückt, und wenn doch, dann glichen sie einer Dokumentation, die aufkommende Gefühle aufzeichnete und wiedergab. Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit wollten ihre Umwelt so realitätsnah wie möglich darstellen und beschreiben, dies auch auf der Grundlage von Fakten. Auch sind die Protagonisten in den schriftstellerischen Werken oft Menschen, mit denen sich jeder Bürger identifizieren konnte, wie etwa Ingenieure, Sekretärinnen, Angestellte, Arbeitslose usw. Dadurch konnten die in der Weimarer Republik vorhandenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme dargestellt werden.
Ebenfalls ist die Neue Sachlichkeit eng mit der neuen Vergnügungskultur durch die Medien, wie Film und Radio, Illustrierte, Zeitschriften und Zeitungen verknüpft. Aufgrund ihrer objektiven Haltung wiesen die Schriftsteller dieser Epoche zwar auch auf die Verluste aufgrund der Industrialisierung und Kommerzialisierung hin, jedoch wurden die neuen Medien von ihnen auch in Anspruch genommen, um sie für ihre Werke zu nutzen und damit aufzuzeigen, dass diese Neuerungen ab sofort zur Welt dazugehörten. Zum Beispiel wurde die Montagetechnik vom Kino für den Roman übernommen.
2) Erörtere, inwieweit der Roman von Hans Fallada der Neuen Sachlichkeit entspricht.
Es finden sich in „Kleiner Mann – was nun?“ viele Indizien dafür, dass dieses Werk der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden kann. Objektiv wird hier das Leben des Angestellten Pinneberg und seiner Frau Lämmchen beschrieben. Des Weiteren findet sich viel Umgangssprachliches im Text, ebenso wie direkt Rede. Die Überschriften der einzelnen Kapitel sind nicht abstrakt formuliert, sondern geben genau den Inhalt wieder, der in dem folgenden Abschnitt beschrieben wird. Fast sind die Überschriften kleine Zusammen-fassungen, die in eine Art Kurzmeldung den Inhalt des Folgenden wiedergeben. Auch sind die Sätze schmucklos und entsprechend kurz. Die Realität, wie Fallada sie für den Roman aus der damaligen gesellschaftlichen Realität übernommen hat, wird somit exakt, sehr detailliert und ohne emotionale Auswüchse dargestellt. Die Geschichte ist eher weniger eine erdachte Geschichte, denn ein alltagstaugliches Abziehbild der damaligen Gesellschaft, mit der sich viele Menschen aus dem Volk identifizieren konnten, oder sich darin wiedererkannten. Es bleibt dem Leser wenig Zeit zum dazu dichten, zum hinzudenken, die Realität der Erlebnisse Pinnebergs wird dem Leser direkt und ohne Umschweife beschrieben.
Fallada nutzt in seinem Roman das neue Medium Kino geschickt und eröffnet seinem Protagonisten Pinneberg in einer Schlüsselszene neue Erkenntnisse über seine eigene Situation. Gerade die Kino-Szene ist so angelegt, dass sie auch tiefgreifende Erkenntnisse über die damalige gesellschaftliche Situation aufzeigt, sowie die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung. Der gesamte Roman stellt die soziale und wirtschaftliche Situation in der Weimarer Republik dar, womit ebenfalls eine klare Zuordnung zur Neuen Sachlichkeit getroffen werden kann.
Aufgabenblock zum Angestellten-Dasein im Warenhaus in Kleiner Mann – was nun?
3) Erarbeiten Sie Pinnebergs Selbstverständnis als Verkäufer. Wie wird er von seinem Kollegen wie vom Vorgesetzten gesehen?
Pinneberg hat Spaß am Verkaufen. Jedoch ist es nicht das Verkaufen an sich, oder die Arbeit mit edlen Stoffen, die ihm besonderes Vergnügen bereiten, sondern es ist der Umgang mit den verschiedensten Menschen. Während eines Verkaufsgesprächs empfindet Pinneberg es als besonders spannend herauszufinden wie die Persönlichkeit eines jeden Käufers beschaffen ist, und welche psychologische Taktik er anwenden muss, um den Kunden um ein Kleidungsstück reicher und um einige Geldscheine leichter zu machen. Im Gespräch mit Heilbutt sagt Pinneberg selbst, dass ihm die „Leute Spaß“ (S. 158) machen. Er müsse „immer dahinterkommen, was sie sind und wie man sie nehmen muss und wie man es drehen muss, dass sie kaufen.“ (S. 158). Des Weiteren ist er ebenfalls der Ansicht, dass er eben aufgrund seines besonderen Gespürs für die Bedürfnisse der Kunden und des daraus resultierenden erfolgreichen Verkaufs „wirklich selten eine Pleite“ (S. 158) schiebt. Wenn es mal nicht klappt mit dem Verkaufen, dann liegt es nach Pinnebergs Meinung daran, dass diese Kunden „gar nicht wirklich kaufen wollen“ (S. 158). Andererseits stört es Pinneberg auch, dass er nicht durch seine bloße Anwesenheit den Respekt der Kunden bekommen kann, so wie sein Kollege Heilbutt, der allein durch seine Erscheinung den „Leuten so schrecklich“ (S. 158) imponiert. Pinneberg „muss immer in die Leute reinkriechen, muss raten, was sie wollen“ (S. 158). Sein Talent, die Bedürfnisse und Persönlichkeiten der Menschen aufzudecken ist ihm bewusst und er setzt dieses bei seiner Verkaufstätigkeit ein. Jedoch, ein wenig neidisch ist er schon, dass er nicht die erhabene Ausstrahlung seines Kollegen Heilbutt besitzt.
Pinnebergs Kollege Heilbutt hält ihn für den geborenen Verkäufer. Für ihn ist klar, seinem Kollegen Pinneberg macht „es doch Spaß zu verkaufen“ (S. 158). Heilbutt sieht den Erfolg Pinnebergs darin, dass dieser im Verkaufsgespräch ruhig bleibt und sich trotz der verächtlichen Kommentare der Käufer nicht aus der Ruhe bringen lässt und zu keiner Zeit „gekränkt“ (S. 159) ist. „Sie sind nicht so, Pinneberg“ (S. 159) sagt Heilbutt.
Der Substitut Jänecke, Pinnebergs Vorgesetzter, sieht dies ganz anders. Während Heilbutt und Pinneberg sich unterhalten, kommt Herr Jänecke hinzu. Heilbutt macht eine Anspielung über die drei Verkäuferarten, über die er und Pinneberg gesprochen haben. Indirekt kann davon ausgegangen werden, dass er sich, Pinneberg und Jänecke, bzw. alle anderen Verkäufer bei Mandel meint, als er die Verkäufer in „die, die den Leuten imponieren. Die, die raten, was die Leute wollen. Und drittens die, die nur per Zufall verkaufen“ (S. 159) einteilt. Jänecke, der sich lächelnd denken kann, dass er gemeint ist, antwortet darauf nur, dass er nur eine Art Verkäufer kennt, und zwar „die, auf deren Verkaufsblock abends recht hohe Zahlen stehen“ (S. 159). Weiterhin erklärt er, dass er weiß, dass es auch die Verkäufer mit niedrigen Verkaufszahlen gibt, er will jedoch dafür sorgen, „dass es die hier bald nicht mehr gibt“ (S. 159). Jänecke meint hier die von ihm als niedrig angesehenen Verkaufszahlen Pinnebergs, den er für einen schlechten Verkäufer hält und bald entlassen will.
4. Beschreiben Sie das Verhalten der Angestellten untereinander.
Beim Warenhaus Mandel gibt es eine Reihenfolge, nach der die Verkäufer sich den ankommenden Kundinnen und Kunden zuwenden dürfen. Ob alle von Pinnebergs Kollegen sich an die Verkaufsreihenfolge halten, wird im Textauszug nicht erwähnt, jedoch kann im Grunde davon ausgegangen werden, dass dem so ist und nur sein Kollege Keßler sich in diesem Punkt unkollegial verhält. Keßlers Verhalten ist unsolidarisch. Er achtet nur auf sich selbst und möchte möglichst gute Verkaufszahlen erreichen. Dabei nimmt er keine Rücksicht auf seine Kollegen.
Er stürzt sich einfach auf ihm als kauftüchtig erscheinende Kunden und kann „es auch nicht abwarten“ (S. 150) bis er an der Reihe ist. Trotz, dass Keßler sich auch bei Heilbutt vordrängt, „läuft Kessler doch zu ihm um Hilfe“ (S. 150). Pinneberg möchte sich jedoch „nicht vordrängen“ (S. 149) und Heilbutt „ist viel zu vornehm“ (S. 149) für ein solches Verhalten.
Wenig kollegial ist auch, dass Kessler sich die besten Kunden rauspicken möchte, wobei er sich vordrängelt. Kunden, die ihm seiner Meinung nach als unzufrieden, mürrisch und nicht vielversprechend erscheinen, überlässt er dann seinen Kollegen, indem er in „den Hintergrund des Lagers zurückweicht“ (S. 150).
Hier kommt trotz aller Kollegialität die Angst des Entlassen-werdens zum Vorschein. Nur ein tüchtiger Verkäufer bleibt auch weiter angestellt. Die Angestellten sind einem gewissen Verkaufsdruck ausgesetzt, um ihre Existenz und ihre Erwerbsquelle absichern zu können. Dadurch wird Keßlers Verhalten zwar verständlich, jedoch nicht sympathisch, denn allen anderen Angestellten geht es genauso wie ihm, und jeder möchte dieselben Chancen auf gute Verkaufszahlen haben.
Aufgabenblock zur Kinoszene in Kleiner Mann – was nun?
5) Erklären Sie, zu welcher Erkenntnis Lämmchen und ihr Mann während des Films kommen.
Dazu die passende Textpassage:
Eine Stunde später -sitzen sie im Kino, in einer Loge. Es wird dunkel, dann: Ein Schlafzimmer, zwei Köpfe auf den Kissen ein rosig atmendes junge Gesicht, ein Mann, etwas älter, er sieht sorgenvoll aus, selbst jetzt im Schlaf.
Dann erscheint das Zifferblatt des Weckers, er ist auf halb sieben gestellt. Der Mann wird unruhig, er dreht sich um, faßt im Halbschlaf nach dem Wecker: fünf Minuten vor halb sieben. Der Mann seufzt auf, er stellt den Wecker zurück auf seinen Platz, schließt wieder die Augen.
»Der schläft auch bis zu letzten Minuten«, sagt Pinneberg mißbilligend.
Nun sieht man am Fußende de · großen Bettes etwas Weißes, ein Kinderbett. Ein Kind liegt darin, sein Kopf liegt auf einem Arm, der Mund ist halb geöffnet.
Der Wecker klingelt, man sieht, wie ein Teufel hämmert der Klöppel gegen die Glocke, wild, rücksichtslos, ein wahrer Teufel. Mit einem Ruck ist der Mann auf, wirft die Beine über die Bettkante. Es sind magere, wadenlose Beine, kümmerlich, schwärzlich behaart.
Die Leute im Kino lachen. »Richtige Kinohelden«, erklärt Jachmann, »dürfen überhaupt keine Haare an den Beinen haben. Dieser Film ist todsicher eine Pleite.«
Vielleicht rettet ihn aber die Frau. Sie ist todsicher fabelhaft hübsch, eben, als der Wecker klingelte, hatte sie sich aufgesetzt, die Decke glitt zurück, das Hemd stand ein wenig offen – es war mit Überschneidungen, gleitender Decke, sich bewegendem Hemd einen Augenblick das Gefühl da, als sähen alle die Brust der Frau. Eine angenehme Atmosphäre, und schon hatte sie sich die Bettdecke ganz fest über die Schultern gezogen und sich wieder eingekuschelt.
»Die ist das Aas«, sagt Jachmann. »Eine, von der man in den ersten fünf Minuten die Brust beinahe zu sehen kriegt. O Gott, wie herrlich einfach das alles ist!«
»Aber eine hübsche Frau!« sagt Pinneberg.
Der Mann ist längst in den Hosen, das Kind sitzt im Bett und ruft: »Pappa, Teddy!« Der Mann gibt dem Kind den Teddy, nun will es Püpping, der Mann ist schon in der Küche, er hat Wasser aufgesetzt, er ist ein ziemlich magerer, spärlicher Mann. Wie er rennt! Püpping für das Kind, Frühstückstisch decken, Butterbrote schmieren, das Wasser ist heiß, Tee aufgießen, rasieren, die Frau liegt im Bett und atmet rosig. Ja, nun ist die Frau aufgestanden, sie ist sehr nett, sie ist gar nicht so, sie holt sich selbst ihr warmes Wasser in das Badezimmer. Der Mann sieht auf die Uhr, spielt mit dem Kind, gießt den Tee in die Tassen, schaut nach, ob die Milch nicht schon die ist vor der Tür. Nein, aber die Zeitung. Nun ist die Frau fertig, schnurstracks geht sie zu ihrem Platz am Frühstückstisch. Jedes nimmt ein Blatt von der Zeitung, die Teetasse, Brot … Das Kind ruft aus dem Schlafzimmer, Püpping ist aus dem Bett gefallen, der Mann läuft und hebt es auf …
»Eigentlich blöde«, sagt Lämmchen unzufrieden.
»Ja, aber ich möchte doch gerne wissen, wie es weitergeht.
So kann es doch nicht weitergehen.«
Jachmann sagt nur ein Wort: »Geld.«
Und siehe da, recht hat er, der alte Kinotiger; wie der Mann zurückkommt, hat die Frau ein Inserat in der Zeitung gefunden; sie möchte gerne was kaufen. Die Auseinandersetzung geht los: Wo ist ihr Wirtschaftsgeld? Wo ist sein Taschengeld? Er zeigt sein Portemonnaie, sie zeigt ihr Portemonnaie. Und der Wandkalender weist den Siebzehnten. Draußen klopft die Milchfrau, sie will Geld haben, der Kalender blättert sich um: Achtzehnter, Neunzehnter, Zwanzigster … bis zum Einunddreißigsten! Der Mann stützt den Kopf in die Hände, die paar Groschen liegen neben den geleerten Geldtaschen, der Wandkalender rauscht …
Oh, wie wird die Frau hübsch, sie wird immer schöner, sie spricht sanft auf ihn ein, nun streicht sie über sein Haar, sie zieht seinen Kopf hoch, si e bietet ihm ihren Mund, wie ihre Augen glänzen!
»So ein Aas! « sagt Pinneberg. »Was soll er bloß tun? «
Ach, der Mann fängt auch an warm zu werden, er nimmt sie in seinen Arm, das Inserat taucht auf und verschwindet, der Wandkalender rauscht seine vierzehn Tage herunter, nebenan spielt das Kind mit dem Teddy, der Püpping im Arm hält, das arme bißchen Geld liegt auf dem Tisch … die Frau sitzt auf dem Schoß des Mannes …
Alles ist fort, und aus einem nachtschwarzen Dunkel hebt, langsam immer heller werdend, sich der strahlende Kassenraum einer Bank. Da steht der Tisch mit dem Drahtgitter, da liegen die Geldpakete, das Gitter ist halb offen, aber kein Mensch ist zu sehen … Ach, diese Pakete mit den vielen Scheinen, die Rollen mit Silber und Messing, ein angebrochene Packen Hundertmarkscheine, fächerförmig auseinandergeglitten …
»Das Geld«, sagt gemütsruhig Jachmann. »Und das sehen die Leute so gerne.«
Hat es Pinneberg gehört? Hat es Lämmchen gehört?
Es ist wieder dunkel … lange dunkel … sehr dunkel … Man hört die Menschen atmen, lange atmen, tief atmen. Lämmchen hört des Jungen, der Junge Lämmchens Atem.
Es ist wieder hell. Ja, Gott, die guten Dinge dieses Lebens bekommt man nun einmal im Kino nicht zu sehen, die Frau ist ganz geordnet, ihr Schlafrock umgibt sie. Der Mann hat seinen Melonenhut auf und küßt das Kind zum Abschied. Da geht der Kleine Mann durch die große Stadt, nun springt er auf einen Autobus, wie die Menschen laufen, wie die Fuhrwerke sich stauen und jagen und wieder weiterfluten. Und die Verkehrsampeln sind rot und grün und gelb, und zehntausend Häuser mit einer Million Fenster, und Menschen und Menschen -und er, der Kleine Mann, hat nichts wie hinten die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, mit einer Frau und einem Kind. Nichts sonst.
Eine törichte Frau vielleicht, die das Geld nicht einteilen kann, aber nur das bißchen hat er … er findet sie ja nicht töricht. Und vor ihm, unentrinnbar, steht der Tisch mit den vier lächerlich hohen Beinen, zu dem muß er, so ist es ihm verordnet in diesem rätselhaften Dasein. Ihm kann er nicht entgehen.
Nein, er tut es natürlich nicht. Ein Augenblick ist da, in dem hängt die Hand des kleinen Kassierers über dem Geld wie ein Sperber in der Luft über dem Kückenhof, alle Krallen sind weit offen. Nein, die Hand schließt sich, es sind keine Krallen, es sind Finger. Er ist ein kleiner Bankkassierer, kein Raubvogel.
Aber seht, dieser kleine Kassierer ist ja befreundet mit dem Volontär auf der Bank, und der Volontär ist natürlich der Sohn eines richtigen Bankdirektors. Und das hat keiner gemerkt, daß dieser Volontär die sperberhaft gespreizte Hand gesehen hat. Aber nun in der Frühstückspause nimmt der Volontär seinen Freund, den kleinen Bankkassierer, beiseite und sagt ihn geradezu: »Du brauchst Geld.« Und wenn der andere sich auch wehrt, alles bestreitet, er kommt heim und hat die Tasche voll Geld. Aber nun, da er es auspackt und auf den Tisch legt und meint, die Frau wird strahlen, seht, da ist der Frau das Geld ganz gleichgültig, es interessiert sie nicht. Was sie interessiert, ist der Mann. Sie zieht ihn zum Sofa, sie zieht ihn in ihre Arme. »Wie hast du es gemacht? Das hast du für mich getan? O du, ich habe das nie von dir geglaubt!«
Und er kommt gar nicht dazu, die wahre Geschichte zu erzählen, ach, er kann es nicht mehr, wie liebt sie ihn plötzlich! Er nickt und schweigt und lächelt vielsagend … sie ist so wild, sie ist so stolz auf ihn …
Welch Menschengesicht, dieser kleine Schauspieler! Dieser große Schauspieler, Pinneberg hat das Gesicht heute morgen liegen sehen, auf dem Kissen des Ehebettes, als der Wecker fünf Minuten vor halb war, ein müdes, faltiges Gesicht, der Mann hatte Sorgen. Und nun hier, vor der Frau, die er liebt, von der er zum erstenmal in seinem Leben bewundert wird … Wie es aufblüht, das Gesicht, wie die Verschlagenheit verschwindet, wie das Glück ‚wächst und groß wird und aufblüht wie eine ungeheure Blume, ganz aus Sonne … O du armes, kleines, demütiges Gesicht, hier ist deine Chance gekommen, nie wirst du sagen können, nie, daß du immer nur klein warst, auch du bist König gewesen! Ja, nun ist er König geworden, ihr König. Er hat Hunger? Die Füße schmerzen ihm vom langen Stehen? Wie sie läuft, wie Sie Ihn bedient, er ist soviel mehr als sie er hat das für sie getan! Nie braucht er wieder das Wasser aufzusetzen, als erster aufzustehen … Er ist der König. Vergessen auf dem Tisch liegt das Geld.
»Siehst du, wie er liegt und lächelt«, flüstert Pinneberg atemlos zu Lämmchen. »Der arme Mensch«, sagt Lämmchen. »Es kann doch nicht gut ausgehen. Ob er jetzt ganz glücklich ist? Ob er gar keine Angst hat? «
»Dieser Franz Schlüter ist ein sehr begabter Schauspieler«, meint Jachmann.
Nein, es kann wirklich nicht gut ausgehen. Auf die Dauer bleibt das Geld nicht unvergessen. Aber es ist nicht beim ersten großen Einkauf, auch nicht beim zweiten, daß es anders wird. Welcher Rausch für die Frau, kaufen zu können, alles, alles! Welche Angst für den Mann, der weiß, woher das Geld kommt. Und dann beim drittenmal, und das Geld geht zur Neige, und sie sieht einen Ring … Ach, das Geld reicht nicht mehr. Eine Menge von Ringen breitet sich glitzernd vor ihr aus, der Verkäufer ist so achtlos, er bedient zwei Parteien – o ihr Gesicht, wie sie ihren Mann anstößt: Nimm!
Sie glaubt ja von ihm, daß er alles für sie tut. Aber er ist nur ein kleiner Bankkassierer; er kann es nicht, er tut es nicht. Wie sie das begreift, wie sie zum Verkäufer sagt: Wir kommen wieder. Und der Mann geht klein und grau neben ihr und sieht sein Leben vor sich, ein langes, endloses Leben, neben dieser Frau, die er liebt, und die dies von ihm erwartet … Und sie schweigt, sie muckscht, sie tückscht- und plötzlich schlägt sie um, und sie sitzen von ihrem letzten Geld in einem Lokal, und der Wein ist da, und sie flammt und sie glüht. »Morgen wirst du es wieder tun.«
Das kleine, graue, arme Gesicht. Und die strahlende Frau. Eben noch wollte er die Wahrheit sagen, und nun bewegt er den Kopf, gemessen, ernst, von oben nach unten: bejahend. Wie soll es weitergehen? Der Volontär kann nicht in alle Ewigkeit weiter pumpen, schenken heißt das, er sagt nein. Und der kleine Kassierer erzählt dem Freund, warum er Geld haben muß, was seine Frau von ihm glaubt. Der Volontär lacht und gibt ibrn Geld und sagt: »Deine Frau muß jch aber kennenlernen!«
Und dann lernt der Volontär die Frau kennen, und dann kommt es, wie es kommen muß, er verliebt sich in sie, und sie hat nur Augen für ihren Mann, diesen mutigen, rücksichtslosen Mann, der alles für sie tut. Und die Eifersucht kommt, und am Tisch des Kabaretts, in dem sie sitzen, erzählt der Volontär ihr die Wahrheit.
Ach, wie der Kleine Mann aus der Toilette zurückkommt, und die beiden sitzen an ihrem Tisch, und sie lacht ihm entgegen, lacht ihm frech und verächtlich entgegen. Und in diesem Lachen versteht er alles: den verräterischen Freund und die treulose Frau. Und sein Gesicht verändert sich, seine Augen werden groß, zwei Tränen stehen darin, seine Lippen zittern.
Die lachen.
So steht er und sieht sie an. Er sieht sie an.
Ja, vielleicht wäre dies der Moment, wo er wirklich alles tun könnte, da ihm alles zerschlagen ist. Aber dann dreht er sich um, auf dünnen Beinehen mit krummem Rücken stelzt er zur Tür.
»Oh Lämmchen«, sagt Pinneberg und hält sie fest. »Oh, Lämmchen«, flüstert er. »Man kann Angst haben. Und wir sind so allein.«
Und Lämmchen nickt ihm langsam zu und sagt leise: »Wir sind ja zusammen, wir beide.«
Und dann ganz rasch und tröstend: »Und er hat ja seinen Jungen. Den nimmt die Frau sicher mit!«
Aus: Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Berlin 2013, S. 308-314.
5) Antwort: Erklären Sie, zu welcher Erkenntnis Lämmchen und ihr Mann während des Films kommen.
Besonders Pinneberg identifiziert sich mit dem kleinen Mann im Film, der genauso wie er eine Frau und ein Kind hat und am Rand des Existenzminimums lebt. Er und Lämmchen erkennen plötzlich durch die Handlung im Film ihre eigene wirtschaftliche Situation. Besonders bei Pinnberg löst dann das Ende des Films aufgrund seiner Identifizierung mit der Hauptfigur große Ängste aus, da ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Lage klar wird und er die Katastrophe, wie sie im Film dargestellt wird, über ihn hereinbrechen sieht.
Lämmchen dagegen ist nicht so paralysiert. Sie hat noch Mut und kann Pinneberg am Ende tröstende Worte zuflüstern. Auch wenn Lämmchen die wirtschaftliche Situation im Film sehr wohl mit der einigen vergleichen kann, achtet sie bei der Handlung auf die emotionalen Aspekte. So fragt sie sich, ob der Mann im Film wirklich glücklich ist und ob er keine Angst hat. Doch Lämmchen weiß schon, dass es nicht gut ausgehen kann und hat Mitleid mit dem armen Menschen. Wo Pinneberg verzweifelt und verstört ist, weiß Lämmchen Rat. „Wir sind ja zusammen, wir beide“ sagt sie und kann Pinneberg zumindest die Angst vor dem Alleinsein und dem Ende ihrer Beziehung nehmen. Doch Lämmchen weiß auch, dass die wirtschaftliche Katastrophe im Sinne von Pinnebergs Arbeitslosigkeit kommen kann. Da Lämmchen jedoch moralische Werte besitzt und ihr Liebe und Freundschaft wichtiger sind als Geld, weiß sie, das Pinneberg und sie zusammen die Höhen und Tiefen des Lebens gemeinsam überstehen können.
6) „Dennoch soll nicht bestritten werden dass es in den meisten Gegenwartsfilm sehr unwahrscheinlich hergeht. (…) Darum hören sie nicht auf, die Gesellschaft zu spiegeln.“ Das schreibt Siegfried Kracauer in Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, als ein scharfsichtiger Analytiker der Weimarer Republik, über die Filme der Zeit. Überlege, ob diese Aussagen auch auf den im Textauszug geschilderten Film zutrifft.
Im Film mag es zwar unwahrscheinlich hergehen, trotzdem spiegelt er, wie Kracauer schreibt, die Gesellschaft wider. Geld schlägt Gefühl. Denn Geld ist Trumpf. Und wer Geld hat, der hat es gut. Dies ist auch die Botschaft im Film, in dem schnell klar wird, dass die Frau es auf das Geld und ein angenehmes Leben abgesehen hat. Ihre Familie ist ihr weniger wichtig. Die unwahrscheinliche Art und Weise auf die der Mann an Geld kommt und seiner Frau plötzlich alles bieten kann, was sie begehrt, ist nicht so unwahrscheinlich, wie sie im Film dargestellt. Sie spiegelt den Wunsch der damaligen Bevölkerung schnell an Geld zu gelangen. Mit Sicherheit gab es auch entsprechende Aktionen, die geheim gehalten wurden und unter der Hand abliefen und dem ein oder anderen die Taschen gefüllt haben. Die Zuschauer können sich also mit dem Wunsch des kleinen Mannes zum einen nach Reichtum und Geld identifizieren, zum anderen auch nach Anerkennung und auch Bewunderung durch die Familie und Mitmenschen. Der Film ist also nicht zu sehr abgehoben, sondern eher realistisch und stellt einige Verhaltensweisen der Bevölkerung überspitzt dar. Besonders das fehlende Ende macht ihn sehr realitätsnah. Dies wirkt wie aus dem Leben gegriffen. Das Leben besteht eben nicht nur aus Happy Ends, da das Leben letztendlich nicht endet.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auf das zufällige Treffen, das Pinneberg gegen Ende des Romans mit Schlüter, dem Schauspieler aus dem Film hat. Bei diesem Treffen erkennt er, dass es nicht um den Inhalt geht, sondern um die Darstellung – eine Lektion, die auf vielen Ebenen für Pinneberg persönlich und auch ganz allgemein im Roman und darüber hinaus wichtig ist.
Aufgabenblock zum Thema Arbeitslosigkeit in Kleiner Mann – was nun?
7) Vergleichen Sie die im Text und im Roman dargestellte Arbeitslosigkeit mit der heutigen Situation in der Arbeitswelt: Recherchieren Sie im Internet.
Arbeitslosigkeit spielte zur damaligen Zeit eine Rolle und heute ebenfalls. Während zu Zeiten der Weimarer Republik hauptsächlich Arbeiter und Angestellte zwischen 18 und 30 Jahren betroffen waren, ist heute eine höhere Arbeitslosigkeit bei Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau zu finden als bei höher gebildeten. Auch sind die meisten Arbeitslosen zwischen 45 und 60 Jahren, wobei sich hier der Altersdurchschnitt der Arbeitslosen im Vergleich zu damals verschoben hat.
Doch Arbeitslosigkeit ist damals wie heute ein gesellschaftliches Problem, dass weitere Probleme wie etwa soziale, wirtschaftliche und psychische nach sich zieht. Wie im Roman und in Peukerts Sachtext geschildert, entstehen durch Arbeitslosigkeit individuelle Folgen, wie Depressionen und Selbstabwertung, gesundheitliche Probleme, Entwertung der bisher erlangten Qualifizierung, soziale Isolation, familiäre Konflikte und trotz der staatlichen Absicherung Verarmung.
Die Probleme des einzelnen Arbeitslosen übertragen sich auch auf seine Familie und Angehörige. Dies bedeutet, dass nicht mehr nur der einzelne Arbeitslose selbst von seiner Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen sozialen Folgen betroffen ist, sondern auch sein Umfeld, welches dann ebenfalls den Druck und eine Beeinträchtigung der bisherigen Lebensqualität zu spüren bekommt, selbst wenn es erwerbstätig ist. Das soziale Ansehen leidet, Schuldgefühle sind die Folge und dies endet in Depressionen oder anderen Krankheiten, die sich auch in körperlichen Beschwerden offenbaren können.
Die Anzahl der Suchtkranken ist unter den Arbeitslosen höher als bei den Erwerbstätigen. Drogen oder Alkohol sind willkommene Mittel um dem deprimierenden Alltag für eine Weile zu entfliehen. Viele Langzeitarbeitslose leben trotz der Grundsicherung durch den Staat an der Armutsgrenze.
Auch wenn sich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in den letzten Jahrzehnten geändert hat, so sind die Folgen und Auswirkungen, die Arbeitslosigkeit auf die Bevölkerung hat dieselben geblieben. Die Angst des Einzelnen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und ausgetauscht zu werden, ist heute noch genauso vorhanden wie damals. Durch die vielen Zeitarbeitsfirmen ist der austauschbare und ersetzbare Mensch neu definiert worden. Die Angst den Arbeitsplatz aufgrund persönlicher Defizite zu verlieren ist in der heutigen Gesellschaft durchaus gegeben.
Die Schlussfolgerung lautet demnach, dass sich die Probleme des Romans Kleiner Mann – was nun? und Peukerts Sachtext durchaus mit wenigen Veränderungen in die heutige Zeit übertragen lassen und das Problem der Arbeitslosigkeit mit seinen daraus ergebenden Problemen durchaus noch aktuell und akut ist.
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