Isis und Osiris: Die ewigen Liebenden zwischen Mythos und Kultur

Die Karte zeigt als Bildarchiv der Weltliteratur Isis und Osiris als Die Liebenden.

Zuletzt bearbeitet am 30. September 2025

Eine Reise durch 5000 Jahre Menschheitsgeschichte zu den Wurzeln der Liebe, des Todes und der Wiedergeburt

Diesem Beitrag liegt ein Kartenspiel zugrunde, auf das ich zufällig gestoßen bin, und das gut als Bildarchiv der Weltliteratur bezeichnet werden kann. Es handelt sich um ein Kartendeck, bei dem statt der üblichen Symbole historische und literarische Liebespaare abgebildet sind. Die Tarot-Struktur dient hier nicht divinatorischen Zwecken, sondern als ikonographisches System zur Darstellung literarischer Archetypen – ähnlich wie die Illustrationen in mittelalterlichen Manuskripten oder Renaissance-Emblembüchern.

Die Karte zeigt als Bildarchiv der Weltliteratur Isis und Osiris als Die Liebenden.
Isis und Osiris als „Die Liebenden“: Kris Waldherr: The Lover’s Path Tarot. Herausgegeben von U.S. Games Systems INC. Stamford 2004.
Copyright © 2004, 2013 Kris Waldherr

Von Tamino und Pamino über Romeo und Julia oder Merlin und Vivienne habe ich mit schon einige dieser Karten hinsichtlich ihrer Symbolik genauer betrachtet. Heute sehe ich mit Isis und Osiris genauer an. Sie sind in meinem Deck der Nummer 6 „Liebe“ zugeordnet, die traditionell „Die Liebenden“ genannt wird.

Auf der abgebildeten Karte entfaltet sich eine der ältesten und kraftvollsten Liebesgeschichten der Menschheit. Zwischen Papyrusstauden und Hieroglyphen umarmen sich Isis und Osiris – nicht nur als Liebende, sondern als kosmische Prinzipien, die seit Jahrtausenden die menschliche Vorstellung von Liebe, Tod und Wiedergeburt prägen. Auf der Abbildung ist aber so viel mehr zu sehen: Es ist ein Fenster in die Seele einer Zivilisation und zugleich ein Spiegel unserer eigenen tiefsten Sehnsüchte.

Inhaltsverzeichnis

Zur Darstellung von Isis

Isis gilt als zentrale Figur der ägyptischen Mythologie und wird hier mit ihren charakteristischen Attributen dargestellt. Die Sonnenscheibe verbindet sie mit dem solaren Prinzip des Bewusstseins und der Erkenntnis, während die Kuhhörner ihre Rolle als Nährerin und Muttergöttin unterstreichen. Diese Krone macht deutlich: Isis ist nicht nur die liebende Ehefrau, sondern eine kosmische Kraft von gewaltiger Dimension.

Ihre Geste der Umarmung ist ein Ausdruck romantischer Liebe und verkörpert zugleich die urweibliche Kraft der Regeneration, also die Fähigkeit, Leben aus dem Tod zu erwecken und aus Fragmenten ein Ganzes zusammenzusetzen. Die Art, wie Isis Osiris hält, spiegelt jene mythische Szene wider, in der sie ihren zerstückelten Gemahl wieder zusammenfügt und ihm neues Leben einhaucht. Dabei handelt es sich um einen Akt, der sowohl physische Wiederherstellung als auch spirituelle Transformation symbolisiert.

Ganz allgemein zu Isis: „Mythische Erzählungen schildern ihre Weisheit und List. In der äg. Zauberlit. führt siehäufig den Beinamen “die Zauberreiche”. I. erscheint anthropomorph, stehend odersitzend, und theriomorph als Falkenweibchen, Schlange, Skorpion oder weibliches Nilpferd. Zahlreiche ägypt. Kultstätten und Feste zeigen ihre herausragende Rolle.“[1]

Zur Darstellung von Osiris

Osiris seinerseits repräsentiert in dieser Kartendarstellung das männliche Prinzip und zugleich die zyklische Natur von Tod und Wiedergeburt. Diese sind im ägyptischen Verständnis untrennbar mit den Rhythmen des Nils, der Vegetation und dem kosmischen Geschehen verbunden. Seine pharaonische Kopfbedeckung und die ruhige Hingabe in der Umarmung zeigen ihn nicht als passiven Empfänger von Isis‘ Umarmung, sondern als bewussten Teilnehmer an diesem heiligen Mysterium der Vereinigung. Die körperliche Nähe sowie der innige Kuss von Isis und Osiris vermitteln eine Intimität, die über das Romantische hinaus und in den Bereich des Sakralen übergeht, wo körperliche und spirituelle Vereinigung zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen.

Daher sind auch die weißen Gewänder nicht zufällig in der Darstellung vorhanden und immerhin tragen Isis und Osiris beide Weiß. In der ägyptischen Symbolik handelt es sich dabei um die Farbe der Reinheit, aber auch der Mumifizierung und damit der Transformation.

Osiris trägt Weiß als jemand, der durch den Tod gegangen und gereinigt wieder auferstanden ist. „O. wird gern mit Orion gleichgesetzt, der zusammen mit Isis-Sothis (Sirius) die Dekansterne anführt; Widersacher ist der große Wagen (Seth). Ferner identifiziert sein Schicksal ihn mit dem Mond und seinen Phasen sowie mit der Nilüberschwemmung und dem Vegetationszyklus (Korn-O.).“[2]

Die Sprache der Symbole: Entschlüsselung der Darstellung von Isis und Osiris

Was an der Darstellung sofort ins Auge fällt, ist die Innigkeit der Liebenden, die sich in zärtlicher Umarmung küssen. Aber ich will mir alles einmal ganz genau der Reihe nach ansehen. Auffällig sind zum Beispiel die charakteristischen dreieckigen Dolden des Papyrus, die sich wie Sonnenstrahlen ausbreiten und die Ausstrahlung spiritueller Energie bedeuten könnten.

Isis und Osiris befinden sich in einem Feld dieser ausstrahlenden Kraft, was darauf hindeutet, dass ihre Vereinigung selbst zu einer Quelle wird, die Leben und Bewusstsein in alle Richtungen ausstrahlt. Immerhin ist ihre Geschichte bis heute überliefert – der Mythos besaß und/oder besitzt große Macht.

Die Umarmung von Isis und Osiris

Die Art, wie sich Isis und Osiris umarmen, ist nicht die leidenschaftliche Umarmung junger Liebender, sondern die sanfte, beschützende Geste von Seelen, die alle Höhen und Tiefen des Lebens miteinander geteilt haben. Isis neigt ihr Haupt zu Osiris, während er sie in seine Arme schließt – eine Haltung, die gleichzeitig Zärtlichkeit und Ehrfurcht ausdrückt. Es handelt sich um eine Liebe, die der Tod nicht aufhalten kann und die Grenzen überwindet, weil sie endlos ist.

Die Macht der Hieroglyphen – Überdauerung von Schriftzeichen

Die Hieroglyphen im Hintergrund sind mehr als nur Dekoration. Jedes Zeichen trägt Jahrtausende von Bedeutung in sich. Das Ankh-Symbol steht für das ewige Leben, das Djed-Pfeiler für Stabilität und Beständigkeit, das Was-Zepter für Macht und Herrschaft. Zusammen bilden sie eine Konstellation von Konzepten, die das Wesen der göttlichen Liebe umreißen: Sie ist ewig, beständig und mächtig genug – sie überwindet den Tod.

Zugleich stehen die Hieroglyphen für das Festhalten der Traditionen oder auch die Überlieferung des Isis-Osiris-Mythos an sich über die Jahrhunderte. Dies verwandelt die gesamte Szenerie der Kartenabbildung in eine Art lebendige Hieroglyphe, in der die Liebe zwischen Isis und Osiris selbst zum heiligen Text wird, der aber auch sprachlich weitergetragen werden kann.

Mit den Hieroglyphen als Schriftzeichen verbunden ist Papyrus als Trägermedium für Überlieferung, die im Vordergrund ebenfalls auf der Karte zu erkennen sind.

Die Papyrusstauden: Medium der Überlieferung

Besonders bedeutsam finde ich die Tatsache, dass Papyrus das Material war, auf dem die heiligsten Texte der ägyptischen Kultur festgehalten wurden – die Totenbücher, Hymnen und magischen Formeln. Isis und Osiris sind hier buchstäblich von dem Medium umgeben, das Wissen und Weisheit durch die Jahrhunderte in unsere Zeit übertragen kann. In heißen, trockenen Gegenden wie Ägypten ist das möglich. Insofern trägt der Papyrus trägt auch die Symbolik der Zeit in sich – er ist vergänglich als Pflanze, aber unvergänglich als Träger von Wissen und Erinnerung.

Eben dies spiegelt perfekt das Isis-Osiris-Mysterium wider: ihre körperliche Liebe ist dem Zyklus von Leben und Tod unterworfen, aber ihre spirituelle Verbindung überdauert alle zeitlichen Begrenzungen. Der Papyrus um sie herum deutet darauf hin, dass ihre Geschichte nicht nur erlebt, sondern auch überliefert werden soll – sie ist eine Lehre für alle, die nach ihnen kommen.

Die Papyrusstauden: Wiege des Lebens

Papyrus wächst im Nildelta, in den Sümpfen, wo das Leben am üppigsten gedeiht. Und vielleicht erinnert sich der eine oder die andere daran, dass das Verstecken von Neugeborenen zwischen Papyrusstauden bereits Moses das Leben rettet, um ihn vor dem Pharao zu schützen. Und auch Isis versteckt den neugeborenen Horus vor Seth. Die Papyrusstauden symbolisieren damit den Schutzraum, den die Liebe schafft, und zugleich den fruchtbaren Boden, auf dem neues Leben entstehen kann.

Außerdem verkörpert Papyrus in der ägyptischen Mythologie das Urwasser, aus dem alles Leben entspringt – es ist eng mit der Schöpfungsgeschichte verbunden. Die Pflanze wächst direkt aus dem Nilschlamm empor und erreicht beträchtliche Höhen.

Die heiligen Gänse – Symbol der kosmischen Ordnung

In der ägyptischen Mythologie und Kosmogonie spielen Gänse eine zentrale Rolle als Symbole der Schöpfung und der kosmischen Ordnung – es sind heilige Tiere. Man sieht sie an den mittigen Seiten auf der rechten und linken Seite der Karte. Der berühmte „Große Gackerer“ (Gengen-Wer) war jene mythische Gans, die das Ur-Ei legte, aus dem die Sonne Ra schlüpfte und damit das gesamte Universum entstand. Daraus folgt, dass die Liebe von Isis und Osiris zur persönlichen Erfüllung beiträgt und zugleich auch ein kosmogonischer Akt ist, aus dem neue Welten entstehen.

Die Gänse sind auch eng mit dem Gott Geb verbunden, der Erdgottheit, die oft als Mann mit einer Gans auf dem Kopf dargestellt wird. Geb war der Vater von Isis und Osiris, was die familiäre und genealogische Dimension ihrer Beziehung unterstreicht. Ägypter haben sich „den G. je und dann als Gans vorgestellt. So wird einmal seine Tochter Isis das „Ei (d. h. die Tochter) der Gans“ (Metternichstele 62) genannt.“[3]

Gänse als Führer zwischen den Welten

Gänse sind Zugvögel, die zwischen verschiedenen Hemisphären wandeln und dabei sowohl zu Wasser als auch zu Land und in der Luft gleichermaßen zuhause sind. Insofern verkörpern im übertragenen Sinne die Fähigkeit zur Navigation zwischen verschiedenen Bewusstseinsebenen – eine Eigenschaft, die sowohl Isis als auch Osiris auszeichnet.

Isis als große Magierin, die zwischen Leben und Tod vermitteln kann, und Osiris als Herrscher über die Unterwelt, der dennoch mit der Welt der Lebenden verbunden bleibt.

Die Tatsache, dass die Gänse sich im Hintergrund befinden und nicht im Vordergrund, deutet für mich darauf hin, dass sie als spirituelle Begleiter und Wächter fungieren, die über diese heilige Vereinigung wachen, ohne sie zu stören. Sie sind gleichsam die unsichtbaren Zeugen, die dafür sorgen, dass diese Liebe in Harmonie mit den kosmischen Gesetzen steht.

Gänse – die monogam Liebenden

Die Gänse tragen auch die Symbolik der Treue und der lebenslangen Partnerschaft in sich, da viele Gänsearten monogam leben und gemeinsam ihre weiten Wanderungen unternehmen. Dies verstärkt die Botschaft der Isis-Osiris-Karte als Darstellung einer Liebe, die alle Herausforderungen und Trennungen überdauert. Ihre Anwesenheit im Papyrus-Dickicht deutet darauf hin, dass wahre Liebe wie die Zugvögel ist – sie findet immer zurück zu ihrem Ursprung, egal wie weit die Reise sie auch führen mag.

Der Vergleich mit der klassischen Kartendarstellung

Wenn man die Abbildung aus meinem Fundstück der literarischen und historischen Liebespaare mit der klassischen Struktur des Rider-Waite-Deck vergleicht, dann fallen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede ins Auge.

Unterschiede zur traditionellen Struktur

Auf der traditionellen Karte der klassischen Liebenden des Rider-Waite-Decks wird oft ein Engel als spiritueller Wächter über dem Liebespaar schwebend gezeigt, wobei sich die Liebenden nicht umarmen, sondern links und rechts eher am Rand der Karte stehen. Dagegen zeigt die Isis-Osiris-Darstellung eine erdverbundenere, aber nicht weniger spirituelle Form der göttlichen Begleitung – aber vor allem die in der Umarmung und im Kuss dargestellte Innigkeit der Liebe.

Während der Engel eine eher abstrakte, himmlische Führung repräsentiert, verkörpern die Gänse eine natürlichere, zyklische Weisheit – sie folgen den Jahreszeiten, den natürlichen Rhythmen, und bringen diese irdische Spiritualität in die Liebesbeziehung ein. Die Abbildungen der Kartendecks unterscheiden sich also hinsichtlich ihrer Herangehensweise an das Thema der heiligen Vereinigung.

Während die klassische Darstellung oft den Garten Eden oder eine eher abstrakte spirituelle Landschaft als Hintergrund verwendet, verankert die Isis-Osiris-Karte die Liebesbeziehung fest in der ägyptischen Kosmologie und Geographie.

Der Papyrus verbindet die Liebenden nicht nur mit dem Nil als Lebensquelle, sondern auch mit der gesamten Kultur, die aus diesem Fluss hervorging. Die Liebe wird hier nicht als etwas dargestellt, was sich von der Welt abwendet, sondern als etwas, das tief in die kulturelle und natürliche Matrix eingebettet ist.

Liebe – sich bewusst füreinander entscheiden

Ein weiterer Unterschied betrifft die Bewusstheit der Entscheidung für die Liebe, also der bewussten Hinwendung zur Vereinigung. Während die traditionelle Liebenden-Karte oft den Moment der Wahl zeigt – symbolisiert durch die beiden Figuren, die vor dem Engel stehen und eine bewusste Entscheidung für die Liebe treffen müssen – präsentiert die Isis-Osiris-Darstellung einen Zustand der bereits vollendeten und unbedingten Wahl für die Liebe.

Man könnte den Engel im traditionellen Deck auch als göttliche Fügung oder Schicksal bezeichnen. Eben jenes Prinzip fällt in der Isis-Osiris-Darstellung weg. Hier ist die Wahl längst getroffen, die Vereinigung bereits vollzogen, und was wir sehen, ist nicht der Prozess, sondern das Ergebnis einer spirituellen Alchemie.

Die Wiege der Ewigkeit: Historischer Kontext der ägyptischen Mythologie

Das Land am Nil als Bühne der Götter

Als um 3100 vor Christus die ersten Pharaonen über ein vereintes Ägypten herrschten, war der Mythos von Isis und Osiris bereits tief in der kollektiven Seele des Volkes verwurzelt. Das alte Ägypten, dieses schmale grüne Band entlang des Nils, inmitten der lebensfeindlichen Wüste, war prädestiniert für eine Mythologie, die sich um die ewigen Zyklen von Leben, Tod und Wiedergeburt drehte. Jahr für Jahr erlebten die Ägypter, wie der Nil über die Ufer trat, fruchtbaren schwarzen Schlamm auf die Felder spülte und dann wieder zurückwich – ein natürliches Schauspiel von Überflutung, scheinbarem Tod und explosiver Wiedergeburt des Lebens.

Dieser jährliche Zyklus des Nils, der tote, ausgedörrte Erde in blühende Fruchtbarkeit verwandelte, wurde zum Urbild für Osiris‘ eigene Reise durch Tod und Auferstehung – so wie der Fluss das Land erneuerte, so erneuerte die Liebe der Isis ihren totgeglaubten Gemahl.

Worum geht es im Mythos von Isis und Osiris?

Der Osiris-Mythos war mehr als eine religiöse Geschichte; er war das Fundament der ägyptischen Gesellschaft. Laut Jan Assman waren der Mythos vom Sonnenlauf und der Osiris-Mythos die zwei Mythenkomplexe, die im Weltbild der Ägypter am weitesten verbreitet waren und eine große Rolle spielten.[4] „Beide hängen überdies aufs Engste zusammen, weil Osiris und der Sonnengott sich im Rahmen dieses mythischen Weltbilds allnächtlich vereinigen. Osiris aber ist der Totenherrscher, ein Gott, der selbst gestorben und als gestorbener Gott zum Herrscher des Totenreichs geworden ist. Der Osiris-Mythos handelt von der Überwindung des Todes, und zwar im Rahmen von Familienbeziehungen.“[5]

Es geht konkret darum, wie der Tod durch den Hass des brüderlichen Rivalen in die Welt kam und überwunden wurde durch Liebe – zwei Mächte, die das Überschreiten der Schwelle des Todes ermöglichen und die Beziehung zwischen Toten und Lebenden aufrechterhalten können. „Es geht darum, [Osiris] im Jenseits zu neuer Lebendigkeit zu verhelfen, dadurch, dass seine Glieder in die Machtgestalt der Mumie gebracht werden und seine soziale Einbettung und Anerkennung in der Götterwelt erreicht wird. Was Isis erreicht, ist durchaus eine Art von Auferstehung, aber nicht zurück ins diesseitige Leben, sondern hinüber in ein neues Leben im Jenseits. Der Mythos von Isis und Osiris modelliert eine Ordnung, in der Unterwelt und Oberwelt, die Welt der Toten und die Welt der Lebenden, miteinander in Verbindung gesetzt werden.“[6]

Die gesellschaftliche Relevanz des Mythos

„Im Isis-Osiris-Horus-Mythos geht es um die kulturelle Artikulation des Todes. Der Mythos gibt dem Tod, dem Status des Toten, eine Form, die ihn einbindet in die Urzelle des sozialen Lebens, die Kernfamilie von Vater, Mutter und Kind. Damit wird jede Form menschlicher Gemeinschaft und Gesellschaft grundsätzlich als eine Gemeinschaft zwischen Lebenden und Toten bestimmt. Der Mythos von Isis und Osiris gibt das Modell vor, wie man als Toter und mit den Toten lebt. Darin liegt seine Bedeutung für das alte Ägypten.“[7] Jeder Pharao galt als lebender Horus, der Sohn von Isis und Osiris, und legitimierte so seine göttliche Herrschaft. Gleichzeitig bot der Mythos jedem einzelnen Ägypter die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.

Die aufwendigen Mumifizierungsrituale und prächtigen Grabbeigaben zeugen von diesem tiefen Glauben an die Auferstehung – ein Glaube, der durch Isis‘ Liebe zu Osiris möglich wurde. So mächtig war dieser Glaube, dass sogar die römischen Kaiser – von Augustus bis Hadrian – sich heimlich in die Isis-Mysterien einweihen ließen, obwohl sie offiziell den Isis-Kult mehrfach verboten hatten: Die Liebe einer ägyptischen Göttin erwies sich als stärker als die Macht Roms.

Historische Entwicklung und Verbreitung

Was als lokaler Kult in Abydos begann, entwickelte sich über drei Jahrtausende zu einem der einflussreichsten religiösen Systeme der Antike. Zur Zeit der Ptolemäer hatte sich der Isis-Kult bereits über das gesamte Mittelmeer ausgebreitet. Römische Kaiser ließen sich in die Mysterien einweihen, und selbst in den entlegensten Provinzen des Reiches fand man Isis-Tempel. „Die Reaktionen in Rom gegen den I.-Kult in den J. 58, 53 und 48 v.Chr. (Tert. nat. 1,10; Cass. Dio 40,47; 42,26) waren polit. Natur: Der Senat sah sich zunehmend seiner polit. Macht beraubt. Einer seiner Privilegien war die Zustimmung und daraus folgende Einführung eines fremden Kultes in das röm. Religionssystem. Selbstbestätigung und Sicherstellung der urspr. Autorität diktierte in diesem Fall die Vertreibung der I. auf Staatsebene.“[8]

Man könnte den Grund für die Faszination und Beliebtheit vermuten: Diese Göttin, die ihren Geliebten aus dem Tod zurückholte, sprach eine universelle Sprache der Hoffnung.

Die vollständige Geschichte von Isis und Osiris

Die Urerzählung

Die Geschichte von Isis und Osiris gehört zu einem der einflussreichsten Erzählungen der altägyptischen Mythologie. Der Mythos beginnt in einer Zeit, als Götter noch direkt auf Erden wandelten. Osiris herrschte über ein goldenes Zeitalter der Gerechtigkeit und des Friedens als weiser und gerechter König Ägyptens, gemeinsam mit seiner Schwester-Gemahlin Isis, die seine ebenbürtige Partnerin in der Regierung war. Ihre Liebe war so vollkommen, dass sie zum Maßstab aller Beziehungen wurde. Doch in dieser Harmonie lauerte bereits der Keim der Tragödie: Seth, der neidische Bruder, dessen Herz die Eifersucht vergiftete: Er plante einen heimtückischen Mord.

Der Tod des Gottes

Seths Verrat war von erschreckender Perfektion: Ein prächtiger Sarkophag, maßgeschneidert für Osiris, wurde zum tödlichen Geschenk. Als Osiris sich hineinlegte, schlug Seth den Deckel zu und warf den Sarg in den Nil. Der Fluss, der normalerweise Leben spendete, wurde zum Grab des Gottes. Doch hier beginnt erst die eigentliche Geschichte – denn was folgt, ist die vielleicht kraftvollste Darstellung der Liebe, die je erzählt wurde.

Isis‘ Suche: Liebe als transformierende Kraft

Isis‘ Suche nach dem geliebten Osiris führte sie durch ganz Ägypten und darüber hinaus. Sie verwandelte sich in einen Falken, durchstreifte als einfache Frau das Land und scheute keine Mühe. Als sie den Sarg endlich in Byblos fand, eingewachsen in einen mächtigen Baum, zeigte sich die erste Transformation: Selbst die Natur hatte Osiris in sich aufgenommen. Doch Seth war noch nicht besiegt. Er zerstückelte den Körper seines Bruders in viele Stücke, die er über ganz Ägypten verteilte.

Die Wiedergeburt durch Liebe

Isis sammelte jeden einzelnen Körperteil ihres Geliebten und fügte ihn durch ihre Magie wieder zusammen. Mit Hilfe ihrer Schwester Nephthys und des Gottes Anubis vollbrachte sie das Unmögliche – sie erweckte Osiris für eine Nacht zum Leben. In dieser einen Nacht der Wiedervereinigung empfing sie Horus, den Sohn, der Seth besiegen und die kosmische Ordnung wiederherstellen sollte. Da Osiris nicht ins Leben zurückkehren konnte, wurde er zum Herrn der Unterwelt und Richter über die Toten.

Isis und Osiris vs. Orpheus und Eurydike

Es mag einige Überschneidungen zur Geschichte von Orpheus und Eurydike geben: „In d[er] Überschreitung der Todesgrenze erinnert der Mythos von Isis und Osiris an den von Orpheus und Eurydike. Auch hier vermag die Liebe die Grenze zu überwinden, die der Tod aufgerichtet hat, die Grenze zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Oberwelt und Unterwelt. Hier greift eine sich über alle Grenzen hinwegsetzende Liebe zum Medium der Musik, um die Herzen der Unterweltlichen zu betören und die eisernen Ordnungen des Totenreichs aus den Angeln zu heben. Isis bedient sich zwar auch zauberkräftiger Riten und betörender Rezitationen, um Osiris wiederzubeleben, aber wie bei Orpheus ist es auch bei ihr die Liebe, die ihrer Kunst die Macht verleiht, die Todesgrenze zu überwinden und den toten Gott zum Leben zu erwecken.“[9]

Unterschiede zwischen den Erzählungen

Allerdings gibt es auch fundamentale Unterschiede zwischen Isis und Osiris sowie Orpheus und Eurydike. „Orpheus liebt nicht die tote, sondern die lebende Eurydike. Mit der toten Eurydike kann er nicht viel anfangen und nimmt alles auf sich, sie so schnell wie möglich aus dem Hades an die Oberwelt zurückzuholen. [Anm.: Die Serie Kaos setzt den Mythos neu in Szene.] Hier bildet die Überschreitung der Todesgrenze die ungeheure Ausnahme, die alle Ordnungen auf den Kopf stellt. Isis dagegen tastet mit ihrer Liebe zum toten Osiris die Ordnungen nicht an, im Gegenteil, sie stellt sie her. Ihre Liebe holt Osiris nicht aus der Unterwelt zurück, sondern lässt ihn dort wieder aufleben. Es geht Isis nicht darum, Osiris wiederzubeleben, aufzuerwecken, so wie Jesus Lazarus auferweckt hat, und ins Leben zurückzuholen, so wie Orpheus Eurydike ins Diesseits zurückholen wollte.“[10]

Trotzdem erkenne ich Gemeinsamkeiten: Isis und Orpheus verbindet die ultimative Liebestat über die Grenzen des Todes hinweg und versuchen, sie zurückzuholen. Doch wo der griechische Sänger Orpheus in seinem letzten Moment des Zweifels scheitert und Eurydike für immer verliert, triumphiert die ägyptische Göttin durch absolute Hingabe: Isis gelingt, was Orpheus versagt blieb – sie besiegt den Tod tatsächlich und erschafft aus der Katastrophe neues Leben.

Der Isis-Osiris-Mythos in der antiken Literatur

Natürlich wird auch der Isis-Osiris-Mythos über die Zeit hinweg tradiert und in verschiedenen Kontexten aufgegriffen von den großen Historikern und Literaten seiner Zeit. So auch von Herodot, Ovid und Plutarch. Herodot (ca. 484-425 v. Chr.) war ein griechischer Geschichtsschreiber, der als Vater der Geschichtsschreibung gilt und dessen Hauptwerk die Perserkriege sowie ethnographische Beschreibungen verschiedener Völker umfasst. Ovid (43 v. Chr.-17/18 n. Chr.) war ein römischer Dichter der augusteischen Zeit, der besonders für seine Metamorphosen und die Ars amatoria berühmt wurde und als einer der größten Elegiker der lateinischen Literatur gilt. Plutarch (ca. 45-125 n. Chr.) war ein griechischer Schriftsteller und Philosoph, der vor allem für seine Parallelbiographien berühmter Griechen und Römer sowie seine moralphilosophischen Schriften bekannt ist. Alle haben mehr und weniger ausführlich den Isis-Osiris-Mythos aufgegriffen und literarisch bzw. historisch verarbeitet.

Der Mythos in der antiken Literatur: Drei Perspektiven

Die drei bedeutendsten antiken Autoren, die den Isis-Osiris-Mythos aufgriffen, repräsentieren drei fundamental unterschiedliche Zugänge zum ägyptischen Götterpaar.

Herodot und der Mythos in seinen Historien

Herodot (ca. 484-425 v. Chr.) behandelt Isis und Osiris in seinen Historien als ethnographisches Phänomen. Als einer der ersten Griechen, der systematisch über ägyptische Religion berichtete, setzte er die Götter mit griechischen Entsprechungen gleich: Isis mit Demeter, Osiris mit Dionysos. Seine Behandlung ist von religiöser Zurückhaltung geprägt – er erwähnt zwar die Mysterien und die universelle Verehrung des Paares in ganz Ägypten, respektiert aber die Geheimhaltungsgebote der Kulte. Herodot lieferte wichtige Beobachtungen über die Rituale und die gesellschaftliche Bedeutung des Mythos, ohne die Geschichte selbst vollständig zu erzählen. Immerhin muss man erwähnen, dass er selbst nie in Ägypten war, sondern seine Informationen aus „zweiter Hand“ erhalten hat. Dies etwa durch Gespräche mit ägyptischen Priestern, Sekundärquellen oder Berichte von Reisenden, die Deutung von ägyptischen Ritualen durch Griechen oder eben durch das Anstellen eigener Vermutungen.

Zitat aus Herodots Historien

Besonders deutlich wird Herodots synkretistischer Ansatz in folgender Passage, die ägyptische und griechische Mythologie nahtlos ineinander übergehen lässt: „Alle Ägypter opfern reine Stiere und Kälber; Kühe dagegen dürfen sie nicht darbringen; sie sind der Isis heilig. Isis wird bei ihnen als Frau mit Stierhörnern dargestellt, wie die Griechen Io abbilden.“[11]

Osiris bezeichnet er als den griechischen Dionysos.[12] Vor allem betont er aber auch die Wichtigkeit von Isis und Osiris: „Alle, die zum Tempelbezirk des thebanischen Zeus gehören oder

aus dem Gau Theben stammen, genießen kein Hammelfleisch, sondern opfern Ziegen. Denn die Ägypter verehren nicht überall dieselben Götter in gleicher Weise außer Isis und Osiris. Von Osiris behaupten sie, er sei unser Dionysos. Diese beiden Götter verehren alle in gleicher Weise.“[13]

Und noch ein letztes Beispiel:

„Die Ägypter erzählen folgende Geschichte von dieser schwimmenden Insel: Früher schwamm sie nicht. Als Leto, die zu den ersten acht Göttern gehört, in Buto wohnte, wo jetzt ihr Orakel steht, übergab ihr Isis den Apollon zur Verwahrung. Sie rettete ihn dadurch, daß sie ihn auf der jetzt schwimmend genannten Insel verbarg, als Typhon, der die ganze Welt durchsuchte, dorthin kam, um den Sohn des Osiris zu finden. Apollon und Artemis, sagen sie, seien die Kinder des Dionysos und der Isis, Leto aber sei ihnen Amme und Retterin geworden. Auf ägyptisch heißt Apollon Horos, Demeter Isis, Artemis Bubastis. Nur allein aus dieser Sage hat Aischylos der Sohn der Euphorion, entlehnt, was sich bei keinem früheren Dichter findet. Das will ich gleich erzählen. Aischylos macht nämlich Artemis zur Tochter der Demeter. Auf diese Weise wurde das eine schwimmende Insel.“[14]

Ovid und Isis in Ovids Metamorphosen

Ovid (43 v. Chr.-17/18 n. Chr.) wählte in seinen Metamorphosen einen radikal anderen Ansatz: Er konzentrierte sich ausschließlich auf Isis als Göttin der Transformation und ließ Osiris völlig außen vor. In der Geschichte von Iphis und Ianthe (Buch 9)[15] erscheint Isis als allmächtige Problemlöserin, die ein als Mädchen geborenes Kind in einen jungen Mann verwandelt, um eine Hochzeit zu ermöglichen. Ovid nutzte die ägyptische Göttin nicht, um den vollständigen Mythos zu erzählen, sondern instrumentalisierte sie für sein literarisches Thema der Metamorphose. Isis wird zur Expertin für die komplexeste aller Verwandlungen – die Geschlechtstransformation –, während ihre Rolle als trauernde Witwe und Wiederbeleberin des Osiris keine Erwähnung findet.

Passage aus Ovids Metamorphosen:

In der Geschichte von Iphis und Ianthe aus Ovids Metamorphosen trägt Isis
„an der Stirne die Mondenhörner, an diesen die Spitzen von hellem, glänzendem Golde […] einer Herrscherin Zier.“[16]
Nachfolgend eine weitere Passage aus Ovids Werk:

Es blieb ein Tag noch. Sie nimmt sich
selbst und der Tochter herab vom Haupte die Binde, umklammert,
offen tragend ihr Haar, den Altar und fleht zu der Göttin:
„Die den Mareasee du bewohnst, Parætonium, Pharos,
die du den Nilstrom liebst, der in sieben Arme sich aufteilt,
Isis, ich bitte dich, hilf, gib Heilung unseren Ängsten!
Dich, ο Göttin, hab‘ einst ich geschaut, deine Zeichen hier, alles
hab‘ ich erkannt, auch den ehernen Klang der begleitenden Sistren
und, was Du mir befohlen, in treuem Gemüte bewahrt: Daß
diese das Licht noch schaut, daß mich die Strafe nicht treffe.
Dein Rat ist’s und von Dir ein Geschenk. Erbarme dich zweier
Frauen und steh uns bei! “ Ihren Worten folgten die Tränen.
Schien es, als habe die Göttin bewegt den Opfertisch — und sie
hat ihn bewegt, es erzittern die Tore des Tempels; dem Mond gleich
leuchten die Hörner auf, es ertönt das schwirrende Sistrum.[17]

Auch hier zum nachlesen online: https://www.gottwein.de/Lat/ov/met09de.php#Iphis

Plutarch und seine philosophischen Ausführungen zum Mythos

Plutarch (ca. 45-125 n. Chr.) lieferte schließlich die umfassendste antike Darstellung in seiner Schrift De Iside et Osiride. Er erzählte die vollständige Geschichte – von Seths Mord über Isis‘ Suche bis zur Wiedergeburt – und deutete sie philosophisch-allegorisch im Sinne des mittleren Platonismus. Für Plutarch verkörpert Osiris das Gute, die Ordnung und Vernunft; Seth (Typhon) steht für Chaos und Zerstörung; Isis repräsentiert die liebende Kraft, die das Geteilte zur Einheit fügt.

Plutarch schreibt: „Das Entstehn und Bestehn dieser Welt ist aus zwei entgegengesetzten, aber nicht gleichstarken Mächten gemischt, sondern die Obergewalt bleibt bei der besseren.“[18]

Der Mythos wird so zur Allegorie des ewigen Kampfes zwischen konstruktiven und destruktiven Prinzipien. Während Herodot dokumentierte und Ovid literarisch nutzte, philosophierte Plutarch – und machte den ägyptischen Mythos zur universalen Wahrheit über die Natur von Ordnung und Auflösung in der Welt.

Plutarch über Isis:

Jsis also ist der weibliche, alle Zeugung aufnehmende Theil der Natur; weshalb sie bei Platon die

Amme und Allempfangende, bei vielen andern die Tausendnamige heilst, weil sie vom Gedanken umgebildet, alle körperlichen und geistigen Gestalten annimmt. Eingepflanzt trägt sie die Liebe zu dem ersten und höchsten aller Wesen, das mit dem Guten dasselbe ist. Dies wird von ihr begehrt und

erstrebt, der Antheil am Schlechten aber geflohen und verschmäht. Für beide Theile ist sie Gefäls und Stoff, neigt jedoch ihrer Natur nach immer zum besseren, dem sie sich selbst bietet zur Hervorbringung und Fortpflanzung von Ausströmungen und Abbildern. Jst sie befruchtet und mit Zeugungen erfüllt, so freut sie sich und frohlocket: denn Erzeugung ist ein Abbilden des Wesens im Stoffe, und das Werdende eine Nachahmung des Seienden.[19]

Fazit zu den drei antiken Perspektiven auf Isis und Osiris

Diese drei Perspektiven – Herodots ethnographischer Blick, Ovids literarische Instrumentalisierung und Plutarchs philosophische Deutung – zeigen, wie wandelbar der Mythos von Isis und Osiris war und zugleich, wie beständig seine Faszination. Vom überlieferten Mythos bis zu der Abbildung auf meiner Karte im Bildarchiv der Weltliteratur bis zur griechisch-römischen Literatur bleibt ihre Liebe das, was die Figuren verkörpern: eine Kraft, die Grenzen überschreitet und Welten verbindet.

Hier ist ein abschließendes Gesamtfazit, das Karte, Mythos und literarische Rezeption zusammenführt:

Epilog: Die ewige Aktualität eines uralten Mythos

Wenn wir nach dieser Ausarbeitung auf die Abbildung der Karte blicken, sehen wir mehr als eine kunstvolle Darstellung. In der Umarmung von Isis und Osiris, umgeben von Papyrus und Hieroglyphen, verdichten sich 5000 Jahre menschlicher Auseinandersetzung mit Liebe, Tod und Wiedergeburt zu einem Bild, das bis heute wirkt und im alten Ägypten das Fundament der Gesellschaft bildete. Die literarische Rezeption durch Herodot, Ovid und Plutarch zeigt, wie wandlungsfähig dieser Mythos war: vom ethnographischen Dokument über das literarische Motiv bis zur philosophischen Allegorie.

Doch bei aller Transformation blieb der Kern erhalten – die Vorstellung einer Liebe, die stärker ist als der Tod. Isis und Osiris umarmen sich noch immer, fünftausend Jahre nachdem ihre Geschichte erstmals erzählt wurde: ein Versprechen, das die Jahrtausende überdauert hat.

FAQ zu Isis und Osiris und der Kultur Ägyptens

Wer waren Isis und Osiris?

Isis und Osiris waren zentrale Gottheiten des alten Ägypten. Osiris herrschte als König über ein goldenes Zeitalter und brachte den Menschen Ackerbau und Gesetze. Isis war seine Schwester und Gemahlin, bekannt als mächtige Magierin und Muttergöttin. Nach Osiris‘ Ermordung durch seinen Bruder Seth sammelte Isis seinen zerstückelten Körper und erweckte ihn für eine Nacht zum Leben, um ihren Sohn Horus zu empfangen.

Warum war der Isis-Osiris-Mythos so wichtig für die Ägypter?

Der Mythos bildete das Fundament der ägyptischen Gesellschaft und Totenkultur. Er erklärte, wie Tod und Wiedergeburt zusammenhängen und wie Lebende und Tote in Verbindung bleiben können. Jeder Pharao galt als lebender Horus, was seine göttliche Herrschaft legitimierte. Gleichzeitig bot der Mythos jedem Ägypter die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod durch die Mumifizierung.

Was symbolisiert Osiris in der ägyptischen Mythologie?

Osiris verkörpert den Vegetationszyklus, die Nilüberschwemmung und die zyklische Natur von Tod und Wiedergeburt. Er wird mit dem Mond und seinen Phasen identifiziert sowie mit dem Sternbild Orion. Als Herrscher der Unterwelt und Richter über die Toten repräsentiert er die Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben im Jenseits.

Welche besonderen Kräfte besaß Isis?

Isis galt als „die Zauberreiche“ und beherrschte mächtige Magie. Sie konnte sich in verschiedene Tiergestalten verwandeln (Falke, Schlange, Skorpion) und zwischen Leben und Tod vermitteln. Ihre größte Leistung war die Wiederbelebung des zerstückelten Osiris und die Empfängnis von Horus. Sie wurde auch als weise Herrscherin und universelle Muttergöttin verehrt.

Wie verbreitete sich der Isis-Kult über Ägypten hinaus?

Was als lokaler Kult in Abydos begann, entwickelte sich über drei Jahrtausende zu einem der einflussreichsten religiösen Systeme der Antike. Zur Zeit der Ptolemäer hatte sich der Isis-Kult über das gesamte Mittelmeer ausgebreitet. Selbst römische Kaiser ließen sich heimlich in die Isis-Mysterien einweihen, obwohl sie den Kult offiziell mehrfach verboten hatten.

Wie unterscheidet sich der Isis-Osiris-Mythos von Orpheus und Eurydike?

Beide Mythen handeln von der Überwindung des Todes durch Liebe, doch mit fundamentalen Unterschieden: Orpheus will Eurydike aus der Unterwelt zurück ins Leben holen und scheitert. Isis dagegen lässt Osiris in der Unterwelt wieder aufleben und erschafft eine neue Ordnung. Während Orpheus die bestehenden Ordnungen durch seine Tat auf den Kopf stellt, stellt Isis durch ihre Liebe die kosmische Ordnung erst her.

Wie behandelten antike Autoren den Mythos?

Herodot dokumentierte im 5. Jahrhundert v. Chr. die ägyptischen Rituale ethnographisch und setzte Isis mit Demeter, Osiris mit Dionysos gleich. Ovid konzentrierte sich in seinen Metamorphosen ausschließlich auf Isis als Transformationsgöttin und ließ Osiris weg. Plutarch lieferte im 2. Jahrhundert n. Chr. die vollständigste Darstellung und deutete den Mythos philosophisch als Allegorie des Kampfes zwischen Ordnung (Osiris) und Chaos (Seth).

Was bedeutet die Zerstückelung des Osiris in 42 Teile?

Die 42 Körperteile entsprechen den 42 Gauen (Verwaltungsbezirken) des alten Ägypten. Isis‘ Suche nach jedem einzelnen Teil und ihre Reise durch ganz Ägypten symbolisiert die Vereinigung des Landes und die Wiederherstellung der kosmischen Ordnung. Die Zahl 42 hatte auch religiöse Bedeutung im ägyptischen Totengericht.

Welche Rolle spielte der Nil im Osiris-Mythos?

Der Nil war zentral für das Verständnis des Mythos. Der jährliche Zyklus von Überschwemmung, scheinbarem Tod und explosiver Wiedergeburt des Lebens wurde zum Urbild für Osiris‘ Reise durch Tod und Auferstehung. Seth warf Osiris‘ Sarg in den Nil, der sowohl zum Grab als auch zum Transportmittel für die Wiedergeburt wurde. Die Nilüberschwemmung galt als Manifestation des Osiris.

Warum mumifizierten die Ägypter ihre Toten?

Die Mumifizierung war zentral für den ägyptischen Glauben an das Leben nach dem Tod. Die Ägypter glaubten, dass die Seele (Ka) den Körper nach dem Tod verlässt, aber regelmäßig zu ihm zurückkehren muss. Nur wenn der Körper erhalten blieb, konnte die Seele ihn wiedererkennen und das ewige Leben im Jenseits war möglich. Der Isis-Osiris-Mythos lieferte das göttliche Vorbild: Isis mumifizierte Osiris und ermöglichte ihm dadurch die Wiedergeburt als Herrscher der Unterwelt.

Wie funktionierte der Mumifizierungsprozess?

Der Prozess dauerte etwa 70 Tage und war hoch ritualisiert. Zunächst wurden die inneren Organe entnommen und in Kanopenkrügen aufbewahrt, nur das Herz blieb im Körper, da es als Sitz des Verstandes galt. Der Körper wurde mit Natron (einem natürlichen Salz) ausgetrocknet, dann mit Ölen und Harzen behandelt und schließlich in Leinenbinden gewickelt. Zwischen die Schichten legte man Amulette zum Schutz im Jenseits. Priester rezitierten während des gesamten Prozesses magische Formeln.

Welche Rolle spielte das Totengericht?

Nach ägyptischem Glauben musste jeder Verstorbene vor Osiris und 42 Totenrichtern erscheinen. Das Herz des Toten wurde gegen die Feder der Maat (Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit) gewogen. War das Herz durch Sünden schwerer als die Feder, wurde der Tote von der Dämonin Ammit verschlungen. Nur wer die Prüfung bestand, durfte ins Jenseitsparadies (Sechet-iaru, die „Gefilde der Iaru“) eintreten.

Warum war Papyrus so wichtig für die ägyptische Kultur?

Papyrus, aus der gleichnamigen Sumpfpflanze hergestellt, war das zentrale Schreibmaterial der ägyptischen Hochkultur. Auf Papyrus wurden Totenbücher, religiöse Hymnen, Verwaltungsdokumente, literarische Texte und medizinische Abhandlungen festgehalten. Das trockene Klima Ägyptens ermöglichte die Konservierung über Jahrtausende. Papyrus war nicht nur praktisches Medium, sondern hatte auch symbolische Bedeutung: Die Pflanze wuchs aus dem Nilschlamm empor und verkörperte das Urwasser der Schöpfung.

Welche Bedeutung hatten Hieroglyphen?

Hieroglyphen waren die heilige Schrift der Ägypter, deren Name „heilige Einritzungen“ bedeutet. Das System kombinierte logographische (ganze Wörter darstellende) und phonetische Zeichen und umfasste etwa 700 verschiedene Symbole. Hieroglyphen wurden für monumentale Inschriften, religiöse Texte und Grabbeigaben verwendet. Die Ägypter glaubten, dass die geschriebenen Worte magische Kraft besaßen – das Niederschreiben eines Namens sicherte dessen ewiges Fortbestehen, während das Auslöschen eines Namens symbolischen Tod bedeutete.

Wie funktionierte die ägyptische Gesellschaft?

Die ägyptische Gesellschaft war streng hierarchisch organisiert. An der Spitze stand der Pharao als gottgleicher Herrscher, darunter Priester und hohe Beamte, gefolgt von Schreibern, Handwerkern und Bauern. Die Mehrheit der Bevölkerung waren Bauern, die während der Nilüberschwemmung, wenn die Felder nicht bearbeitet werden konnten, für große Bauprojekte wie Pyramiden rekrutiert wurden. Entgegen populärer Vorstellung waren die Arbeiter keine Sklaven, sondern freie Bürger, die für ihre Arbeit entlohnt wurden.

Abbildung

Kris Waldherr: The Lover’s Path Tarot. Herausgegeben von U.S. Games Systems INC. Stamford 2004. https://kriswaldherrbooks.com/home
Copyright © 2004, 2013 Kris Waldherr

Verwendete Literatur

Assmann, Jan: Das Paar, die Liebe und der Tod: Der Mythos von Isis und Osiris. In: Familiendynamik 30, Nr. 1, 2005, S. 69-95.

Bonnet, Hans: Geb. In: Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. 3., unveränderte Auflage. Berlin/New York 2000.

Herodot: Historien. Erster Band. Bücher I-V. Griechisch-deutsch. Herausgegeben von Josef Feix. 7. Auflage. Düsseldorf 2006.

Grieshammer, Reinhard/ Takacs, Sarolta A./Haase, Mareile: „Isis“. In: Der Neue Pauly Online. 2006, online unter: https://doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e527850 (zuletzt abgerufen am 29.9.25).

Plutarch: Über Isis und Osiris. Nach neuverglichenen Handschriften mit Übersetzung und Erläuterungen. Herausgegeben von Gustav Parthey. Berlin 1850.

Publius Ovidus Naso: Metamorhosen. Lateinisch – deutsch. In deutsche Hexameter übertragen und herausgegeben von Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg. 13. Auflage. München 1992.

von Lieven, Alexandra (Berlin). „Osiris“. Der Neue Pauly Online, 2006. https://doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e901930 (zuletzt aufgerufen am 29.9.25).


[1] Grieshammer, Reinhard/ Takacs, Sarolta A./Haase, Mareile: „Isis“. In: Der Neue Pauly Online. 2006, online unter: https://doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e527850 (zuletzt abgerufen am 29.9.25). [2] von Lieven, Alexandra (Berlin). „Osiris“. Der Neue Pauly Online, 2006. https://doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e901930 (zuletzt aufgerufen am 29.9.25). [3] Bonnet, Hans: Geb. In: Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. 3., unveränderte Auflage. Berlin/New York 2000, S. 201-204. [4] Assmann, Jan: Das Paar, die Liebe und der Tod: Der Mythos von Isis und Osiris. In: Familiendynamik 30, Nr. 1, 2005, S. 69-95, hier S. 70. [5] Ebd. [6] Ebd., S. 71. [7] Ebd. [8] Grieshammer/Takacs/Haase. „Isis“, online unter: https://doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e527850 (zuletzt abgerufen am 29.9.25). [9] Assmann: Das Paar, die Liebe und der Tod, S. 70. [10] Ebd., S. 71-72. [11] Herodot: Historien. Erster Band. Bücher I-V. Griechisch-deutsch. Herausgegeben von Josef Feix. 7. Auflage. Düsseldorf 2006. Buch II S. 235, 41.1-2. [12] Ebd., Buch II, S. 227, 144.2. [13] Ebd., Buch II, S. 237, 42.2. [14] Ebd., Buch II, S. 339 und 341. [15] Zusammenfassung zur Geschichte von Iphis und Ianthe: In Ovids Metamorphosen erzählt die Episode von Iphis und Ianthe die Geschichte einer außergewöhnlichen Liebe. Telethusa, die Frau des kretischen Ligdus, soll ihr Kind töten, falls es ein Mädchen ist. Im Traum erscheint ihr jedoch die Göttin Isis und ermahnt sie, das Kind zu behalten. Als Telethusa eine Tochter zur Welt bringt, gibt sie sie als Sohn aus und nennt sie Iphis. Niemand ahnt die Wahrheit, und so wächst Iphis als Knabe heran. Jahre später wird Iphis mit der schönen Ianthe verlobt, die ihn liebt und selbst innig geliebt wird. Doch Iphis verzweifelt, weil sie weiß, dass ihre wahre Natur die Ehe unmöglich macht. Am Tag der Hochzeit fleht Telethusa im Tempel der Isis um Hilfe. Die Göttin erhört das Gebet und verwandelt Iphis in einen jungen Mann. So können Iphis und Ianthe heiraten, und die wundersame Fügung wird festlich gefeiert. [16] Publius Ovidus Naso: Metamorhosen. Lateinisch – deutsch. In deutsche Hexameter übertragen und herausgegeben von Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg. 13. Auflage. München 1992, Buch X, 773-784. [17] Ebd., Buch IX, 688-690. [18] Plutarch: Über Isis und Osiris. Nach neuverglichenen Handschriften mit Übersetzung und Erläuterungen. Herausgegeben von Gustav Parthey. Berlin 1850, Kap. 49, S. 87. [19] Ebd. Kap. 53, S. 97-98.

Katrin Beißner

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Dieser Blog dient dem Interpretieren von Literatur, Filmen und Kunst, individuellen Erfahrungen und der Realität. Die Analysen und Interpretationen erfolgen als Gedankenexperimente im Rahmen einer Beschäftigung mit dem Erzählen, literarischen Figuren, historischen Personen sowie realen Menschen unter Anwendung literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden.

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