WIR KOMMEN – Sex, Alter, Begehren – Scham, Schweigen, Tabus

WIR KOMMEN ist ein Kollektivroman. 15 Autor*innen aus mehreren Generationen tauschen sich im Dialog gemeinsam über weibliches Begehren, Sex und Alter aus.

„In einem einzigartigen Experiment verbindet ›WIR KOMMEN‹ die Stimmen von Autor*innen verschiedener Identitäten und Herkünfte zu einem kollektiven Roman.“ Das steht im Klappentext. Es geht also um einen offenen Austausch über Themen, die in der Gesellschaft mehr und weniger, man muss ja schon sagen ‘immer noch’ mit Scham besetzt sind, über die geschwiegen wird, die tabuisiert sind – teilweise auch deswegen, weil sie als normal gelten. Das ist tatsächlich etwas, das mich hinsichtlich bestimmter Themen seit Jahren beschäftigt und nun bekam ich in diesem Dialog Antworten, weil es anderen genauso ergangen ist, genauso geht. Viele der im Roman angesprochenen Aspekte unterliegen Sprachlosigkeit in vielfacher Hinsicht. Einmal ist es gesellschaftlich forcierte Sprachlosigkeit, eine erzwungene Stille, geformtes Schweigen, weil die Dinge als normal betrachtet werden, als gegeben, als immer schon dagewesen – Tradition. Sozialisierung. Anpassung. Diese steht entgegen der persönlichen Sprachlosigkeit derer, die ihre Erfahrungen schwer in Worte fassen können, vielleicht, weil bestimmte Situationen sie traumatisiert zurückgelassen haben, lange Zeit sprachlos machten, bis sie mit ihrer individuellen Sprache immerhin Worte fanden, um einst aus der Erinnerung getilgtes, nicht mehr Fassbares adäquat formulieren zu können. Gerade Literatur ermöglicht Sprechen über Begebenheiten, die der Sprachlosigkeit unterliegen, weil sie durch Worte neue Möglichkeitsräume eröffnet und eine Stimme dort geben kann, wo bislang keine war. Darum lautet auch eine der vielen Fragen, die der Roman stellt:

„Wie von der Gewalt erzählen?“
Aus: WIR KOMMEN. Hg. von LIQUID CENTER. Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf. Köln 2024, S. 156.

Diese Frage taucht mehrfach auch. Von locker-flockig über kalt, warm, heiß, trocken und glitschig, weich und hart und rissig bis noppig, flauschig, rhythmisch, eindringlich, fieberhaft und geil ist alles dabei und noch mehr. Es sind teilweise aber auch keine leicht verdaulichen Themen. Aber eben darum gehen sie jede*n etwas an.

Kollektiv Sichtbarkeit eröffnen und Sprachlosigkeit reduzieren

Die Mitglieder der Gruppe LIQUID CENTER wollen dieser Sprachlosigkeit mit dem Kollektiv-Roman entgegentreten und haben darum 15 Autor*iinnen verschiedenen Alters eingeladen, „sich im Schutz der Anonymität schreiben zusammen mit ihnen über die Ausdrucksformen weiblichen Begehrens auszutauschen. So ist ein einzigartiger Kollektivroman entstanden, der gesellschaftlich verdrängte Facetten weiblicher und queere Sexualität sichtbar macht.“ (WIR KOMMEN, Klappentext)

Ich denke, der Titel darf hinsichtlich seiner offenen Semantik ambivalent verstanden werden. Mir persönlich gefällt das sehr gut.

Autor*innen sind:
Lene Albrecht, Ulrike Draesner, Sirka Elspaß, Erica Fischer, Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl), Olga Grjasnowa, Verena Güntner, Elisabeth R. Hager, Kim de l’Horizon, l.V. Nuss, Maxi Obexer, Yaede Yasemin Önder, Caca Savić, Saine Scholl, Clara Umbach, Julia Wolf und zwei Autor*innen, die anonym bleiben wollen.

Was ist eigentlich ein Kollektiv?

Bevor ich eingehender auf den Inhalt eingehe, will ich zunächst den Begriff Kollektiv eingehender beschreiben. Was ist eigentlich ein Kollektiv? Mir ist klar, dass die Auflistung verschiedener Definitionen zur Begriffsbestimmung ermüdend sein kann, doch ist mir die Schaffung einer Basis wichtig. In den Rahmen der gesellschaftlichen Tabuisierung und diskursiven Sprachlosigkeit gehört die Aufschlüsselung des Begriffs Kollektiv und auch seine Zuordnung zu zugehörigen Begrifflichkeiten.

Fangen wir plan mit dem Duden an, der für das Wort Kollektiv zwei Bedeutungen kennt:
1. a) Gruppe, in der Menschen in einer Gemeinschaft zusammenleben;
1. b) Gruppe, in der Menschen zusammenarbeiten; Team;
2. (in sozialistischen Staaten übliche) von gemeinsamen Zielvorstellungen und Überzeugungen getragene Arbeits- oder Produktionsgemeinschaft.

Und wie lautet eine politische Definition des Begriffs Kollektiv?

„Das Word ‚kollektiv‘ kommt vom lateinischen Wort ‚collectivus‘, das bedeutet „gemeinschaftlich“. Wenn man von einem ‚Kollektiv‘ (Hauptwort) spricht, meint man eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam eine Sache oder eine Überzeugung für sehr wichtig halten. Es kann sein, dass es ihnen allen besonders wichtig ist, gemeinsam für die Umwelt einzustehen oder gemeinsam auf Luxus zu verzichten. Es kann auch sein, dass sie gemeinsam Erfahrungen gemacht haben, die für sie alle bedeutsam sind.“[1]

Darum geht es auch in WIR KOMMEN. Weibliches, Begehren, Alter – das war laut Inhaltshinweis das gesetzte Thema. Es sind Erfahrungen der Autor*innen, die nicht allein individuell gemacht wurden, sondern diese individuellen Erfahrungen werden im Kollektiv geteilt und kommuniziert, dort als ähnlich oder gleich erkannt, sodass ihnen zugestimmt oder widersprochen werden kann, oder neue Eindrücke dem als bekannt erachteten hinzugefügt werden. Es findet eine Bereicherung auf kleinstem kollektivem Raum statt durch ambivalente Stimmen innerhalb eines mehrstimmigen Dialogs. Interessant ist, dass im Dialog gearbeitet wird, reagiert wird auf das zuvor Geschriebene, also auch Unterhaltung stattfindet. Und mit Unterhaltung meine ich das Schreiben an sich sowie Freude am Konsum der Worte. Ich habe es schon erwähnt in einem früheren Beitrag, Worte lösen bei mir auch bestimmte Empfindungen aus, eine Form von Synästhesie. Manchmal schmeckt ein Wort sogar. Oft sind es aber Empfindungen wie hart, weich, eckig, spitz, warm, die dann auch in sympathisch und unsympathisch wandeln. Das geht auch mit Menschen. Jedenfalls können Worte auch Lust entfachen. Da besteht Einigkeit. Mit der Romanform dringen die Stimmen aus dem Kollektiv nun auch in die Gesellschaft und werden rezipiert, wo vielleicht ein ähnlicher Effekt hervorgerufen werden kann wie im verschriftlichten Dialog. Ich halte WIR KOMMEN daher nicht allein für ein Unterhaltungsbuch, obwohl es ein Roman ist, der unterhalten will und zu unterhalten weiß.

Kollektive Aufarbeitung bricht gesellschaftliche Tabuthemen

Weibliches Begehren überhaupt, im Alter erst recht, ist ein Thema, das jede*n irgendwann betrifft, gesellschaftsfähig ist das Thema aber nicht unbedingt. Vielleicht vergisst man in jungen Jahren, dass das Alter irgendwann kommt. Wir altern doch alle! Woher kommt dann das Unverständnis oder der Unglauben für sexuelle Aktivität ab einem bestimmten Alter, wir der Vorstellung an Sexualität im Alter sogar mit Abfälligkeit oder Ekel begegnet? Überhaupt schreiben alle Autor*innen aus dem Romankollektiv hier stellvertretend heraus für die Gemeinschaft, das gesellschaftliche Kollektiv. In diesem sind Erinnerungen tradiert, Motive, Stoffe, Wissen aus dem kulturellen Gedächtnis einer Gemeinschaft, eines Kollektivs, tradiert, die über Individuen einmal erfahren und kommuniziert wurden, mündlich und schriftlich. Es gibt Schnittmengen, Gemeinsamkeiten, in denen sich alle Autor*innen wiedererkennen und über die sie sich austauschen. Viele Leser*innen werden sich gleichfalls angesprochen fühlen, weil über die persönlichen und individuellen Erfahrungen und Ansichten eben auch Analogien und Gemeinsamkeiten vorhanden sind, die kulturelle und soziale Probleme, Tabus, Schweigezonen und blinde Flecken betreffen, Dinge, über die eben nicht gesprochen wird, die so sind, die zum Frausein gehören oder zum Menschsein an sich. Blinde Flecken, auch hervorgerufen durch Traumatisierung betreffen die individuelle Person in ihrem Schmerz, ihrer Ohnmacht, ihrem Leid über die erfahrene Gewalt, über das betäubende Ereignis. Dieser blinde Fleck findet sich auch in der Gesellschaft in der Kommunikation mit anderen, wenn nicht zugehört wird bei dem Versuch die erfahrene Gewalt zu kommunizieren, vielleicht auch um Hilfe zu bitten. Oder es wird weggesehen, nichts unternommen, trotz besseren Wissens, dass etwas getan werden könnte, um jemandem von Gewalt zu schützen. Oder es geht um Kommunikation an sich, sind bereits bestimmte Worte mit Scham belegt, anerzogene Scham, transgenerationale Scham und Ohnmacht, narzisstische Scham. Angst vor Ausgrenzung, Angst vor Ablehnung.

Das Kollektive Unbewusste – unbewusstes im Kollektiv

Der Begriff ‚Kollektiv’ steht auch im Zusammenhang mit der Psychoanalyse, Carl Gustav Jung und dem Unbewussten.

Analytische Psychologie. Von Carl Gustav Jung (1875-1961) begründete Richtung der Tiefenpsychologie. Aus der Psychoanalyse übernahm Jung, der lange Zeit Schüler von Sigmund Freud (1856-1939) war, die Unterscheidung von Bewußtsein und Unbewußtem, die Annahme eines Ichs als vermittelnder Instanz und der Libido als psychische Energiequelle. Im Detail unterscheiden sich die Konzepte jedoch deutlich. Die libidinöse Energie wird nicht als sexuelle Triebregung verstanden, sondern als allgemeine psychische Energie, die bei großer Intensität Willen und Affekt, bei geringerer Intensität Einstellungen und Interessen steuert. Die Psyche wird ein sich selbst regulierendes System beschrieben, wobei seelische Krankheitssymptome als Folge der Blockierung der Energie erklärt werden. Das Unbewußte wird unterteilt in ein persönliches Unbewußtes und ein kollektives Unbewußtes. Während das persönliche Unbewußte, wie auch schon in der psychoanalytischen Theorie beschrieben, vor allem unterdrückte und verdrängte Bewußtseinsinhalte speichert, enthält das kollektive Unbewußte vererbte, arttypische Vorstellungen und Verhaltensmuster, die sog. Archetypen. Dabei handelt es sich um zunächst unanschauliche ursprüngliche ererbte Prozesse und Bereitschaften, die sich unter bestimmten Voraussetzungen zu Bildern, Symbolen, Phantasiegestalten, Mythen, Träumen, Märchen, Sagen oder religiösen Ideen konkretisieren (Vater, Mutter, Hexe, Zauberer u.ä.).“[2]

Schreibprozesse können nicht nur erstaunliche Auswirkungen auf das Unbewusste haben und machtvolle Energien aus der Tiefe an die Oberfläche des Bewusstseins bringen, es werden auch die sogenannten bekannten Archetypen in Schreibprozessen sichtbar kommuniziert.

Die Hexe und der Wald

Und gleich passend zum in der Definition aufgerufenen Symbol der Hexe eine einschlägige Textpassage. Es sind drei kleine Abschnitte in der Diskussion gegen Ende des Kapitels ‘Wald’. In der Literatur kann der Wald viele Bedeutungen haben. Ort des Unbewussten und von Geheimnissen, auch als Ort der Freiheit, Unabhängigkeit und als Rückzugsort dient er. In der Isolation des Waldes kann auch Spiritualität gefunden werden. Ein Wald kann auch majestätisch sein, Erhabenheit zeigen mit seinen Tieren und Pflanzen, der Landschaft, Seen und Bergen, wie es so viele Maler*innen dargestellt haben. Er kann Ort der Wandlung sein, des Wachstums durch Alleinsein. Andererseits kann der Wald auch Ort der Bedrohung sein, ein Ort der Wildheit, an dem auch wilde Tiere leben. Der Wald ist ein Raum, der außerhalb der Gesellschaft liegt und mit seiner Wildheit bedrohlich wirken kann. Tristan und Isolde flüchten mit ihrer ehebrecherischen Liebe in den Wald, wo sie sich zwar frei lieben können, aber doch abgeschottet sind von der höfischen Gesellschaft. Salomo und Vreni aus Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe feiern im Wald eine alternative Hochzeitszeremonie, weil auch sie sich entgegen ihrem gesellschaftlichen Stand lieben. Sie gehen zu den Heimatlosen, die abseits der Gesellschaft in Armut, aber Freiheit leben. Für Kellers Liebende geht es nicht gut aus, sie ertragen den Zustand nicht. Und häufig werden verschiedene Stereotype der Hexe in Märchen aufgerufen. In dem amerikanischen Märchen Der Zauberer von Oz sogar Variationen dieses Stereotyps. Man kennt die Hexe hierzulande aus dem Märchen Hänsel und Gretel, die von der bösen Frau gemästet werden, sodass sie die Kinder anschließend verspeisen kann. In J. K. Rowlings Harry Potter gibt es sogar den Verbotenen Wald, von dem sich Schüler*innen normalerweise fernhalten sollen.

Textpassage 1: Archetyp Hexe, Archetyp Frau in WIR KOMMEN

Jedenfalls kennen wir alle die an die typische Hexe geknüpften Bilder. Schwarze Katze, Spitzhut, Besen, schrilles Lachen. Sie finden sich auch im Dialog in WIR KOMMEN im Wald-Kapitel und fließen unter anderem zusammen mit den Themen Alter, Beruf, Generationskonflikte, Weiblichkeit, Erinnerung, Privatheit, Schreiben, Angst.

„Da ist etwas, das mich in der Natur, im freien Feld, im Wald ängstigt. Vor Kurzem habe ich eine Wette mit mir abgeschlossen. Zum Schreiben wollte ich mich in den Garten zurückziehen. Das Haus ist wie aus Pappe, die Geräusche vielfach verstärkt, die Nächte wirklich dunkel. Ich habe die Wette verloren. Ich habe mich nicht getraut, dort allein zu übernachten. Obwohl ich mich danach sehne. Nach einer inneren Freiheit. Unabhängigkeit. Vielleicht danach, der Angst vor dem Wald etwas entgegenzusetzen.

Ich denke an die Figur der Hexe. Zottelige lange Haare mit silbernen Strähnen. Stoffe über Stoffe, die den Körper einhüllen. Wahlweise starke Marker: Warzen, schiefe Zähne, krumme Rücken, Falten, lange Nasen. Diese Frauen leben immer allein, oft abseits, im tiefen, dunklen Wald. Sie sollen uns das Fürchten lehren, aber je älter ich werde, desto mehr wünsche ich mir, wie sie zu sein.

»Wir sagen nicht mehr Hexe, wir sagen jetzt Heilerin.«
Das habe die Praktikantin in der Redaktion neulich zu ihr gesagt, erzählt mir meine Freundin.
Wir sehen uns einen Moment lang an, dann lachen wir, gackernd und dreckig, wie die alten Hexen, die wir sind.“
WIR KOMMEN S. 27-28.

Ich habe diese Textpassagen gewählt und direkt nach der Definition aus dem Lexikon eingesetzt, weil es Übereinstimmungen bezüglich der Hexensymbolik gibt. In der Definition ist sie ein Beispiel für die im kollektiven Unbewussten weitergegebenen Archetypen. „Während das persönliche Unbewußte, wie auch schon in der psychoanalytischen Theorie beschrieben, vor allem unterdrückte und verdrängte Bewußtseinsinhalte speichert, enthält das kollektive Unbewußte vererbte, arttypische Vorstellungen und Verhaltensmuster, die sog. Archetypen.“[3] Eben dazu gehört die Hexe, wird das im Lexikon als Beispiel genannte Symbol im Dialog in WIR KOMMEN kommunikativ aufgegriffen und mit individuellen Erfahrungen untermalt, bleibt doch aber stets mit dem Urbild verbunden. Das war für mich sehr interessant.

Das persönliche Unbewusste – Verdrängtes durch Schreibprozesse offenlegen

Neben dem kollektiven Unbewussten wird auch das persönliche Unbewusste erwähnt, das verdrängte Inhalte speichert. Einige verdrängte Gedächtnisinhalte sind so traumatisch gewesen, dass sie nicht ins Bewusstsein gelangen, weil die Erinnerung und die damit anklingenden Erfahrungen und Wahrnehmungen zu schmerzhaft sind. Doch Schreibprozesse können Unbewusstes aus den Tiefen der Erinnerung hervorholen und schriftlich fixieren. Man könnte ein Trauma und die es flankierenden Gedächtnislücken auch als Schutz bezeichnen. „Ein Trauma (griech.: Wunde) ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine ‚seelische Verletzung’ verstehen.“[4] Formen von Gewalt, physisch oder psychisch können Traumata auslösen, Unfälle, Krieg, das Miterleben von Gewalt, Ohnmacht, Tod und mehr gehören dazu. Im Lexikon der Wissenschaft auf spektrum.de steht: „Wir wissen heute, daß nicht ‚Angst‘ oder ‚Streß‘ die traumatische Wirkung hervorrufen, sondern das Erlebnis von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe an bedrohliche Umwelteinflüsse. So ist Trauma das subjektiv unfaßbare Geschehen, das unser Selbst- und Weltverständnis dauerhaft erschüttern kann.“[5] Die menschliche Psyche wird durch ein Trauma nachhaltig erschüttert, man könnte auch sagen, die erfahrene Gewalt hallt nach – sie bleibt im Körper gespeichert. Dies manchmal über die Generationsgrenzen hinweg. Auch können Erinnerungslücken entstehen, das Gedächtnis leidet, die Erinnerungen kommen erst nach und nach bruchstückhaft zurück, vielleicht sogar erst mit einer konsequenten Aufarbeitung oder auch nie. Tatsächlich werden erfahrene sexuelle Übergriffe im Buch mehrfach erwähnt. Dabei ist die Grauzone mit Blick auf sexuelle Übergriffe breit gestreut.

Wer bestimmt eigentlich, wann ein Übergriff ein Übergriff ist und wie erzählt man wem davon?

Vom unbewussten Schreiben persönlicher Erfahrungen in WIR KOMMEN

Ich hatte schon von Hamlets Mausefalle aus Shakespeares gleichnamigem Stück erzählt und zwar in Mein Freund Pax von Sara Pennypacker. Hamlet will den Mörder seines Vaters (König Claudius, der seine Mutter geheiratet hat) enttarnen, indem er ihm eine Reaktion entlockt. Er engagiert ein Theaterensemble und lässt die Schauspieler die Mordszene nachspielen. Es funktioniert, denn König Claudius sieht sich das Stück an und bekommt durch die ihm direkt vorgeführte Handlung in der Tat ein schlechtes Gewissen. „O meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel.“[6] Es handelt sich um ein Spiel im Spiel, ein Spiel mit den Ebenen, die Fiktion dringt in die Realität, die für Hamlet selbst real ist, für uns Leser*innen beim Sehen des Stücks oder aber beim Lesen ist es allerdings auch nur Fiktion. Das ist aber der Beweis dafür, dass Lesen oder das Ansehen eines Dramas etwas in uns auslösen kann – nicht nur in den Figuren. Das können Gewissensbisse sein wie bei König Claudius. Es können Erinnerungen sein wie bei der Figur Vala aus Mein Freund Pax, der Peter, der Protagonist, mit seinen Marionetten Szenen ihres Lebens vorspielt und die daraufhin von Emotionen ergriffen wird und zur Erkenntnis gezwungen wird. Wenn Autoren ihre Werke aufgrund erlebter Traumata aus dem Unbewussten heraus zunächst unerkannt verfassen, dann tritt hier auch eine spezifische Form der Selbstreferentialität zu Tage, die manchmal vielleicht gar nicht von den Verfasser*innen als eigenes Erleben erkannt wird, sondern erst durch das Verschriftlichen und Vor-Augen-führen-lassen durch andere.

Textpassagen 2: Inszenieren des Erlebten, Offenlegung der Wunde

In WIR KOMMEN erlebt eine der Autor*innen Ähnliches.

„Ich habe ein Theaterstück geschrieben. Darin kommt eine Vergewaltigungsszene vor, die aber nur angedeutet wird. Als ich das Stück Monate später auf der Generalprobe sah, überkam mich plötzlich ein Schauer, eine Gänsehaut, ich bin erfroren und zerschmolzen zugleich, habe gezittert und keine Luft mehr bekommen. Denn erst als ich die Schauspieler*innen diese Szene spielen sah, fiel mir plötzlich die Vergewaltigung ein, die ich selbst mit 15 erlebt hatte. 17 Jahre lang war diese Erinnerung in den Untiefen meines Bewusstseins verschüttet, und ich musste es nicht nur erst aufschreiben, um mich daran zu erinnern, sondern auch noch inszeniert sehen, bis es dieses Trauma endlich in mein Bewusstsein geschafft hat.
[…]
Ich hatte Angst vor der Premiere, weil ich fürchtete, dass dann alle wissen würde, was mir passiert ist. Ich habe mich so geschämt. Das war nicht lange, bevor die MeToo-Welle endlich durch unsere Realität schwappte.“
WIR KOMMEN, S. 119-120.

Und leider scheint diese Art der gewaltvollen Erfahrung kein Einzelfall zu sein.

„[…] es tut so leid von dem verlorenen meer von der verlorenen sicherheit der verlorenen unbefangenheit dem verlorenen einfachlebenbewegendürfen zu lesen und dabei
(immer wieder) dieses nichtdenken durch andere, das nicht-wehren, dieses victim blaming und die implizite
                        vermissung (entmüdingung) durch allpräsente
                                   hypersexualisierte oberflächen
                                               zu denen man dann als ALSO selbst zählt
[…]
     gestern erzählte mir eine junge frau von einer vergewaltigung
als sie
17 war und dann noch länger weiter mit sexuellen übergriffen
durch dieselbe-person aus ihrem nahfeld
            (griffe-feld, gifte-feld) und ihre mutter sah es duldete es“
WIR KOMMEN, S. 118.

Und warum erzählt man es nicht?

Wie kann es sein, dass Opfer nach der Tat einfach weitermachen und nicht sofort zur Polizei gehen, nichts melden, niemanden anrufen?

„[…] ich darauf: na ja, weil man nicht wahrhaben will, was passiert ist, weil man sich selbst darüber hinwegtäuschen will, die scham, die demütigung, die troubles, die man jetzt verursachen muss, in dem man zugibt, sowas sei einem geschehen. Ich verweise darauf, dass ich das selbst so erlebt habe. sie sitzt vor mir mit geöffnetem mund, sagt: und das erzählst du mir jetzt beiläufig, als wäre es das normalste der welt? […] Doch wie erzählt man es richtig?

als wäre es das Normalste der Welt. Das ist es: das Normalste der Welt. Es gehört zu einem Frauenleben wie Abtreibung, Schwangerschaft, sexuelle Anzüglichkeiten, »zufällige« Berührungen, abfällige Bemerkungen. Angst. Scham.

[…].“
WIR KOMMEN, S. 121-122.

Es gibt viele Gründe, nichts zu erzählen. Angst. Scham. Ja. Ohnmacht. Es gibt auf Netflix die Miniserie Unbelievable, die auf der pulitzerpreisgekrönten Reportage von T. Christian Miller und Ken Armstrong über Marie Adler[7] basiert. Marie meldete ihre Vergewaltigung, doch niemand glaubte ihr. In Befragungen wurde ihr so zugesetzt, dass sie letztlich aussagte, sie habe sich die Vergewaltigung ausgedacht, sodass sie wegen Falschaussage angeklagt wurde. Es ist ein Paradebeispiel für die Macht und Willkür des Systems, aber auch dafür, dass es Menschen gibt, die sich für andere einsetzen und nicht lockerlassen, bis die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Die Reportage ist lesenswert, die Serie sehenswert.

Wie geht es nach so einem Missbrauch überhaupt weiter? Gibt es nicht auch Wut? Wie geht man mit Wut um, wenn man aus der Ohnmacht kommt? Wieso missbrauchen Frauen andere Frauen? Warum gibt es keine Solidarität? Lassen sich alle negativen Erfahrungen produktiv umwandeln? Welche Rolle spielt Schreiben in diesem Prozess der Aufarbeitung?

Schreiben als Bewältigungsstrategie – nicht nur in WIR KOMMEN

Erwähnt hatte ich es schon: Ich glaube, dass Schreiben auch ein Racheakt sein kann. Insbesondere Persiflagen, Satiren aber auch metafiktionale Romane und andere Formen eignen sich, eigentlich jede Kunstform. Auch das Autor*innen-Kollektiv fragt nach dem Umgang mit dem Erinnerten, dem Umgang mit dem Missbrauch.

„Inwiefern könnte es produktiv sein, weibliche Rache zu imaginieren? Könnte ein Text, in dem ich zu meinen Vergewaltigern zurückkehre, sie quäle und peinige, ermächtigend sein und mich darauf vorbereiten, mich beim nächsten Mal zu wehren? Könnte er meine Kinder schützen?

Rape – revenge -repeat

[…]

Ich habe noch nie rache genommen, ohne mir dabei selbst zu schaden.
Geht das überhaupt?
Wie geht rache richtig?
Ich bin eine frau und denke darüber nach, rache an den frauen zu nehmen, die mich physisch oder psychisch missbraucht haben.
In meinen träumen leiden sie dann genau wie ich.“
WIR KOMMEN, S. 124

Der Mythos von der sich rächenden Frau

Interessant ist, dass hier Frauen schreiben. Keine Figuren, die sich in fiktionalen Dialogen in von männlichen Autoren verfassten Werken äußern. Weil mir beim Lesen die Frage durch den Kopf schoss: Sind weibliche Rachegelüste Männerfantasien? Das fängt ja schon beim deutschen Nibelungenlied an mit Kriemhild und Brünhild und der strukturellen Gewalt der mittelalterlichen Gesellschaft, der sie sich fügen müssen, zumindest im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Ein Blick auf die Rezeption und den Umgang mit den Protagonistinnen ist diesbezüglich lohnenswert, etwa bei Albert Ostermaiers Triptyphon zum Nibelungenlied. Und was ist mit Quentin Tarantinos Kill Bill (2003 und 2004)? Die beiden Filme haben Kultstatus, die verratene ‘Braut’ begibt sich mit einer Strichliste auf den Pfad der Rache, weil man ihr das Kind genommen hat. Mit Death Proof (2007) erweiterte Tarantino dann die Thematik. Stuntman Mike tötet Frauen mit seinem Auto und lässt es dabei wie einen Unfall aussehen, bis er sich mit einer Gruppe junger Frauen anlegt, die zurückschlagen. Auch in dem Film Peppermint (2018) nimmt eine Frau Rache an den Mördern ihrer Familie. Es wird viel mehr mediale Inszenierungen geben, in denen Rache durch Frauen thematisiert wird.

Weibliche Rachefantasien gibt es also und sie richten sich auch von Frauen gegen Frauen, wurden von Frauen geschaffen. Doch ein Thema will dargestellt werden – die Art und Weise der Inszenierung von Frauen und ihrer Rache ist bedeutungsvoll. Und auch um die Darstellung der von Uma Thurman gespielten Braut in Tarantinos Film gab es Diskussionen zur Inszenierung, frauenfeindlich, ja oder nein?[8]

Kollektiv soziologisch – solidarisch

Zuletzt mag vielleicht noch eine Definition aus einem Sozialpsychologielexikon interessant sein. Denn immerhin liegt dem Roman eine spezifische Intention zugrunde, die ich eingangs genannt habe. Es soll schließlich Sprachlosigkeit hinsichtlich bestimmter Themen beendet werden.

„Kollektives Handeln zielt auf ein gebündeltes Handeln von sozialen Akteuren, die aufgrund identischer Interessen oder aus Gründen der -> Solidarität ein gemeinsam geteiltes Ziel verfolgen. Soziologen (z.B. OLSON, SMELSER oder COLEMAN) betonen insbesondere das Problem der Koordination individueller Akteure (-* Kooperation). Vielfach wird auch von sozialen Bewegungen gesprochen (organisierte -* Revolution, Bürgerinitiativen, Streiks).“[9]

Nun gut, von einer Revolution zu sprechen, ist in diesem Fall abwegig. Aber ein solidarisches Handeln kann ich in den Dialogen erkennen und auch einen Wunsch nach Solidarität über Generationsgrenzen hinweg, über Grenzen der Sprachlosigkeit hinweg, eine Solidarität, die ein Aufbrechen der gesellschaftlichen Tradition des Schweigens und des scheinbar Normativen bringen sollen und einladen zum solidarischen Mitdiskutieren und darüber hinaus zum Leben neuer Werte und einer offenen Einstellung gegenüber dem bislang Fremden. Denn es gibt viele Themen, die in der Gesellschaft mit Schweigen, Scham und scheinbarer Normalität belegt sind und die als fremd, als anders, als nicht der Norm entsprechend ausgegrenzt werden.

Gesellschaftliches Schweigen und Tabuthemen

WIR KOMMEN greift viele dieser Themen auf, die mit Scham belegt sind, mit Ohnmacht, auch mit Wut, mit Trauer, mit Fassungslosigkeit, vielleicht auch mit Schuld. Das Lesen ist nicht ohne. Wer getriggert wird, weiß aber, dass es da möglicherweise noch die ein oder andere Baustelle in psychohygienischer Sicht abzuarbeiten gibt. Schon die Kapitelüberschriften machen ob der gewählten Begriffe keinen Hehl um das thematische Spektrum: Enteignung, Da unten, Schlimme Finger, Beate Uhse, What’s Your Kink? Rummachen, Laut sein, Formen des Zugriffs, Körper gegen Geld – das sind einige der Kapitelschlagworte, die schon mit ihren inhärenten Konnotationen inhaltlich tief ins Kapiteldekolleté blicken lassen. Und es geht, wie erwähnt, eben nicht nur um Unterhaltung. Es handelt sich um tiefgehende Gespräche, um innerste Gedanken, die ihren Weg in dieses Buch gefunden haben. Die innigsten Erfahrungen offenzulegen, auch und gerade schambehaftete Erfahrungen auf diese Weise im Kollektiv zu teilen, das ist mutig und erfordert einen klaren Blick auf das Selbst. Denn es handelt sich teilweise um Erfahrungen, die nicht nur für die Schreibenden schrecklich und sogar traumatisch waren, sichtbar wird auch der Umgang der Gesellschaft und von bestimmten Personengruppen mit Personen, die solche Erfahrungen erleben mussten.

Dies macht dieses Werk meines Erachtens nach so wichtig. Nicht nur wird hier Individuelles geteilt, sondern das individuell im Kollektiv geteilte geht uns alle etwas an. Das Individuelle gehört zur Gemeinschaft, es gehört zum Kollektiv! Doch aus irgendeinem Grund gibt es immer noch Dinge, die nicht gedacht, gesagt, getan werden dürfen. Und darum herrscht betretenes Schweigen. Immer noch.

Textpassage 3: Allmacht der Männer und Kapitalismus?

„Ich erinnere mich an eine Szene in dem »Skandalfilm« Der letzte Tango in Paris aus den 1970er-Jahren, in der Marlon Brando, fast fünfzig, die neunzehnjähriger Maria Schneider von hinten versucht zu penetrieren und ihr davor Butter an den Anus schmiert. Lange Zeit später kommt heraus, dass die junge Schauspielerin nicht eingeweiht war, es sich also um eine Vergewaltigung vor der Kamera gehandelt hatte. Bertolucci, der Regisseur, bereute es vierzig Jahre danach war nicht (immerhin hatte gerade diese Szene seinen Film berühmt gemacht), aber er hatte ein schlechtes Gewissen. Sagte er. Ich stelle sie mir vor, die beiden Machos beim Frühstück, wie sie beim Anblick eines Baguettes den genialen Einfall mit der Butter haben. Sie lachen. Bertulocci wollte Maria Schneiders Reaktion lebensecht »als Mädchen, nicht als Schauspielerin« einfangen. [Hier ein Artikel aus dem Spiegel verlinkt]

[…]

Wikipedia schreibt: Für ihre Rolle [in »Der letzte Tango in Paris«] bekam sie [Maria Schneider] 2.500 Dollar, einen Bruchteil von der Gage von Marlon Brando, der 250.000 Dollar zuzüglich 10 Prozent Gewinnbeteiligung erhielt.

Pay Gap
Orgasm Gap
Masturbation Gap
Gap Gap Gap Gap Gap
WIR KOMMEN, S. 114-115.

Es ist ein Teil nicht nur der Konsumgesellschaft, des Kapitalismus, der immer noch vorherrschenden männlichen Herrschaft in den Medien und eigentlich schon noch überall, es ist auch ein Teilproblem des Systems. Denn strukturelle Gewalt gegen Frauen ist mehr oder weniger latent im gesellschaftlichen Gefüge der sozialisierten Welt nach wie vor präsent. In aufgespritzten Lippen, den kurzen Röcken, die Sekretärinnen immer noch als Arbeitskleidung tragen müssen, kurzen Haaren von Akademikerinnen, männlichen Kollegen, die sich breitbeinig den Schritt präsentierend vor der Kollegin auf den Schreibtisch setzen und von oben auf sie herabblicken, während sie ihr erklären, warum sie lieber die rote Bluse, statt der schwarzen hätte anziehen sollen, in den Medien, in Unternehmen, in Kirchengemeinden, beim Sportunterricht, Krankenhäusern, Vereinen – überall. Aber es gibt überall Ausnahmen. Es gibt überall immer mindestens zwei Sichtweisen. Meist sind es mehr. Und sicher gibt es auch die Kehrseite. Darum lassen Vorgesetzte oder männliche Chefs und Kollegen die Tür bei Besprechungen geöffnet. Vor allem diejenigen, die bereits Übergriffe der anderen Art erlebt haben, gehen auf Nummer sicher. Die Absicherung der Öffentlichkeit. Strukturelle Gewalt hin oder her, mögen Frauen vielfach Gewalt in vielerlei Formen unterliegen, es geht auch andersherum. Das ist eine andere Perspektive, die ich hier einfach mit einbringen will.

Textpassage 4: Körperscham – anerzogen und angezogen?

„Ich schäme mich für meinen Körper, den ich schon in jungen Jahren oft austauschen wollte.
Immer im Sommer am Strand. So möchte ich aussehen, rief ich, wenn eine perfekt gerundete, schlanke Frau auf langen Beinen am Wasser entlangging. Wenn du tauschen willst, hat mein Mann gesagt, musst du mit allem tauschen, Busen, Beruf, Beine, Verstand, Gesicht, Mann, Kinder. Dann wurde ich kleinlaut.“
WIR KOMMEN, S. 50-51.

Jedenfalls ist der Körperkult Teil einer Beurteilungsmaschine, wie auch ein Kapitel in WIR KOMMEN heißt. Aber am schlechtesten beurteilen wir neben anderen wohl uns selbst, obwohl die Beurteilungen von anderen immer auf deren eigene Unsicherheiten in Bezug auf die eigene Identität und Individualisierung und blinde Flecke, mit Ekel und Scham besetzte Generationskonflikte verweisen.

Körper – Scham – Projektionen

„Was für eine krasse Projektionsfläche ein Körper sein kann.“
WIR KOMMEN, S. 57

Als Komplimente getarnte Bemerkungen oder zufällige Berührungen durch einen Arzt bei einer entblößten Untersuchung, Vergleich des Vaters über den Körper jugendlicher Freundinnen, Busenwitze und anzügliche Bemerkungen, das typische Hinterhergepfeife, Kommentare über die weibliche Menstruation, von der Männer mal so ungefähr gar keine Ahnung haben bis hin zu handfesten Übergriffen, dem Wegsehen, dem im Stichgelassenwerden von Menschen, die es hätten besser wissen müssen und dem lapidaren, das hast du dir eingebildet oder das gehört zum Frausein dazu – alles wird angesprochen.

„Auch schwule Männer können Männer sein, denen ein heteronormativer Blick auf Frauen eingeschrieben ist. Seine Frage [Anm.: Gefragt wurde, ob auch Lesben menstruieren] offenbart eine komplett männlich zentrierte Sicht auf die Bedeutung des »Frauseins«. Eine Frau zu sein, ist demnach allein auf das männliche Begehren ausgerichtet. Nach dieser Logik sind Frauen, die begehren, keine Frau, sie sind inexistent.

wie kann man das rückgängig machen wie vergessen? oft habe ich das gefühl, mein körper ist deformiert von diesen blicken, sprüchen, urteilen.“
WIR KOMMEN S. 62.

Schlusswort zu WIR KOMMEN

In Bezug auf den Umgang mit Scham möchte ich eine ein Zitat von einer der Herausgeberinnen, Julia Wolf, aus einer Sendung Kultur aktuell des SWR 2 vom 13. März 2023 zur Scham und Reflexionsmöglichkeit zitieren:

„Scham wirft uns immer auf uns selbst zurück“, sagt Julia Wolf. „Wenn wir sie überwinden, können wir ganz anders in den Austausch mit Menschen treten und unsere Kräfte bündeln – als Frauen, als weiblich gelesene Personen, um Strukturen zu überwinden.“[10] 

Da Schamgefühle die eigene Person betreffen und das Gefühl der Ohnmacht, des Ekels die eigene Person betreffend schon früh in der Kindheit oder möglicherweise noch in früheren Generationen gelegt wurde, ist gerade die im Zitat angesprochene Auseinandersetzung und Erkenntnis in Bezug auf die eigenen Schamgefühle wichtig. Über Scham im kolonialen und autofiktionalen Kontext schreibt Lene Albrecht in Weiße Flecken beispielsweise sehr eindringlich. Indem Gefühle der Scham und andere Emotionen offen in einem Dialog kommuniziert werden, können mehr Menschen erreicht werden und sich erkennen, werden Potentiale zum Aufbrechen und Ausbrechen von Scham und Ohnmacht zur Verfügung gestellt. Eben dies macht den Kollektiv-Roman so wertvoll und führt aus der Sprachlosigkeit in den Austausch.

Verwendete Literatur

Analytische Psychologie. In: Psychologie-Lexikon. Hg. von Uwe Tewes und Klaus Wildgrube. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. München/Wien 1999.

Armstrong, Ken; Miller, T. Christian: An unbelievable Story of Rape, 12. März 2009, online auf The Marshall Project https://www.propublica.org/article/false-rape-accusations-an-unbelievable-story (zuletzt aufgerufen am 10.07.2024).

Deutsche Traumastiftung: Was ist ein Trauma. Online unter: https://www.deutsche-traumastiftung.de/trauma/ (zuletzt abgerufen am 13.07.2024).

Fischer, Gottfried: Trauma, psychisches. In: Lexikon der Psychologie. Online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/trauma-psychisches/15725 (zuletzt abgerufen am 13.07.2024).

Harthauer, Kristine: Kollektivroman „Wir kommen” – 18 Autor*innen schreiben anonym über Lust und Alter. Anonym und gemeinsam verfasste Texte, online bei SWR Kultur, Sendung vom 13. März 2024, zu finden unter: https://www.swr.de/swrkultur/literatur/kollektivroman-wir-kommen-18-autorinnen-ueber-lust-und-alter-100.html (zuletzt aufgerufen am 13.07.2024).

Kollektiv. In: Der Duden. Online unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Kollektiv (zuletzt aufgerufen am 13.07.2024).

Kollektives Handeln. In: Sozialpsychologie. Hg. von Günter Wiswede. München/Wien 2004.

Schneider, Gerd / Toyka-Seid, Christiane: Das junge Politik-Lexikon von www.hanisauland.de, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2024, online unter: https://www.hanisauland.de/wissen/lexikon/grosses-lexikon/k/kollektiv.html (zuletzt abgerufen am 08.07.2024).

Shakespeare, William: Hamlet, Prinz von Dänemark. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel. In: William Shakespeare. Dramen. Nach der Schlegel-Tieck-Ausgabe letzter Hand herausgegeben von Dietrich Klose. Nachwort von Peter von Matt. Stuttgart 2024.

WIR KOMMEN. Hg. von LIQUID CENTER. Verena Güntner, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf. Köln 2024.


[1] Gerd Schneider / Christiane Toyka-Seid: Das junge Politik-Lexikon von www.hanisauland.de, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2024, online unter: https://www.hanisauland.de/wissen/lexikon/grosses-lexikon/k/kollektiv.html (zuletzt abgerufen am 08.07.2024). [2] Analytische Psychologie. In: Psychologie-Lexikon. Hg. von Uwe Tewes und Klaus Wildgrube. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. München/Wien 1999, S. 27. [3] Ebd. [4] Deutsche Traumastiftung: Was ist ein Trauma. Online unter: https://www.deutsche-traumastiftung.de/trauma/ (zuletzt abgerufen am 13.07.2024). [5] Fischer, Gottfried: Trauma, psychisches. In: Lexikon der Psychologie. Online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/trauma-psychisches/15725 (zuletzt abgerufen am 13.07.2024). [6] Shakespeare, William: Hamlet, Prinz von Dänemark. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel. In: William Shakespeare. Dramen. Nach der Schlegel-Tieck-Ausgabe letzter Hand herausgegeben von Dietrich Klose. Nachwort von Peter von Matt. Stuttgart 2024, Dritter Akt, Dritte Szene, S. 52. [7] Armstrong, Ken; Miller, T. Christian: An unbelievable Story of Rape, 12. März 2009, online auf The Marshall Project https://www.propublica.org/article/false-rape-accusations-an-unbelievable-story (zuletzt aufgerufen am 10.07.2024). [8] Unter anderem hier: https://www.n-tv.de/leute/Uma-Thurman-zeigt-Horrorcrash-bei-Kill-Bill-article20271551.html und hier: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/tarantino-und-uma-thurman-einvernehmlich-angespuckt-15435352.html. [9] Kollektives Handeln. In: Sozialpsychologie. Hg. von Günter Wiswede. München/Wien 2004, S. 296. [10] Harthauer, Kristine: Kollektivroman „Wir kommen” – 18 Autor*innen schreiben anonym über Lust und Alter. Anonym und gemeinsam verfasste Texte, online bei SWR Kultur, Sendung vom 13. März 2024, zu finden unter: https://www.swr.de/swrkultur/literatur/kollektivroman-wir-kommen-18-autorinnen-ueber-lust-und-alter-100.html (zuletzt aufgerufen am 13.07.2024).

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