Die Vezierstochter Scheherazade und Sultan Scheherban sind nicht unbedingt das typische Liebespaar, das sich unter vielsagenden Blicken, Maskenbällen oder Ehebruchsintrigen verliebt, aber die beiden teilen auf jeden Fall eines: die Liebe zu Geschichten! Und sie sind die Protagonisten aus der Rahmenerzählung der international bekanntesten Geschichtensammlung orientalischen Ursprungs – nämlich von Tausendundeine Nacht. In diesen erzählt Scheherazade dem Sultan Geschichten, jede Nacht eine, wodurch sie nicht nur ihn von seiner krankhaften Misogynie heilen, sondern auch sein gesamtes Reich retten kann. Folgend soll ein kleiner Blick auf die beiden Figuren geworfen werden und zwar im Kontext eines literarischen Fundstücks, einem Tarotkartendeck, auf dem die bekannten Liebespaare der Literatur und Historie abgebildet sind. Tamino und Pamina, Merlin und Vivanne sind bereits behandelt worden. Nun geht es mir der Karte ‘Wisdom’, also Scheherazade und Scheherban weiter, der Ziffer 2, die ursprünglich der Hohepriesterin zugeordnet ist. Scheherazade oder auch Schahrasad oder Schehrezâd kommt aus dem Persischen von شهرزاد, Šahrzād und bedeutet Tochter bzw. Geborene des Reiches. Ich nutze hier den mit geläufigen Namen Scheherazade, im Text steht der Name etwas abgewandelt. Und auch der Name des Sultans Shahryar, ist im mir vorliegenden Text ein anderer – und zwar Scheherban. Darum belasse ich es auch dabei, um Verwirrungen zu vermeiden.
Vorhaben: Scheherazade und Scheherban
Die Geschichten der Liebespaare werden über die Jahrhunderte reinszeniert, aktualisiert, modernisiert, optimiert, transformiert. Mitunter sicherlich auch, um die hinter diesen facettenreichen Neudarstellungen stehenden Künstlerinnen und Künstlern nicht nur als belesene und kreative Intellektuelle auszuweisen, sondern ihnen vor dem zeitgenössischen Publikum auch Ehre und Ruhm zukommen zu lassen. Und natürlich zur finanziellen Befriedigung der dahinterstehenden Wirtschaft. Money makes the world go round – damals wie heute. Geld lässt sich jedenfalls mit der stetigen Transformation jener Liebespaare machen. Auch per Kartenspiel, konkret einem Tarotdeck genannt das Lovers Path Tarot, auf das ich wegen der Abbildungen und der durchdachten Zuordnung der jeweiligen Liebespaare zum entsprechenden Kartenthema aufmerksam wurde. Auf den Karten der großen Arkana sind 22 Liebespaare den Hauptthemen wie Tod, Liebe, Fruchtbarkeit, Unschuld und so weiter zugeordnet. Auf den vier Kartenfarben der kleinen Arkana mit jeweils 14 Karten pro Set (Stäbe, Schwerter, Kelche und Münzen) sind die Geschichten der vier ausgewählten Liebespaare Tristan und Isolde, Cupido/Amor und Psyche, Danae und Zeus sowie Siegfried und Brünhild ausführlicher erzählt. Jede Karte bezieht sich auf ein spezifisches Moment in der Geschichte dieser Liebenden und steht zugleich auch wieder für das Thema der Karte. Doch jetzt zu Scheherazade und Scheherban – dem Beweis, dass Frauen Männer zwar mit Intelligenz und List übertrumpfen können, dadurch aber eben nicht ganze Reiche ins Verderben stürzen, sondern retten – und zwar durch die Kraft von Erzählungen!
Scherazade – die wissende Weise
Ein kurzer Blick auf die Abbildung der Karte, die dieser Ausarbeitung zugrunde liegt soll vorweggenommen werden. Wie erwähnt, unterscheiden sich hier auch die Namen mit Shahrazade und Shahriyar anstatt Scheherazade und Scheherban. Beim Blick auf die Abbildung fällt die relative Zentriertheit von Scheherazade auf. Sie sitzt fast mittig im Bild, traditionell umhüllt in einem blauen Gewand, einen transparenten Schleier vor dem Gesicht, der nur ihre Augen freigibt, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Buch. Hinter ihr auf der linken Seite abgebildet befindet sich ein roter Vorhang, auf dem Granatäpfel abgebildet sind. Auf der rechten Seite sitzt Sultan Scheherban auf großen Kissen, das Schwert abgelegt neben sich, die Augen auf Scheherazade gerichtet. Scheherazade und Scheherban befinden sich also beide auf der Karte. In der Ferne erkennt man Gebäude. Die Symbolik des Bildes ist angelehnt an die Vorlage, die Karte der Hohepriesterin. Auch dort sitzt die weise Frau mittig im Bild und trägt ein blaues Gewand, auf dem Schoß die Thora, zu ihren Füßen eine Mondsichel, neben sich zwei Säulen, links eine schwarze, die mit einem B für Boaz gekennzeichnet ist, rechts eine weiße mit einem J für Jachin.
Scherazade und Scheherban – Dualität
Dort wird eine komplementäre, sich aber doch ergänzende Dualität offenbar, das Männliche und das Weibliche, die Dunkelheit und das Licht. Eine ähnliche Lichtmetaphorik begegnete bereits bei der Kartenabbildung von Merlin und Vivianne. Hinter der Hohepriesterin befindet sich ein Vorhang, der ebenfalls mit Granatäpfeln verziert ist. Der Vorhang symbolisiert das Geheimnisvolle, das verborgen ist und nur durch Intuition und innere Weisheit enthüllt werden kann. Die Granatäpfel stehen für Fruchtbarkeit und weibliche Mysterien. Die Abbildung des literarischen Tarots ist also gut gewählt hinsichtlich der übernommenen Symboliken und Aufteilung. Die Hohepriesterin ist weise und repräsentiert innere Ruhe. Sie weiß intuitiv um die Dinge, darum kann sie gelassen sein. Sie weiß mehr, als zu sehen ist. Die im Original durch die Säulen evozierte Dualität von Männlichkeit und Weiblichkeit wird an den Figuren Scheherazade und Scheherban selbst offenbar, auch wenn die Aufteilung etwas abweicht, macht Scheherazade dem König etwas Platz. Doch nur zusammen kann die Balance hergestellt werden – das weiß Scheherazade, der König weiß es (noch) nicht. Darum ist die Übertragung der Karte perfekt gewählt.
Einführung in den Geschichtszyklus von Tausendundeine Nacht
Der Geschichtszyklus von Tausendundeine Nacht gehört zu den bedeutendsten Sammlungen orientalischer Erzählkunst, in dessen Rahmen die Geschichte von Scheherazade und Scheherban integriert ist. Die faszinierenden Märchen, Legenden und Abenteuergeschichten, auch bekannt als Arabische Nächte, entstanden über mehrere Jahrhunderte und spiegeln die reiche Vielfalt und den kulturellen Austausch des Nahen Ostens wider. „Aus Sicht der heutigen Forschung bezeichnet T. N. weniger ein konkretes Buch oder Werk, sondern eher ein literar. Phänomen, das von verschiedenen, meist anonymen Autoren über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrtausend unter Rückgriff auf unterschiedlichste Quellen geschaffen wurde und dessen Bildmächtigkeit die populäre Wahrnehmung des islam. Orients entscheidend prägte.“[1] Im Mittelpunkt dieser Sammlung steht die Rahmenhandlung der klugen und mutigen Scheherazade. Der Sultan Scheherban, tief enttäuscht von der Untreue seiner Frau, beschließt, jede Nacht eine neue Braut zu heiraten und sie am nächsten Morgen hinrichten zu lassen. Er will sich so vor weiteren Enttäuschungen schützen. Scheherazade, die Tochter des Veziers, meldet sich als neue Braut für den Sultan freiwillig. Doch sie hat einen Plan, damit es gar nicht erst zu der morgendlichen Hinrichtung kommt. Sie beginnt in der Hochzeitsnacht Geschichten zu erzählen, endet jedoch in der Morgendämmerung mit einem spannenden Cliffhanger. Will Scheherban erfahren, wie es weitergeht, muss er Scheherazade leben lassen und die Hinrichtung aufschieben. So setzt Scheherazade Nacht für Nacht ihre Erzählungen fort, insgesamt tausendundeine Nächte lang, bis der König schließlich von ihrer Weisheit und Tugendhaftigkeit überzeugt ist.
Warum hasst König Scheherban die Frauen?
Die kurze Antwort lautet: Weil er seine Frau in flagranti mit einem schwarzen Sklaven erwischt und daraufhin kein Vertrauen mehr zu Frauen hat. Zu keiner einzigen! Inwiefern das auch für die Mutter gilt, wird glaube ich nicht thematisiert – wäre aber vielleicht interessant anzusehen. Damit aber auch die Zuhörerinnen und Zuhörer davon überzeugt werden, dass Frauen irgendwie alle untreu sind, muss eine erzähltechnisch geschickt eingefädelte Steigerung erfolgen. Aus diesem Grund beginnt die Geschichte auch nicht direkt bei Scheherban, sondern bei seinem Bruder Schahseman. Folgend werde ich also die Geschichte raffen und Eckpunkte zitieren. Der gerechte und beliebte König Scheherban hat Sehnsucht nach seinem Bruder Schahseman und befiehlt seinem Vezier, diesen zu ihm zu bringen. Schahseman überträgt die Regierung seines Reiches in seiner Abwesenheit seinem Vezier und bricht auf. „Um Mitternacht erinnerte er sich, etwas im Schlosse vergessen zu haben; als er dahin zurückkam, fand er seine Frau in vertrautem Umgang mit einem schwarzen Sklaven; bei diesem Anblick ward die ganze Welt schwarz in seinen Augen; er dachte, wenn dies schon vorfällt, ehe ich kaum die Stadt verlassen, was wird diese Verruchte tun, wenn ich einmal weit entfernt bin? Er zog sein Schwert und erstach beide; dann ließ er sogleich wieder aufbrechen und reiste immer fort, bis er in die Nähe der Hauptstadt seines Bruders kam.“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht. Vollständige Ausgabe. Durchgehend illustriert. Ins Deutsche übertragen von Gustav Weil. Band 1. München 2023, S. 9-10.
Der Text ist auch online im Projekt Gutenberg einsehbar: https://www.projekt-gutenberg.org/weil/band1/eingang.html
Die untreuen Herrscher-Gemahlinnen
Sie treffen sich und Scheherban ist glücklich, seinen Bruder nach langer Zeit wiederzusehen. Doch er bemerkt, dass etwas mit seinem Bruder nicht stimmt.
„Aber der König Schahseman dachte an die Begebenheit mit seiner Gemahlin, und dieses kränkte ihn so tief, daß er bleich wurde und sein Körper an Kraft abnahm. Als sein Bruder ihn in diesem Zustande sah, dachte er, dies ist gewiß, weil er von seinem Lande und Königreiche entfernt lebt; er ließ ihn deshalb in Ruhe und fragte nach nichts. Doch eines Tages sagte er zu ihm: »O mein Bruder! Ich sehe, dein Körper wird immer schwächer und deine Farbe bleicher.« Jener antwortete ihm: »Ich habe eine innere Krankheit«; aber er sagte ihm nicht, was er von seiner Frau gesehen. Hierauf versetzte der ältere: »Ich möchte, daß du mit mir auf die Jagd gingest, vielleicht wird dich dies zerstreuen;« da jener sich aber weigerte, ging er allein fort. Nun waren im Schlosse des jüngeren Königs, d. h. das der jüngere Bruder bewohnte, Fenster, die auf den Garten seines Bruders gingen. Hier sah er auf einmal die Türe des Schlosses sich öffnen, und zwanzig Sklavinnen und zwanzig Sklaven herauskommen; in ihrer Mitte ging die Frau seines Bruders, ausgezeichnet schön und von bewundernswertem Wuchse. Als sie, d. h. die Sklavinnen, zu einem Teiche gelangt waren, entkleideten sie sich und setzten sich zu den Sklaven. Da rief die Königin: »Masud!« und es kam ein schwarzer Sklave und umarmte sie und sie umarmte ihn. Die übrigen Sklaven taten dasselbe mit den Sklavinnen, und so brachten sie den ganzen Tag zu mit Küssen und Umarmungen. Als der Bruder des Königs dies sah, dachte er bei sich: bei Gott! mein Unglück ist geringer als dieses; dies ist mehr als mir geschehen! Kummer und Gram fühlte er nun plötzlich weichen und er konnte wieder essen und trinken.“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 10.
Wie Schahseman dem Frauenproblem Herr wird
Schadenfreude ist also doch die schönste Freude?! Zumindest hat Schahseman nun wieder Appetit – seine Frau ist nicht alleine Untreu, er kann diese Eigenschaft auf sämtliche Frauen übertragen, auch auf die seines Bruders. Und daraus folgt: geteiltes Leid ist halbes Leid! Denn als Scheherban von seiner Reise zurückkommt, wundert er sich, dass es seinem Bruder plötzlich wieder gut geht. Schahseman erzählt ihm nun auch den Grund für seine vorübergehende Appetitlosigkeit. Als Schherban den Grund für seine Genesung erfahren will, lehnt Schahseman zunächst eine Erklärung ab, erzählt aber letztlich dennoch, was er gesehen hat. Er will sich aber selbst überzeugen und so planen sie einen weiteren Jagdausflug, verbergen sich jedoch verkleidet im Palast, während Truppen ausziehen. Und er kann sich selbst von den Worten seines Bruders überzeugen. Daraufhin verlässt den beliebten, gerechten und tapferen Herrscher (als der er eingangs beschrieben wurde) die Besinnung „und er sprach zu seinem Bruder Schahseman: »Komm, wir wollen unseres Weges gehen; wir wollen nichts mit der Regierung zu schaffen haben, bis wir jemand finden, dem es ebenso geht, wie uns; ist dieses nicht der Fall, so sei uns Tod besser als Leben.« Sie gingen hierauf zu einer verborgenen Türe des Schlosses hinaus und reisten Tag und Nacht, bis sie in eine liebliche Ebene kamen, wo neben dem Meere eine süße Wasserquelle sprudelte.“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 12.
Die Hilfe Gottes erbeten gegen die List aller Frauen
Das ist der Beweis, dass Türen in andere Welten eben nicht erst seit J. R. R. Tolkiens Freund C. S. Lewis und seinen Chroniken von Narnia bestehen. Jedenfalls treffen sie auf einen Geist, der ein schönes Mädchen aus einer Kiste zieht. Sie wurde von dem Geist gefangengenommen und er bewacht sie, sodass sie ihre Tugendhaftigkeit bewahrt. Das ist vielleicht auch eine Umschreibung für die Ehe, aber das müsst ich mir wohl noch etwas genauer ansehen für konkrete Schlüsse. Als der Geist auf ihrem Schoß einschläft, beginnt sie ein Gespräch mit Scheherban und Schahseman. 98 Siegelringe habe sie von Männern erhalten die ihr gefällig gewesen seien, zwei fehlten ihr noch, dann könne sie sich von dem Geist losmachen. „»[…]Gebt mir also auch die eurigen, so sind es hundert Männer, die mir dazu verhalfen, diesen häßlichen, abscheulichen Geist zu hintergehen, der mich in diesen Kasten eingesperrt und in diesem tobenden Meere wohnen läßt und so strenge bewacht, damit ich tugendhaft bleibe und niemanden außer ihm zuteil werde. Dieses Scheusal weiß nicht, daß die Bestimmung sich nicht ändern läßt und daß das Wollen der Frauen sich von niemanden abhängig macht.«“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 13.
Der Beweis für das untreue Wollen der Frauen
Die Aussage des Mädchens dient den Brüdern als Beweis, sodass sie einen grausamen Plan schmieden: »Gott! Gott! es gibt keinen Schutz und keine Macht, außer beim erhabenen Gott! Wir wollen deshalb bei Gott gegen die List der Frauen Hilfe suchen, denn sie ist wahrlich zu groß.« Hierauf sprach sie zu ihnen: »Geht nun eures Weges!« Und als sie hierauf weggegangen waren, sprach Scheherban zu seinem Bruder: »Mein Bruder! sieh, dies Abenteuer ist noch bedeutungsvoller als das unsrige. Hier ist ein Geist, der sein Mädchen in der Hochzeitsnacht raubte und es in einen gläsernen Kasten gesperrt hat, der mit vier Schlössern geschlossen ist. Er hat ihr das Meer zur Wohnung gegeben, weil er glaubte, sie so der Bestimmung und dem Schicksal zu entreißen, sie aber hat doch, wie wir gesehen, hundertfache Untreue geübt. Laß uns also jetzt getrost in unser Königreich zurückkehren, und den Beschluß fassen, nie mehr zu heiraten: ich will dir schon sagen, wie ich es machen will.«
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 13.
Nie mehr heiraten – der Plan zum Untergang des Reiches
Die erste Amtshandlung nach ihrer Rückkehr ist die Tötung der untreuen Gemahlin Scheherbans. Und auch alle Sklaven werden erschlagen. Am verhängnisvollsten ist jedoch der gefasste Plan, da er negative Konsequenzen für sein Reich hat. Scheherban schwur „daß er jede Nacht eine andere sich erwählen wolle, die er dann des Morgens hinrichten lassen werde, denn es gäbe auf der ganzen Erde kein tugendhaftes Weib.“[2]
Er lässt sich also zukünftig von seinem Vezier „die Sklavin für die Nacht“ bringen, „verfügt“ sich ihr, um ihr dann am Morgen den Kopf abzuschneiden. Das ist natürlich absurd, aber niemand darf gegen den Befehl aufbegehren. Auch der Vezier nicht, der dem Sultan jeden Tag eine andere Fürstentochter übergeben muss in dem Wissen, dass sie die Nacht zwar, den Morgen aber nicht überleben wird. Umgebracht, wegen der misogynen Einstellung des Sultans. So alt ist die Idee gar nicht. Das Motiv gibt es auch in der modernen Literatur, in Filmen und Serien. Es ist der ewig-reiche Junggeselle, der gutaussehend und gutbetucht Frauenherzen bricht, weil er von seiner ersten Liebe betrogen wurde, die ihn wegen dem Klassenstreber oder der BFFL sitzenließ, und wegen der nun alle anderen Frauen leiden müssen. Kennt man eine, kennt man alle – wieder so ein Sprichwort. Zeitlos ist aber auch die Moral, die mit solch einem Kurzschluss (der es ist) einhergeht. Denn letztlich vergiftet ein solches Denken nicht nur den eigenen Geist, es schafft allgemein einen fruchtlosen Boden. Kein Vertrauen, keine Liebe, keine Bindungen. Für einen Sultan ist das umso schlimmer, auch wenn er jede Nacht mit einer anderen Frau verbringen und seinen Samen versprühen kann – dieser kann nicht gedeihen. Es wird keine Nachfolger geben und die Herrschaft, die Erbfolge wird gestört, das Geschlecht stirbt aus und die Herrschaft geht an andere, wahrscheinlich ungeeignete Kandidaten. Im schlimmsten Fall gibt es Zank und Zwietracht und den potenziellen Nachfolgern, die dann das Land zu Grunde richten.
FATAL!
Auftritt Scheherazad
Es geht also erst einmal alles nach Plan für Scheherban, bis es keine Mädchen mehr gibt, das Volk weint und den Schöpfer im Himmel um Hilfe anfleht. Der Vezier, der den Befehl erhalten hat, Scheherban die Mädchen zu holen und umzubringen, hat zwei Töchter. Scheherasad und Dinarsad. Scheherazade ist sehr gebildet, sie kennt philosophische und medizinische Werke, kann Gedichte aufsagen und kennt die Volkstradition, die Reden der Weisen und Gelehrten, kurzum, sie kennt auch sehr viele Geschichten, ist weise und wissend. Und eben diese Scheherezade richtet eine Bitte an ihren Vater:
„»Mein Vater! ich will dir mein Geheimnis anvertrauen; ich wünsche, daß du mich mit dem Sultan Scheherban verheiratest; denn ich will entweder die Welt von diesen Mordtaten befreien oder selbst sterben wie die andern.« Als ihr Vater, der Vezier, dies hörte, sagte er: »Du Törin, weißt du nicht, daß der König geschworen hat, jeden Morgen sein Mädchen töten zu lassen? Wenn ich dich also zu ihm führe, so wird er mit dir dasselbe tun.« Sie antwortete: »Ich will zu ihm geführt werden, mag er mich auch umbringen.« Da erwiderte der Vater: »Was fällt dir ein, daß du dich selbst so in Gefahr bringen willst?« Sie antwortete: »Gleichviel, aber führe mich nur zu ihm!« Der Vezier sagte hierauf zornig: »Wer nicht mit Klugheit zu Werke geht, stürzt sich ins Verderben, und wer nicht die Folgen einer Sache berechnet, hat keinen Freund in der Welt; wie man sprichwörtlich sagt: ich saß in Wohlbehagen, da ließ mir mein Übermut keine Ruhe. Ich fürchte sehr, es möchte dir gehen, wie dem Ochsen und dem Esel mit dem Bauer.«“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 13-14.
Argumentieren mit Geschichten und ihrem moralischen Kern
Es ist seltsam, dass Scheherazade ausgerechnet diese eine Geschichte von dem Ochsen, dem Esel und dem Bauer nicht zu kennen scheint, wenn sie später Nacht um Nacht Geschichten erzählt, um ihr Leben und das des Reiches zu retten. Jedenfalls vergleicht der Vater sie im übertragenen Sinn mit einem Esel, der sich für schlau hält, am Ende aber ein schweres Joch aufgrund seines Mitleids und seiner vermeintlichen Überlegenheit zahlen muss. Weder die Geschichte noch der Vergleich können Scheherazade von ihrer Heiratsentscheidung, die auch die Rettung des Reiches einbezieht, abhalten. Also kramt der Vater noch eine Geschichte aus, in der die Frau des Mannes aus der ersten Geschichte diesem Fragen stellt, die er nicht beantworten darf, weil er sonst sterben würde. Der Kaufmann weiß zunächst nicht, was er mit seiner neugierigen Frau machen will, hört schließlich auf den Rat des Hahns und verprügelt sie, bis sie keine Fragen mehr stellt. Die implizite in der Geschichte enthaltene Drohung spricht der Vezier dann auch gegenüber seiner Tochter aus, ebenso werde er mit ihr verfahren, wenn sie nicht ablässt. Doch Scheherazade bleibt stur.
Als Beispiel: Die Geschichte vom Kaufmann, seinem Ochsen und seinem Esel
»Wisse! es war einmal ein reicher Kaufmann, der viele Güter, Diener, Kamele und anderes Vieh besaß; er hatte Frau und Kinder, wohnte auf dem Lande und beschäftigte sich mit Ackerbau; er kannte die Sprache aller Tiere und es war über ihn verhängt, daß, sobald er dies Geheimnis einem mitteilen würde, er sogleich sterben müsse. Obschon er nun die Sprache der Tiere und Vögel verstand, so durfte er doch niemanden etwas davon erzählen, aus Furcht vor dem Tode. Er hatte in seinem Hause einen Ochsen und einen Esel an einer Krippe nahe aneinander festgebunden. Eines Tages setzte sich der Kaufmann in ihre Nähe mit seiner Frau und seinen Kindern, die vor ihm spielten. Da hörte er, wie der Stier dem Esel sagte: »Ich wünsche dir Glück zu deiner Ruhe, zu der Bedienung, die du hast, indem man unter dir kehrt und spritzt, und dir gesiebte Gerste und klares Wasser bringt, während man mich Armen von Mitternacht an fortführt und mich ackern läßt; man legt auf meinen Hals etwas, das man Joch und Pflug nennt, und so arbeite ich den ganzen Tag, durchfurche die Erde, werde unausstehlich müde, werde noch von den Bauern geschlagen, meine Seiten werden zerschunden, an meinem Halse wird die Haut abgerieben, man läßt mich von einer Nacht zur anderen arbeiten, dann bringt man mich in den Rindstall, wirft mir Bohnen mit Unrat vermischt und Spreu vor; ich liege im Kot, wie in einer Pfütze, die ganze Nacht, während du dich in einem gekehrten, bespritzten und abgeputzten Stalle befindest; deine Krippe ist rein und mit Stroh gefüllt; du ruhst immer aus; nur selten kommt unserm Kaufmann ein Geschäft vor, zu dem er auf dir reitet, und auch dann kehrt er bald wieder nach Hause zurück. Du ruhest, während ich mich abmühe, du schläfst, während ich wache, ich hungre, wenn du satt bist.« Als der Stier ausgeredet hatte, wendete sich der Esel zu ihm und sagte: »O Dummkopf! wer dich den Vater der Verblüfften genannt, hat nicht gelogen; du hast weder Verstand noch Schlauheit, du weiß dir nicht zu raten und bringst dich allmählich durch deinen inneren Groll ums Leben; hast du noch nie das Sprichwort gehört: wer keine Leitung annimmt, verfehlt den rechten Weg? höre mich drum, Stier! Wenn der Landmann dich anbindet, so stampfe mit den Füßen, stoße mit den Hörnern, und schreie immer fort, bis man dir Bohnen hinwirft. Dann friß nichts davon, rieche nur so daran herum und schiebe sie zurück und koste sie nicht, begnüge dich mit dem Stroh und der Spreu. Tust du dies, so wirst du sehen, daß es dir gut bekommt und deiner Ruhe zuträglich wird.« Als der Stier dies hörte und sah, daß der Esel ihm diesen Rat gegeben, dankte er ihm in seiner Sprache, wünschte ihm viel Gutes zum Lohne, hielt seinen Rat für gut, und sprach zu ihm: »Mögest du vor allem Übel bewahrt sein, o Vater der Gescheiten!« Dies alles, meine Tochter, geschah, während der Kaufmann es hörte und verstand.
Als nun am folgenden Tag der Bauer kam, um den Ochsen herauszuführen, und ihn an den Pflug zu spannen, damit er arbeite, da fand er den Ochsen nachlässig in seiner Arbeit, denn er befolgte den Rat des Esels; als der Bauer aber anfing ihn zu schlagen, fiel der Ochs aus List auf den Boden, so wie es ihn der Esel gelehrt, bis es Nacht geworden war. Da ging der Bauer mit ihm nach Hause und band ihn an die Krippe; aber der Ochs fing an mit den Füßen zu stampfen und laut zu brüllen und suchte sich von der Krippe loszureißen. Der Bauer wunderte sich darüber, und brachte ihm Bohnen und Futter; der Ochse roch daran herum, ging zurück, legte sich weit davon nieder, und kaute an dem Stroh und der Spreu bis zum Morgen. Als der Bauer kam und die Krippe voll mit Bohnen und Stroh fand, und nichts daran fehlte, und den Ochsen mit aufgeblasenem Leibe, ausgestreckten Füßen und fast ohne Atem erblickte, ward er sehr betrübt und sprach: »Bei Gott, der Ochs muß heute krank sein, darum konnte er auch gestern nicht arbeiten.« Er ging nun zum Kaufmann und sagte ihm: »Herr! der Ochs ist krank, er hat diese Nacht nichts von seinem Futter gefressen.« Da aber der Kaufmann die Sache wohl wußte, so sprach er zum Bauer: »Geh, nimm den listigen Esel, spanne ihn an den Pflug, und zwinge ihn zur Arbeit, bis er des Ochsen Stelle versieht.« Der Bauer spannte den Esel ein, führte ihn aufs Feld, schlug ihn und quälte ihn, bis er pflügte; er schlug in so lange, bis er fast die Rippen zerbrochen und die Haut vom Halse abgeschunden hatte; als er ihn des Abends wieder nach Hause führte, konnte der Esel keinen Fuß mehr rühren und trug seine Ohren niederhängend. Der Ochs hingegen hatte den ganzen Tag ausgeruht, die ganze Krippe geleert, und für den Esel gebetet und seinen Rat gelobt. Als abends der Esel zu ihm kam, stand er vor ihm auf und sprach: »Guten Abend, o Vater der Gescheiten: Du hast mir bei Gott eine unbeschreibliche Wohltat erwiesen, mögest du stets geleitet und zum Ziele geführt werden; Gott belohne dich dafür statt meiner, o Vater der Aufgeweckten!«
Aber vor Zorn antwortete ihm der Esel nichts; denn er dachte: dies alles ist mir wegen meines unseligen Rats widerfahren; es war mir ganz wohl, da ließ mir mein Übermut keine Ruhe, bringe ich ihn nicht durch irgend eine List in seinen früheren Stand zurück, so gehe ich dabei zugrunde. Er schlich hierauf müde zur Krippe. Der Ochs aber streckte sich und kaute wieder und wünschte ihm immer viel Gutes.
»Ebenso, meine Tochter, wirst du verderben durch deinen schlimmen Entschluß; bleibe also ruhig und stürze dich nicht selbst in das Verderben; ich rate dir aus Mitleid für dich.« Sie aber erwiderte: »Ich will zum Sultan gehen, um ihn zu heiraten.« Der Vater sagte noch einmal: »Tu dies nicht!« aber sie erwiderte: »Es muß geschehen.«
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 14-16.
Der Erkenntnisgewinn von Geschichten und ihrer Botschaft
Interessant finde ich hier, dass der Vater die Geschichten mit einer bestimmten Intention erzählt. Er erzählt sie, weil er einen Vergleich der fiktionalen Geschichte mit seiner (aus unserer Sicht ja ebenfalls) fiktionalen Geschichte vornimmt, Gemeinsamkeiten feststellt – insbesondere zwischen der Figur des Esels und seiner Tochter (denke ich zumindest) und diesen Vergleich dann seiner Tochter als eine Art Abmahnung oder negative Zukunftsaussicht für ihre Entscheidung unter die Nase reibt. Die Frage, welche Wissensformen aus Literatur erworben werden können ist vielfach auch in der Philosophie diskutiert worden. Hier jedenfalls kann davon ausgegangen werden, dass die Figuren von einem Wissensgewinn oder zumindest einem Gewinn an Erkenntnis durch das Hören der in der erzählten Geschichte enthaltenen Moral lernen und ihr Verhalten ändern.
Ein weiblicher Gegenplan – Geschichten initiieren
Doch wie kommt es dazu, dass Scheherazade Geschichten erzählt, ohne das Scheherban sie darum bittet? Hier zeigt sich, dass es doch nicht ohne weibliche List geht.
„Schehersad freute sich sehr, machte alle ihre Sachen zurecht, ging zu ihrer jüngeren Schwester Dinarsad und sprach zu ihr: »Höre, meine Schwester, was ich dir anempfehle: wenn ich bei dem Sultan bin, werde ich nach dir schicken; wenn du dann kommst und siehst, daß der Sultan sich nicht mehr mit mir beschäftigt, so sage zu mir: O Schwester! wenn du nicht schläfst, so erzähle uns von deinen schönen Geschichten, damit wir die Nacht dabei durchwachen! Dies wird meine und der Welt Rettung von diesem Unheil verursachen und den König von seiner unseligen Gewohnheit abbringen.« Jene sagte zu, und als es Nacht war, begab sich Schehersad zu dem König. Dieser empfing sie in zärtlicher Weise und begann mit ihr zu scherzen, sie aber weinte. Als er sie fragte, warum sie weine, antwortete sie: »O König der Zeit! ich habe eine Schwester, von der ich diese Nacht noch Abschied nehmen möchte.« Der König schickte nach Dinarsad. Diese wartete, bis der Sultan sich an ihrer Schwester ergötzt und etwas geschlafen hatte, dann seufzte sie und sagte: »O meine Schwester! wenn du nicht schläfst, so erzähle uns von deinen schönen Geschichten, daß wir die Nacht dabei durchwachen, vor Tagesanbruch will ich dir dann Lebewohl sagen, denn ich weiß ja nicht, wie es morgen mit dir enden wird.« Schehersad fragte den Sultan um Erlaubnis, und als er diese erteilte, ward sie hocherfreut und begann:“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 19.
Wie baut Scheherazade durch Erzählen Spannung auf?
Es gibt einige – ich nenne sie einfach – Erzählbrücken, die innerhalb der Sammlung darauf hinweisen, wie Scheherazade es schafft, tausend Nächte lang zu erzählen. Es handelt sich um kleine Einschübe, Sätze, die als Verbindungsfaden dienen.
„Als Schehersad diese Geschichte vollendet hatte, sagte sie: Noch entzückender ist die Geschichte des Spezereihändlers Abul-Hasan und Alis und seiner Erlebnisse mit Schems Annahar. Am folgenden Morgen erzählte sie dann:“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 256.
Oder
„In der folgenden Nacht begann Schehersad also zu erzählen:“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 340.
Oder
„Hier endigte Schehersad ihre Erzählung, und in der folgenden Nacht begann sie von Neuem.“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 476.
Wenn die Nacht noch nicht zu Ende ist, wird das neu begonnene Kapitel direkt in die Figurenrede Scheherazades eingebunden.
„Die Sultanin Schehersad fuhr fort, den Sultan mit ihren schönen Geschichten zu unterhalten und begann nun die Geschichte vom Zauberpferd […]“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 401.
Und
„Dann sagte Schehersad: O glückseliger König! Was ist das im Vergleich zur Geschichte des Hasan aus Baßrah und der Prinzessinnen von den Inseln Wak-Wak“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 636.
Dass die Geschichten spannend sind, wird deutlich, wenn der Sultan die Anhörung auf die nächste Nacht verschiebt.
„Die Sultanin Schehersad wollte noch eine andere Geschichte beginnen, allein der Sultan verschob die Anhörung auf die nächste Nacht.“
Oder
„Hier endigte Schehersad ihre Erzählung, und in der folgenden Nacht begann sie von Neuem.“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 249.
Figuren als Bindeglied zur Fortsetzung der Erzählungen
Scheherazade erzählt auch verschachtelte Geschichte, die aus mehreren Teilen bestehen wie etwa die Abenteuer von Aladin. Manchmal sind es aber auch Figuren, die um die Erzählung einer Geschichte bitten, die natürlich von Scheherazade erzählt werden. Dann fragen Kaufleute, Könige oder Veziere in der Geschichte nach in der von Scheherazade erzählten Geschichte, wie es weitergeht.
Spannungsvoll und unterhaltsam erzählen
Festgehalten werden kann, denke ich, dass Scheherazade aufgrund ihrer Intelligenz und ihres Wissens viele Geschichten kennt. Aber, damit die Zuhörer bei der Stange bleiben (in diesem Fall ja nicht allein in körperlicher Hinsicht, sondern aus Interesse und Gefallen am Erzählten) müssen Geschichten wirkungsvoll erzählt werden. Es muss ja nicht gleich lautmalerisch in C3PO-Manier geschehen, aber unterhaltsam, stimmungsvoll, mitreißend. Würde Scheherban Geschichten hören wollen, die monoton und stockend vorgetragen werden? Wäre das unterhaltsam? Dazu eine Anekdote. Ein Bekannter hatte sich Hörbuch gekauft, er konnte es kaum erwarten, wie die Fortsetzung seines aktuellen Lieblingsbuches erfahren. Wie war es den Figuren ergangen? Was würde passieren? Doch dann … Er hasste den Sprecher, der seines Erachtens nach nicht nur völlig überzogen sprach, sondern auch überdramatisierte und sogar die Namen falsch aussprach! Er hat das Buch nicht gehört, obwohl er so gerne gewusst hätte, wie es weiterging. Und in dem Fall war Lesen leider keine Option. Soviel also zur Darstellung des Erzählten – es ist die halbe Miete.
Merkt der Sultan nicht, dass Scheherazade ihr Schicksal durch Erzählen aufschiebt?
Doch, er merkt es. Nach der Geschichte von Alaeddin und der Wunderlampe kommt es zu einem ausführlicheren Gespräch zwischen Scheherazade und Scheherban.Sie erklärt ihm, was es mit der Bedeutung und Symbolik der einzelnen Figuren auf sich hat, sie gibt ihm gewissermaßen eine Interpretation der Geschichte oder besser gesagt, sie zwingt ihm ihre Sichtweise auf. Der Sultan zeigt sich daraufhin großzügig, er genieße die Geschichten sehr, sagt er, sie enthielten gute Sittenlehren.
„Er sah wohl, dass die Sultanin sehr geschickt eine an die andere anreihte; indes war es ihm nicht unangenehm, dass sie ihm dadurch Gelegenheit gab, die Vollziehung seines feierlichen Schwures, kraft dessen er eine Frau nie länger als eine Nacht behalten und dann am anderen Morgen hinrichten lassen wollte, in Beziehung auf sie noch auszusetzen. Er war fast auf nichts so neugierig, als darauf, ob er es nicht endlich dahin bringen würde, dass ihr der Stoff ausginge.“
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 194.
Er fragt Scheherazad nach der Geschichte von Alaeddin und seiner Wunderlampe, ob ihr der Stoff nun ausginge, weil diese Geschichte anders gewesen sei, als die zuvor. Scheherazade entgegnet, sie habe noch genug Geschichten auf Lager, einzig fürchte sie, sie würde ihn langweilen. Sie solle sich keine Sorgen machen, so der Sultan, und zeigen, was sie Neues zu erzählen habe.
Was passiert am Ende von Tausendundeine Nacht mit Scheherazade und Scheherban?
„Als Schersad, welche während der tausend und einen Nächte dem König drei Söhne geboren, diese Erzählung [Das Märchen von Maruf] vollendet hatte, warf sie sich vor dem Sultan nieder und sprach: »König der Zeit, Herr deines Jahrhunderts, darf ich nun als Lohn für meine Erzählung mit einer Gnade ausbitten?« – »Wünsche, was du willst, Schehersad, es werde dir gewährt!«, antwortete der Sultan. Da rief sie die Ammen und befahl ihnen, ihre Kinder herbeizubringen. Die Ammen brachten drei Knaben, von denen der eine schon laufen konnte, der andere kroch und der dritte noch am Busen seiner Amme lag. »König der Zeit«, sagte Schehersad, »hier sind deine Kinder; ich bitte dich, um ihretwillen mir das Leben zu schenken, damit die armen Kinder nicht mutterlos werden.« Der König, bis zu Tränen gerührt, umarmte seien Kinder und sagte: »Bei Gott! Schehersad, ich habe dir schon längst verziehen, denn du bist tugendhaft und rein; Gott segne dich und die Deinigen!« Schehersad küsste dem König die Hand und wünschte ihm noch ein langes, glorreiches Leben. Die Freude verbreitete sich sogleich im ganzen Palast und bald darauf in der ganzen Stadt. Es war eine äußerst freudige Nacht, lichter als der hellste Tag. Am folgenden Morgen schenkte der König in Anwesenheit aller Truppen seinem Schwiegervater, dem Vezier, ein prachtvolles Ehrenkleid und dankte ihm dafür, dass er ihm seine Tochter zur Frau gegeben, welche ihn von ferneren Mordtaten abhielt. Er beschenkte dann auch die übrigen Veziere, Emire und Großen des Reiches und ließ die Stadt auf seine Kosten beleuchten, allerlei öffentliche Spiele und Belustigungen veranstalten und den Armen viele Almosen aus deiner Schatzkammer austeilen. Er herrscht dann auch noch viele Jahre in Glück und Freude, bis ihn der Tod überraschte, mit dem alles Irdische endet. Geprieset sei der, an dem die Zeit nichts ändert, und Friede sei mit seinem Gesandten Mohammed, der Zierde aller Sterblichen!
Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 952.
Informationen zur Entstehung Tausendundeine Nacht
Die Ursprünge der Sammlung lassen sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen, wobei die Geschichten aus verschiedenen Quellen und Kulturen stammen, darunter Indien, Persien, Arabien und Ägypten. Die Erzählungen wurden mündlich überliefert und im Laufe der Zeit niedergeschrieben und erweitert. Ein auf aus dem 9. Jahrhundert datiertes Fragment aus Papier mit der Titelseite ist das früheste erhaltene Zeugnis. Aus Mitte des 12. Jahrhunderts stammt der älteste Nachweis der später geläufigen Namensform, den ein jüdischer Buchverleiher aus Kairo hinterließ. Mit großer Sicherheit stammt das älteste erhalten Manuskript aus dem 15. Jahrhundert.[3] Einigkeit besteht darüber, dass die Essenz von Tausendundeine Nacht auf einem iranischen Original beruht, in das teilweise indische Elemente integriert wurden. Erweitert wurde die Sammlung nach der Übersetzung in das Arabische in zwei Epochen in Bagdad bis 1258 und in Kairo von der Mitte des 13. Bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts erweitert.[4]
Antoine Gallands kreative Übersetzung
Im 18. Jahrhundert machte der französische Orientalist Antoine Galland die Geschichten durch seine Übersetzungen in Europa bekannt, wodurch sie auch im Westen große Popularität erlangten. Galland fügte die ursprünglich eigenständige Geschichte von Sindbad dem Seefahrer in die Sammlung ein. Er stützte sich etwa zur Hälfte seiner Übersetzung auf das älteste erhaltene Manuskript und erweiterte die Sammlung mit Geschichten aus nicht identifizierten Manuskripten und arbeitete zuletzt auch mündlich vorgetragene Märchen ein.[5] Tatsächlich wurden die ursprünglich gar nicht zur Sammlung gehörenden Geschichten von Aladin und Ali Baba und die 40 Räuber und die Geschichte vom fliegenden Ebenholzpferd zum Inbegriff der Sammlung. Man kann die Übertragung also nicht nur als eine reine Übersetzung, sondern auch als kreativen Prozess im Sinne einer Auslese bezeichnen oder auch als ‘Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall’[6] (sehr lesenswert übrigens) mit den Worten des Historikers Wolfgang Esch gesprochen.
Literatur
Die Märchen aus 1001 Nacht. Vollständige Ausgabe. Durchgehend illustriert. Ins Deutsche übertragen von Gustav Weil. Band 1. München 2023
Die Märchen aus 1001 Nacht. Vollständige Ausgabe. Durchgehend illustriert. Ins Deutsche übertragen von Gustav Weil. Band 2. München 2023
Esch, Arnold: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers Zeitalter und Menschenalter. In: Arnold Esch, Der Historiker und die Erfahrung vergangener Zeiten, München 1994, S. 39-69.
Marzolph, Ulrich: Tausendundeine Nacht. In EM 13. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New York 2010, Sp. 288-302
Beispielabbildung Hohepriesterin: https://www.brigitte.de/horoskop/tarot/die-hohepriesterin—deine-tarotkarte-10889030.html
Projekt Gutenberg: https://www.projekt-gutenberg.org/weil/band1/eingang.html
[1] Marzolph, Ulrich: Tausendundeine Nacht. In EM 13. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New York 2010, Sp. 288-302, hier Sp. 288. [2] Aus: Die Märchen aus 1001 Nacht, S. 13. [3] Marzolph, Ulrich: Tausendundeine Nacht. In EM 13. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New York 2010, Sp. 288-302, hier Sp. 289. [4] Ebd., Sp. 289. [5] Ebd., Sp. 290-291. [6] Esch, Arnold: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers Zeitalter und Menschenalter. In: Arnold Esch, Der Historiker und die Erfahrung vergangener Zeiten, München 1994, S. 39-69.
Schreibe einen Kommentar