Zuletzt bearbeitet am 31. Oktober 2025
Anlässlich der großen Hammershøi-Retrospektive in der Royal Academy London im Jahr 2008 verfasste die irische Dichterin Joan McBreens das Gedicht Vilhelm Hammershøi: The Poetry of Silence. Es erschien 2011 und ist weit mehr als eine ekphrastische Beschreibung von Hammershøis Malerei. McBreen erschafft ein literarisches Interieur, das die Essenz des dänischen Künstlers beschreibt und mit Worten ummalt. Die Londoner Veranstaltung rückte den bis dahin weitgehend vergessenen Maler wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.
McBreens Gedicht transformiert in poetische Form gegossen die visuelle Stille von Hammershøis Gemälden. Sichtbar wird sein Malstil an der reduzierten Sprache, den gestischen Zeilenbrüchen und bedeutungsvollen Leerstellen. The Poetry of Silence wird selbst zu einem Hammershøi-Raum: durchlässig, andeutend, von Leere strukturiert – doch nicht leer. McBreens Gedicht ist zugleich Kunstbetrachtung und Existenzreflexion, ein Text über die Erfahrung von Kunst und die Kunst der Erfahrung. Und er lässt sich auch in den Kontext der Klimakrise übertragen.
Bezug zu Kristine Bilkaus Halbinsel
Den Roman Halbinsel habe ich in einem separaten Beitrag analysiert. Dort erkenne ich die Hammershøi-Ästhetik als poetologisches Prinzip, mit dem die Klimakrise nicht als spektakuläre Katastrophe, sondern als stille, heimsuchende Präsenz narrativ inszeniert wird. McBreens The Poetry of Silence lieferte mir aufgrund der Erwähnung der Hammershøi-Atmosphäre durch die Protagonstin die lyrische Blaupause: Die „empty interiors“ werden zu den leeren Versprechen des Emissionshandels, die „haunted rooms“ zu Räumen der Vergangenheit, die Schatten werfen auf von Katastrophen geprägten zukünftigen Räumen, die „doors leading into another“ sind als die endlos hoffnungsmachenden Verschiebungen der Klimapolitik zu erkennen.
Wenn die Protagonistin Annett in Halbinsel das Hotel betritt, in dem ihre Tochter Linn bei einem Vortrag ohnmächtig wurde, und die Stimmung von Hammershøis Gemälden, „das stille Warten“ erkennt, dann aktiviert Bilkau narrativ genau jene Atmosphäre, die McBreen dichterisch verdichtet hat: die Präsenz des Abwesenden, die Doppelbödigkeit scheinbar geordneter Oberflächen, das Unbehagen inmitten ästhetischer Kontrolle.
Ich möchte das Gedicht zeilenweise analysieren und nachträglich mit Kristine Bilkaus Roman und der Klimakrise in Beziehung setzen.
Joan McBreens Gedicht The Poetry of Silence
The Poetry of Silence
The empty interiors
disturbed only by a solitary figure,
the painter’s wife.
We gaze at her back, graceful,
wearing white and grey,
her long, white neck exposed, hair upswept.
One door in the house leads into another.
In painting after painting, the rooms
are haunted.
Nothing and everything to be said—
we brought the noise of the city
streets in with us
and left with the painter’s poetry
f silence. We bought white flowers
then, against the heartbreak of survival.[1]
Das Gedicht auf Deutsch
Die leeren Innenräume,
gestört nur von einer einsamen Gestalt,
der Frau des Malers.
Wir blicken auf ihren Rücken, anmutig,
in Weiß und Grau gekleidet,
ihr langer, weißer Nacken entblößt, das Haar hochgesteckt.
Eine Tür im Haus führt in eine andere.
In Bild um Bild sind die Räume
wie heimgesucht.
Nichts und alles ist zu sagen—
wir brachten den Lärm der Stadtstraßen
mit hinein
und gingen fort mit der Poesie
der Stille des Malers. Wir kauften weiße Blumen
dann, gegen den Herzschmerz des Überlebens.
Zeilenweise Analyse von The Poetry of Silence
Strophe 1: Die Präsenz der Einsamkeit
The empty interiors / disturbed only by a solitary figure, / the painter’s wife.
Die ersten Zeilen von The Poetry of Silence verweisen auf eine paradoxe Spannung: Die leeren Räume werden zwar als leer bezeichnet, doch durch eine einzelne Figur „gestört“. Das Wort „disturbed“ suggeriert sondern eine Irritation, eine Unterbrechung, eine Störung der Leere und des Blicks und deutet nicht auf die Belebung oder die Füllung des erwähnten Raums hin. Die Gestalt im Interieur hebt die Stille insofern nicht auf – sie verdeutlicht sie.
Die Figur wird in McBreens Gedicht als „the painter’s wife“ identifiziert –Ida Hammershøi erscheint in über sechzig Gemälden ihres Mannes. Sie ist konkret als Ehefrau erkennbar und anonym, da die Frauenfiguren in den Gemälden meist keine individuellen Züge haben, da sie vom Betrachter abgewandt stehen. Diese sich in vielen Bildern wiederholende Präsenz wird zum Motiv: Ida ist die Konstante in Hammershøis variierenden Interieurs und somit die einzige menschliche Spur in den vermeintlich leeren Räumen. Sie ist gleichzeitig eine Person und dient auch als Projektionsfläche nicht nur für die Einsamkeit selbst, sondern auch die Betrachtungen der auf sie blickenden Betrachter.
Auf der anderen Seite könnte man diese Konstante in Anbetracht der ersten Strophe von The Poetry of Silence auch anders interpretieren, und zwar als etwas Beständiges, etwas Dauerhaftes, etwas Tröstliches inmitten einer tonlosen Leere.
Im Kontext der Klimakrise in Bilkaus Halbinsel
Linn „stört“ mit ihrem Vortrag und Engagement für die Umwelt die scheinbar glatte Oberfläche der Nachhaltigkeitsdiskurse, wobei die „empty interiors“ als Räume im übertragenen Sinne die Halbwahrheiten des Emissionshandels als Diskurse bezeichnen: Zertifikate, Wirtschaftsfaktoren, Gewinnmaximierung. Sie wollte die Leere hinter diesen Nachhaltigkeitsstrategien wie etwa Aufforstungsprojekte sichtbar machen. Die Figur der Linn hat in Halbinsel eine ähnliche Funktion inne wie Ida bei Hammershøi: sie ist die einsame Figur im leeren Raum der Klimapolitik. In gleichem Maße stört Linn mit ihrem Aktivismus auch den Raum der hoffnungsfrohen Zukunft von einer Welt, die „gerettet“ werden kann. Doch lässt sich hier auch die Fragen anbringen, inwiefern dieser Vergleich nicht funktioniert und ab wann es zur Erstarrung, zum Stillstand kommt. Denn Linn kündigt und sucht sich einen Job in der Bäckerei – abseits des von ihr lange und intensiv verfolgten Nachhaltigkeitsmanagements.
Strophe 2: Die Rückenansicht als Verweigerung
We gaze at her back, graceful, / wearing white and grey, / her long, white neck exposed, hair upswept.
Charakteristisch für Hammershøis Interieurs ist die Rückenansicht der sich im Raum befindlichen Figur. Mit ihrer Abgewandtheit verweigert sie den Blickkontakt und schafft eine eigentümliche Beziehung zum Betrachter. Wir sehen sie, aber sie sieht uns nicht. Wir werden zu stillen Beobachtern, fast zu Eindringlingen in einen intimen Moment, aus dem wir zugleich ausgeschlossen bleiben. Denn wir wissen nicht, wohin genau die Frau schaut oder inwiefern ihre Mimik ihre Gefühlslage widerspiegelt. Sie gibt sich einerseits durch ihre Anwesenheit preis, entzieht sich aber im selben Moment. Der entblößte Nacken mit dem hochgesteckten Haar sowie die weiße Haut – diese Aspekte zeigen etwas Verletzliches, beinahe Erotisches. Trotzdem bleibt die Distanz gewahrt: Es ist eine Nähe ohne Berührung, eine Intimität ohne Zugang.
Die farbliche Atmosphäre aus Weiß und Grau ist bezeichnend für Hammershøis Zurückhaltung. Er reduziert Farbe auf tonale Abstufungen, beschreibt Nuancen statt Kontraste. Seine Welt ist nicht bunt, sondern verschwimmend und ineinanderfließend differenziert aus einer weichen Palette der Abwesenheit.
Im Kontext der Klimakrise in Bilkaus Halbinsel
Das Buchcover von Halbinsel zeigt ebenfalls eine abgewandte Frau. Sie hat ihre Hände hinter dem Rücken an den Handgelenken überkreuzt, als wären sie festgebunden. „Mir sind die Hände gebunden“ ist eine Redewendung, die mir dazu einfällt und die ich passend finde im Kontext des Romans. Dargestellt wird also bereits auf dem Cover eine Geste zwischen Kontrolle und Gebundenheit. Kontrolle, da sie sich vermeintlich bewusst abgewendet hat; Gebundenheit, weil ihr wie durch ein unsichtbares Band die Hände momentan unbrauchbar geworden sind.
Sie symbolisiert den modernen Menschen zwischen Handlungsdrang und Erstarrung angesichts der Klimakrise. Die Rückenansicht auf dem Titel von Halbinsel wird zur Metapher der Verweigerung, die auf uns als Lesende übergeht: Wir wenden uns ab von der Wahrheit, die vor uns liegt – wir verdrängen unsere Verantwortung an der Klimakrise. Damit verweist bereits das Titelbild auf die Doppelbödigkeit des Inhalts und der Poetologie des Romans.
1901. Canvas, 66 by 55 cm. (Städel Museum, Frankfurt
am Main).
Strophe 3: Endlose Türfluchten mit Räumen nach Räumen
One door in the house leads into another. / In painting after painting, the rooms / are haunted.
Eines von Hammershøis zentralen Kompositionselementen sind Raumflucht offener Türen, die sogenannte Enfilade, wie man sie aus Kirchengängen oder Schlössern kennen mag. Man blickt in einer Linie durch viele offene Türen hindurch, von denen einzelne Räume und Gänge abgehen, die jedoch nicht aus diesem Blickwinkel eingesehen werden können. So ergibt sich eine Tiefe ohne erkennbares Ziel, ein Durchgang ohne konkretes Ankommen. Diese Struktur erzeugt eine perspektivische Orientierungslosigkeit oder Sogwirkung. Bei Hammershøi schauen wir allerdings nicht in prunkvolle Säle, sondern in gedämpfte, menschenleere Kammern – einem Labyrinth der Stille.
Das Wort „haunted“ (heimgesucht, gespenstisch) trifft im Gedicht The Poetry of Silence den Kern von Hammershøis Atmosphäre: Seine Interieurs sind nicht einfach leer, sie sind von Abwesenheit bewohnt. Man spürt eine Präsenz von dem, was nicht da ist. Die Worte „painting after painting“ verweisen auf Hammershøis Malgewohnheiten: Er malte dieselben Räume seiner Wohnung in der Strandgade 30 in Kopenhagen über Jahrzehnte hinweg, in unzähligen Variationen. Man kann nur raten, ob er durch bloße Wiederholung versuchen wollte, ein unsichtbares Geheimnis zu bannen oder sichtbar zu machen – das Wesen des Raums selbst, jenseits seiner Möblierung vielleicht – oder möglicherweise auch etwas im Zusammenhang mit seiner Frau Ida.
Im Kontext der Klimapolitik in Halbinsel
In Bezug auf den Emissionshandel ist die erwähnte Enfilade als eine Kette endloser Verschiebungen erkennbar: Die Zertifikate stehen zeitlich für die vermeintlich hoffnungsvolle Zukunft, die Kompensation in anderen Ländern ist räumlich bedingt und moralisch werden quasi Verschmutzungsrechte auf vermeintlich legale Weise erworben. Diese „Türen“ voller Versprechungen führen nie zu einem Ende der Klimakrise, sondern nur zu weiteren Türen, die endlos aufeinander folgen. Die von ihnen abgehenden Räume bleiben jedoch leer, während wir mit den Nachhaltigkeitsstrategien nur von Schwelle zu Schwelle gehen.
Die Klimakrise „heimsucht“ unsere Gegenwart mit zukünftigen Katastrophen, die wir bereits kennen und die uns bereits vor Jahrzehnten bekannt waren. Wir werden heimgesucht von dem, was wir wussten und seit Langem wirkt in der Welt, sich jedoch noch nicht vollständig manifestiert hat, sich aber doch irgendwann in seinem ganzen Ausmaß zeigen wird – die gespenstische Präsenz in Hammershøis Interieurs.
Im übertragenen Sinne sind die Türenfolgen als endlose Schwellen zu verstehen, die Versprechungen machen, jedoch kein konkretes Ziel, das wirklich nachhaltig wäre, verfolgen. Sie repräsentieren einen Durchgang ohne Ankunft. Die Türen rahmen leere Räume und erzeugen eine Mise-en-abyme-Struktur, die an barocke Perspektivspiele erinnert, aber ins Metaphysische gewendet wird.
Strophe 4: Das Paradox der Stille
Nothing and everything to be said— / we brought the noise of the city / streets in with us
Dieser Satz erfasst aufgrund seiner Widersprüchlichkeit sehr gut die Doppelbödigkeit von Hammershøis Kunst. Der Gedankenstrich inszeniert das Schweigen im Text selbst, eine bedeutungsvolle Pause, die mehr sagt als Worte es je könnten. Wie erwähnt ist es die menschliche Figur im Raum, die die Leere stört und die sichtbare Abwesenheit mit ihrer Anwesenheit kontrastiert. Wird auch nichts gesagt, so wird eben gerade durch die Figur, ihre Abgewandheit vom Betrachter, ihre Haltung und Anwesenheit in Kombination mit dem Interieur und den in sich verfließenden gedeckten Farbnuancen viel Ungesagtes eben doch ausgedrückt.
Der vermeintliche Widerspruch zwischen dem „noise of the city streets“ und der Stille der Interieurs erschafft gleichfalls eine bewusste Gegenwelt. Hammershøi malte um 1900, einer Zeit, in der die Industrialisierung und Modernisierung Kopenhagens immer schneller ablief – sicher konnte man dies mit Sinnen wahrnehmen und riechen, hören, schmecken sowie fühlen. Seine Räume können insofern als Refugien und Rückzugsorte bezeichnet werden. Sie sind modern in ihrer radikalen Reduktion sowie antimodern in ihrer Verweigerung von Fortschritt und Lärm. Man könnte auch sagen: Hammershøi schafft mit seinen Interieurs eine Gegenwelt zur beschleunigten Außenwelt.
Im Kontext der Klimakrise in Bilkaus Halbinsel
Im Kontext des Emissionshandels entfaltet diese Zeile von The Poetry of Silence eine weitere Ebene: Der „Lärm“ des Kapitalismus dringt in die Ökologie ein. Der Vergleich von Hammershøis Werken als modernisierte Außenwelt und ruhigem Refugium wird übertragen auf die Welt der Ökonomie und die Welt der Ökologie. Vergleicht man die immer schneller werdende Industrialisierung um 1900 mit dem Emissionshandel, dann könnte man auch sagen, dass durch ihn das unsichtbare und geruchslose CO₂ sichtbar gemacht und transformiert wird in handelbare Zertifikate, in Zahlen, in Börsentransaktionen. Wir handeln mit etwas, das wir nicht sehen, riechen oder fühlen können – ähnlich wie Hammershøis Räume von einer spürbaren Abwesenheit bewohnt sind, die sich nur indirekt manifestiert.
Wir erleben die Auswirkungen der Krise langsam und oft erst rückblickend – ihre Ausmaße werden sichtbar, wenn wir älter werden, Vergleiche anstellen, die Jahrzehnte überblicken. Sie ist da, stets um uns, unterschwellig und bedrohlich, doch nicht direkt spürbar. Und im direkten Vergleich könnte man auch sagen, dass Hammershøis Räume uns heute als Reflexionsräume über die Folgen jener Industrialisierung dienen können.
Diese Doppelbödigkeit wird in der Kunst und im Gedicht dargestellt. Sie liegt im Widerspruch selbst: Der Emissionshandel soll die Umwelt schützen, ist aber zugleich Teil jener kapitalistischen Logik, die sie bedroht.
Strophe 5: Schönheit als Widerstand
and left with the painter’s poetry / of silence. We bought white flowers / then, against the heartbreak of survival.
Der Titel des Gedichts The Poetry of Silence wird hier direkt mit der Poesie des Malers verbunden und auch als transformatives Ereignis beschrieben. Wir nehmen etwas mit aus der Begegnung mit Hammershøis Kunst: eine veränderte Wahrnehmung, eine neue Sensibilität für das Unsichtbare, für Zwischentöne und Stille. Wir „erwerben“ etwas Schönes – das sind die weißen Blumen, wobei das Weiß meiner Ansicht nach Unschuld und Reinheit signalisiert.
Die weißen Blumen verbinden sich unmittelbar mit Hammershøis Farbpalette und tauchen in mehreren seiner Gemälde auf.
Die Formulierung „against the heartbreak of survival“ ist existenzialistisch aufgeladen: Schönheit wird zum Widerstand gegen die Zumutung des Daseins selbst. Nicht „gegen den Tod“, sondern gegen das Überleben und die alltägliche Mühsal, die Leere, die Brüchigkeit der Existenz. Die weißen Blumen werden zur symbolischen Handlung und einem Versuch, Hammershøis ästhetische Reduktion ins eigene Leben zu übersetzen. Lässt sich mit der Betrachtung von Kunst die eigene Wirklichkeit erträglicher zu machen?
Die Geste des Kaufens nach dem Museumsbesuch zeigt die Nachwirkung dessen, was Kunst in uns bewirken kann. Doch zugleich schwingt Resignation mit. Die Blumen sind zwar schön, aber letztlich hilflos. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie ändern nichts an den Grundbedingungen menschlicher Existenz. Die Blumen – die Betrachtung von Kunst sind Trost, nicht Lösung. Dieser Pessimismus unterscheidet McBreen von optimistischeren Positionen zur Wirkung von Kunst: Während etwa Thomas Schlesser in Monas Augen Kunstbetrachtung als transformative, lebensstiftende Erfahrung beschreibt, bleibt McBreen skeptisch. Hammershøis Stille tröstet, aber sie verändert die Welt nicht. Die weißen Blumen sind real – aber sie reichen nicht.
Im Kontext der Klimakrise in Bilkaus Halbinsel
Im übertragenen Sinne kann die Geste der weißen Blumen mit dem Emissionshandel verglichen werden. Es handelt sich um eine ästhetische, symbolische Handlung, die uns tröstet und einige sicherlich wirtschaftlich absichert, aber die strukturelle Katastrophe nicht aufhält. Wir „kaufen“ uns Entlastung (wie Blumen nach dem Museumsbesuch), statt strukturell zu handeln. Diese Geste ist schön und hilflos zugleich – wie der Emissionshandel, wie das Hotel in Halbinsel, das mit Nachhaltigkeit wirbt, während es das Bild aus Halbinsel Thinning Forest (Schwindender Wald) restauriert, statt echte Wälder zu schützen.
Und immer wieder wird indirekt auf die Doppelbödigkeit des „survival“ verwiesen: Wer überlebt? Der globale Norden kauft sich Zeit, während der globale Süden bereits leidet. In diesem Licht – dem Licht des Neokolonialismus – erscheint Emissionspolitik möglicherweise primär als Entlastung von historischer Schuld – eine symbolische Geste, die uns beruhigt, ohne die kolonialen Machtstrukturen anzutasten, die der Krise zugrunde liegen.
Die gefährliche Ästhetik der Stille
Joan McBreens Gedicht The Poetry of Silence ist selbst ein Hammershøi-Interieur in sprachliche Form gegossen: reduziert, gestisch, von Pausen strukturiert, die Stille inszenierend. Es vollzieht nach, was es beschreibt – eine Poesie der Stille, die durch ihre Form zur Erfahrung wird.
Die Analyse im Kontext von Kristine Bilkaus Halbinsel und der Klimakrise offenbart eine beunruhigende Parallele: Hammershøis gemäldeimmanente „Poesie der Stille“ und die Klimakrise bzw. darin eingebettet der Emissionshandel teilen eine Ästhetik der geordneten Glätte, die eine produktive von einer gefährlichen Leere unterscheiden lässt.
Bei Hammershøi ist die Stille ist beredt und fordert uns auf, etwas Tieferes, etwas Dahinterliegendes zu erkennen. Die anwesende Leere öffnet Reflexionsräume für existenzielle Fragen zu den Themen Einsamkeit, Zeit und Vergänglichkeit. Denkt man zurück in die Schaffenszeit des dänischen Malers um 1900 sollte man auch die Industrialisierung und Modernisierung des Alltags einbeziehen sowie die aus ihnen hervorgehenden Konsequenzen, die in der Klimakrise nun brutale Auswirkungen zeigen. Die abgewandten Figuren in den Interieurs und endlosen Türenfolgen laden zur Rückbesinnung auf zur Frage nach dem Wesentlichen ein.
Bezüglich der Klimakrise und des Emissionshandels soll uns eine ähnliche Ästhetik abstrakter wirtschaftlicher Ordnungen beruhigen: Es wird gehandelt. Es geht immer noch vorwärts, weiter und höher hinaus. Doch diese aktive und glatte Oberfläche verdeckt strukturelle Untätigkeit. Die abstrakten Türen, die Aktivismus und ein Fortschreiten hoffnungsvoll propagieren führen nur zu weiteren Türen ohne Ziel. Die Räume bleiben leer, während draußen die Katastrophe voranschreitet. Die Stille wird zur Verdrängung.
Fazit: Letzte Überlegungen zu McBreens The Poetry of Silence
McBreens Gedicht The Poetry of Silence endet mit einer ambivalenten Geste: „Wir kauften weiße Blumen / gegen den Herzschmerz des Überlebens.“ Diese Formulierung enthält den Kern des Problems, weil die weißen Blumen bzw. der Handel mit Emissionen zwar tröstend, symbolisch und „nett“ sind, aber wirkungslos gegen die Grundbedingung des Daseins. Der Emissionshandel entlastet uns, ohne strukturell etwas zu verändern. Wir „kaufen“ uns Beruhigung, wie Blumen nach dem Museumsbesuch. Wir kaufen uns ein gutes Gewissen. Insofern kann man sich folgende Fragen im Rahmen der Doppelbödigkeit des „survival“ stellen: Wer überlebt eigentlich? Der globale Norden kauft sich Zeit und Zertifikate, während der globale Süden bereits leidet. Inwiefern wird Emissionspolitik zur Entlastung von historischer Schuld, statt zur Transformation.
Hammershøis Kunst zeigt, dass Stille produktiv sein kann – ein Raum für Reflexion, für existenzielle Tiefe. Doch dieselbe Ästhetik der Stille – reduziert, geordnet, scheinbar kontrolliert – lässt sich missbrauchen, um Handlungsunfähigkeit zu kaschieren. McBreens Gedicht führt uns an diese Schwelle:
„Nothing and everything to be said“ – in der Stille kann alles gesagt werden, aber sie kann auch alles verschweigen.
Die Frage ist nicht, ob wir Stille zur Relexion brauchen – denn dass dem so ist, wissen wir. Die Frage ist, welche Stille wir zulassen: die produktive Leere der Kontemplation, die uns zur Wahrheit zwingt oder die gefährliche Leere der Verdrängung, die uns mit ästhetischer Ordnung beruhigt, während die Katastrophe voranschreitet. Ich denke, das gilt gleichermaßen für die Kunst Hammershøi wie auch für Joan McBreens Gedicht The Poetry of Silence, die die alles sprachlich formt und es gilt auch für die poetologische Struktur in Kristine Bilkaus Halbinsel und Diskursen um die Klimakrise.
Die weißen Blumen sind real. Die Schönheit ist real. Aber sie dürfen nicht das Letzte sein, was wir tun.
Quelle
McBreen, Joan: Vilhelm Hammershøi: The Poetry of Silence. In: New Hibernia Review / Iris Éireannach Nua Vol. 15/No. 4 (2011), S. 55. Online unter: https://www.jstor.org/stable/23068268 (zuletzt aufgerufen am 25.10.2025).
Bilkau, Kristine: Halbinsel. 4. Auflage. München 2025.
Umschlaggestaltung: buxdesign | München
Umschlagmotiv: © Karoline Kroiß
Weiterführende Literatur
Elias, Julius: „Vilhelm Hammershøi.“ In: Kunst und Künstler, Bd. 14, 1916, S. 403–408.
Baskanov, Katharina: Wahrnehmung von Stille in den Zimmern von Vilhelm Hammershøi. 2024.
Champion, Jean-Loup; Claustrat, Frank: Hammershøi: Painter of Northern Light. Paris: Éditions Hazan, 2019.
Fonsmark, Anne-Birgitte: Vilhelm Hammershøi, 1864–1916: Danish Painter of Solitude and Light. Kopenhagen: Ordrupgaard, 1997/1998.
Hammershøi, Vilhelm: At Home with Hammershøi. Kopenhagen: Black Cat Press, 2016.
Hammershøi, Vilhelm: Vilhelm Hammershøi. Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, 2003.
Hammershøi: [anlässlich der Ausstellung „Vilhelm Hammershøi. The Poetry of Silence“, Royal Academy of Arts, London, 28. Juni bis 7. September 2008; Nationalmuseum für Westliche Kunst, Tokio, 30. September bis 7. Dezember 2008]. London: Royal Academy of Arts, 2008.
Hemkendreis, Anne: Die monochromen Interieurbilder Vilhelm Hammershøis: verweigerte Einblicke – ausgestellte Innenwelten. München: GRIN, 2016.
Howoldt, Jens E.: Dänemarks Aufbruch in die Moderne: Die Sammlung Hirschsprung von Eckersberg bis Hammershøi. Kiel: Wachholtz Verlag, 2013.
Krämer, Felix; Illies, Florian: Vilhelm Hammershøi: Silence. München: Prestel, 2024.
Krämer, Felix: Hammershøi: Poetry of Silence. München: Prestel, 2008.
Krämer, Felix: Vilhelm Hammershøi. Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, 2003.
Krämer, Felix: Vilhelm Hammershøi, Strandgade 30. Interieurs. München: Prestel, 2000.
Lajer-Burcharth, Ewa: Interiors and Interiority. New York: Bard Graduate Center, 2016.
Meyer-Abich, Susanne: Vilhelm Hammershøi: Das malerische Werk. Hamburg: Christians Verlag, 1995.
Monrad, Kasper: Hammershøi und Europa: Ein dänischer Künstler um 1900. Köln: DuMont, 2012 (Neuauflage 2014).
Monrad, Kasper: Vilhelm Hammershøi. Kopenhagen: Gyldendal, 1999.
Palin, Michael: Vilhelm Hammershøi: The Poetry of Silence. London: Royal Academy of Arts, 2008.
Spira, Freyda: Beyond the Light: Identity and Place in Nineteenth-Century Danish Art. New York: Metropolitan Museum of Art, 2023.
[1] McBreen, Joan: Vilhelm Hammershøi: The Poetry of Silence. In: New Hibernia Review / Iris Éireannach Nua Vol. 15/No. 4 (2011), S. 55. Online unter: https://www.jstor.org/stable/23068268 (zuletzt aufgerufen am 25.10.2025).
- Joan McBreens The Poetry of Silence Vilhelm Hammershøi -Kunst über Kunst – 31. Oktober 2025
- Kristine Bilkaus Halbinsel: Hammershøis Ästhetik der Klimakrise – 28. Oktober 2025
- Intertextuelle und intermediale Strategien zur sozialen Normierung in Literatur und Recht (14.–16. Jahrhundert) – 19. Oktober 2025
Bildquellen
- Halbinsel_600x800: Bilkau, Kristine: Halbinsel. 4. Auflage. München 2025. Umschlaggestaltung: buxdesign | München Umschlagmotiv: © Karoline Kroiß
- 30. Interior, Strandgade 30, by Vilhelm Hammershoi. 1901. Canvas, 66 by 55 cm. (Städel Museum, Frankfurt am Main).Vilhelm Hammershøi-Interieur. Strandgade 30, 1901_Frankfurt: Vilhelm Hammershøi, PDM-owner, via Wikimedia CommonsInterior, Strandgade 30, by Vilhelm Hammershoi. 1901. Canvas, 66 by 55 cm. (Städel Museum, Frankfurt am Main).
- Vilhelm Hammershøi, Public domain, via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vilhelm_Hammersh%C3%B8i-_Die_vier_Zimmer,_1914.jpg: Vilhelm Hammershøi, Public domain, via Wikimedia Commons