Zuletzt bearbeitet am 14. September 2025
Zwischen Ich und Kunst: Eine Analyse literarischer Mechanismen des Ausweichens im selbstreflexiven Roman
Der Ich-Erzähler in Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule hat den Erfurter Amoklauf von 2002 im Alter von elf Jahren miterlebt – nach 20 Jahren verschreibt er das Geschehen, befragt seine Erinnerungen, seziert mögliche Warums, setzt sich mit haftengebliebenen Eindrücken und seinen versprengten Wahrnehmungen auseinander, rührt viele Töpfe um und sucht nach Frieden.
Mich interessiert am Werk besonders der Einsatz der (metareflexiven) rhetorischen Figuren und literarischen Tropen im Zusammenhang mit der Dialektik von Sagen und Nicht-sagen-können sowie der damit einhergehenden Ambivalenz.
Worum geht es in Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule?
Kaleb Erdmanns Roman Die Ausweichschule verbindet Erzählen mit der Reflexion über Erinnerung, Kunst und den stilistischen Möglichkeiten sowie Grenzen von Literatur. Ausgangspunkt ist der Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt im Jahr 2002, den der Erzähler als Elfjähriger aus der Nähe erlebte. Jahre später drängt sich dieses Ereignis erneut ins Bewusstsein und wird zum Auslöser eines literarischen Projekts, das nicht linear berichtet, sondern tastend, fragmentarisch und bewusst unsicher den Versuch unternimmt, dem Unsagbaren sprachlich näherzukommen. Dabei geht es weniger um eine Rekonstruktion des Geschehens als um die Frage, wie sich Erinnerungen formen, verschieben und neu erzählen lassen – und welche Verantwortung das Schreiben über eine Katastrophe und seine künstliche Transformation mit sich bringt.
Der Titel Die Ausweichschule verweist auf die reale Ausweichschule, in die die Kinder damals gebracht wurden, und zugleich auf die Literatur als einen Reflexionsraum, der Umwege erlaubt und Verarbeitung möglich macht. Erdmanns Stil bleibt nüchtern, reflektiert und zugleich von einer leisen Emotionalität getragen; er verweigert die Sensation und setzt stattdessen auf Nachdenklichkeit. So wird der Roman zu einem vielschichtigen Text über die Zerbrechlichkeit von Erinnerung, die ethische Dimension des Erzählens und den Versuch, das Grauen in Worte zu fassen, ohne es zu banalisieren.
Mit Sprache Unsagbares erfahrbar machen
Die Ausweichschule wird getragen durch eine poetische Sprache, die durch ihre Indirektheit zur Darstellung schwer fassbarer Erfahrungen wird. Was sich dem direkten Ausdruck entzieht, sucht sich andere Wege der Artikulation – über Umwege, Verschlüsselungen und Verdichtungen. Mich hat beim Lesen besonders die Verwendung literarischer Stilmittel wie beispielsweise die Metapher als rhetorische Figur fasziniert. Sie fungiert neben anderen nicht als Verschleierungstaktik, sondern als notwendige Übersetzungsleistung: Literarische Stilmittel schaffen einen sprachlichen Reflexionsraum, in dem das Unaussprechliche Form annehmen kann, ohne seine Dignität zu verlieren.
Doch diese literarische Übersetzungsleistung birgt auch Gefahren der Ästhetisierung, mit denen selbst der Ich-Erzähler hadert. Die Verwendung von rhetorischen Figuren als stilistische Instrumente im kreativen Prozess des Schreibens sind insofern ambivalent zu betrachten, sollte ihre Funktion und Darstellung im Kontext hinterfragt werden, je nachdem welche Perspektive eingenommen wird. Eben dies möchte in an einigen Beispielen aus Die Ausweichschule veranschaulichen.
Literaturwissenschaftliche Interpretation – Verwechslungsgefahr nicht ausgeschlossen
Die Geisteswissenschaften sind ein offenes Feld für Interpretationen, die nicht konkret belegbar oder messbar sind wie in den Naturwissenschaften. Aus diesem Grund möchte ich an dieser Stelle betonen, dass auch meine folgenden Interpretationen – selbst, wenn ihnen präzise Definitionen zugrunde liegen – immer noch subjektiv zu betrachten sind und nur bedingt und keinesfalls uneingeschränkt Gültigkeit beanspruchen können. Richtig und falsch sind in der Literaturwissenschaft Kategorien, die wankelmütig sind und oftmals von persönlichen Meinungen, ja sogar von politischen Gegebenheiten abhängen können.
Ich möchte ein passendes Beispiel aus Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule anbringen, das direkt am Anfang steht und das ich als literarisches Exempel für die angesprochene Problematik nutzen will, um die „Ästhetisierende Gefahr der Verwechslung“ direkt am Text deutlich zu machen.
Das Nutria, das kein Biber und keine Katze ist und das nicht alle Menschen kennen
Ein Nutria schält sich aus dem Fluss.
[…]
Das Nutria erhebt sich auf die Hinterbeine und streckt eine seiner Pfoten aus. Ich gebe ihm ein Stück Brot. Das Nutria nimmt das Brot und streckt die andere Pfote aus.
Nee, eins reicht, sage ich, gebe ihm dann aber doch noch ein zweites Stück, das letzte. Das Nutria steht nun etwas unschlüssig da, in jeder Pfote ein Stück Brot, und sein Blick schweift ab.
Als ich an dieser Brücke das erste al ein Nutria gesehen habe, war ich richtig ehrfürchtig. Langsam bin ich in die Knie gegangen und habe seinen Fellrücken im Wasser beobachtet. Ein Biber, mitten in Frankfurt, dachte ich, unmöglich. Neben dem Brückeneingang sind diese Stufen, man kann runter an den Fluss. Das Nutria kam aus dem Wasser direkt auf mich zu und hat sich vor mich hingestellt. Es hatte statt dieses breiten Paddels einen Rattenschwanz es war also sofort klar: kein Biber. Mehr wusste ich damals nicht. Trotzdem ein magischer Moment. […]
Ein Kind hüpft neben uns die Betonstufen hinunter. […]
Das Nutria und das Kind blicken sich an.
Katze, sagt es.
Na ja sage ich.
Das Kind streckt die Hand mit dem Batzen dem Nutria entgegen. Das Nutria scheint kein Interesse daran zu haben. Es wendet sich ab, lässt sich ins Wasser gleiten und schwimmt davon, die Schnauze knapp über der Oberfläche.
Katze, sagt das Kind noch mal.
Ja, sage ich. (Kaleb Erdmann: Die Ausweichschule. Berlin 2025, S. 8-10)
Überinterpretation und Verwechslungsgefahr
Die Verwechslung des Bibers steht meiner Ansicht nach sinnbildlich für die Verwechslung oder Überinterpretation von diversen Aspekten in literarischen Werken. Ich denke, das Nutria-Beispiel zeigt diese Thematik sehr gut, weil der Ich-Erzähler seine eigene Missdeutung erwähnt und auch ein Kind heranzieht, dass den Biber als Tier nicht erkennt und aus seiner eigenen Begrenztheit eine Katze deutet.
Zunächst einmal ist klar: Jemand der von außen auf einen Text schaut, kann nie wissen, warum Verfasser:innen etwas ebenso formuliert haben. Insofern können sämtliche literaturwissenschaftliche Theorien, Konzepte oder Methoden nur als Schablone über Texte gelegt werden, um bestimmte Aspekte konkreter zu beleuchten. Dieses Vorgehen ermöglicht Diskussionen und generiert begrenzt Erkenntnisse, die durch kommunikativen Austausch zustande kommen. Aber niemals wird es möglich sein, eine vermeintliche „Wahrheit“ hinter dem Text greifbar zu machen oder eine Motivation vor dem geschriebenen Wort konkret deuten zu können.
Menschen schlussfolgern – oftmals vorschnell – und auch ich kann mich davon bei meinen Analysen nicht freisprechen. Gerade aus dem Grund erwähne ich es hier explizit, auch deswegen, weil ich die komplexe Diskussion über diese Thematik so deutlich in Die Ausweichschule erkennen kann. Aber selbst das muss nicht stimmen, denn möglicherweise erkenne ich etwas im Text, das zwar da ist, aber vom Autor ursprünglich gar nicht angedacht war. Nun aber zurück zum eigentlichen Thema dieses Beitrags.
Sinnstiftende Metapher in Die Ausweichschule
Das Erlebnis mit dem Nutria ist eingebettet ihn eine Metapher, mit der der Ich-Erzähler den Roman einläutet und die ich als Basis für das Folgende verstehe. Sie ist in mehrfacher Hinsicht sinnstiftend für den Roman, für den Schreibprozess, für das Imaginieren, das Erinnern, das Feilschen um Worte, die Wahrnehmungen, Träume und auftauchenden Emotionen.
Eine gute Metapher für alte Erinnerungen, also, ich meine potenziell schmerzhafte Erinnerungen, die man vielleicht auch ein Stück weit verdrängt hat, ja?
Ja, sagt Hatice.
Wenn man sich mit solchen vergrabenen Erinnerungen beschäftigt, dann ist ein Aufguss eine schöne Metapher. […]
Wie in der Sauna?, fragt sie dann.
Nein, nicht wie in der Sauna, sage ich. Eher so in Richtung Tee. Man hat dieses ganze Zeug, dieses vertrocknete Zeug, verschrumpelt, tot, okay?
Okay.
Das liegt unten auf dem Boden, und man schüttet jetzt das heiße Wasser drauf, und plötzlich kommt was in Gang. Alles bekommt wieder Farbe und Geruch und Geschmack. […] Die Metapher greift aber irgendwie nicht so richtig, weil ein Aufguss ja schon was mit Genuss zu tun hat. […]
Tee trinken hat ja etwas Masochistisches, das dachte ich schon immer, sage ich. Dieses brühend heiße Wasser, man schüttet diese brühend heiße Wasser in sich rein, es muss gerade so heiß sein, dass es den Mund nicht verletzt, aber Schmerz ist ganz klar Teil des Rituals, den Schmerz auszuhalten, das ist ein zentraler Teil der Tee-Erfahrung. […]
Ich hab das mit dem Aufguss-Bild mal ausprobiert auf jeden Fall, sage ich. Und auch ziemlich ausgebreitet, seitenlang. Und hab dann nachträglich in alles, was ich schon hatte, noch diese Sache mit dem Aufguss reingeschrieben, so was wie: Die Wucht der Ereignisse schlug ihm entgegen wie heißer Dampf, oder: Die Erinnerung entfaltete sich und gab ihren Duft frei, sowas in der Art, solches Zeug, die ganze Zeit solches Zeug. Dann hab ich mir gedacht, scheiße ist das blumig, das ist zu blumig, viel zu, ich weiß nicht.“ (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 7-9)
Der Tee-Aufguss als Metapher für negativ behaftete Erinnerungen
Ich werde gleich Definitionen für verschiedene rhetorische Figuren ergänzen, zu denen die Metapher zählt, möchte jedoch zunächst die sinnhafte Schlagkraft dieses Stilmittels am eben zitierten Beispiel zeigen.
Warum funktioniert der Tee-Aufguss als Metapher?
- Verdrängung und Vergrabensein: Das „vertrocknete Zeug unten am Boden“ steht für verdrängte, scheinbar tote oder belanglose Erinnerungen, die man nicht beachtet. So ähnlich wirken traumatische Erinnerungen, die lange unterdrückt werden.
- Aktivierung durch einen Auslöser: Das heiße Wasser ist der Trigger – ein Erlebnis, ein Gespräch, ein Geruch. Plötzlich steigen Bilder, Gefühle, Sinneseindrücke auf, als ob das alte Material neu „aufquillt“.
- Unkontrollierbarkeit: Der Prozess beginnt, sobald das Wasser da ist – ähnlich wie bei der Darstellung von Erinnerungen im Roman, wenn etwas Ungeahntes aktiviert wird und sich das Erlebte in voller Intensität zurückmeldet.
Warum die Metapher vom Aufguss nicht ganz passt:
- Genuss-Assoziation: Ein Aufguss (Tee, Sauna) steht kulturell für Genuss, Entspannung, etwas Positives. Trauma dagegen ist mit Leid, Überwältigung und Kontrollverlust verbunden. Das erzeugt eine Diskrepanz.
- Gestaltetes Ritual vs. ungewolltes Wiedererleben: Ein Aufguss ist etwas, das man absichtlich macht. Traumareaktivierung dagegen passiert häufig ungewollt.
- Blumigkeit: Der Erzähler merkt selbst, dass die vielen Variationen (Dampf, Duft, Entfaltung) irgendwann zu „blumig“ werden und Gefahr laufen, die Härte und Schärfe des Themas zu verharmlosen.
Fazit zum Beispiel des Aufgusses als Metapher für Trauma
Als Bild für „verdrängte Erinnerung, die durch einen Trigger wieder auflebt“ ist der Aufguss stark. Als Bild für die Gewalt und Unkontrollierbarkeit von Trauma ist er zu sanft, zu positiv konnotiert. Mit dem Sprechen über die Metapher und ihre Wirksamkeit oder Angemessenheit wird zugleich auch eine weitere Ebene über den Prozess des Schreibens eröffnet.
Im Roman ist diese Metaebene stets präsent, oftmals in den Fragen, die sich der Ich-Erzähler zu seinem Vorhaben, über den Amoklauf zu schreiben, stellt – damit verbunden sich ethische, moralische und persönliche Fragestellungen.
Besteht bei der Verwendung von literarischen Stilmitteln eine ästhetische Verschleierung?
Die Gefahr der ästhetischen Verschleierung liegt darin, dass literarische Stilmittel das Trauma nicht nur zugänglich machen, sondern es gleichzeitig in eine erträglichere Form bringen können. Wenn der Ich-Erzähler seine Erinnerungen durch die Aufguss-Metapher filtert, macht er sie zwar kommunizierbar, aber möglicherweise auch harmloser, als sie waren. Die erwähnte „Blumigkeit“, die er selbst kritisiert, deutet auf diese Problematik hin: Wo beginnt die notwendige literarische Übersetzung, wo die Verharmlosung?
Erdmanns Roman zeigt diese Ambivalenz selbst auf, wenn er den Erzähler zweifeln lässt: ‚Bin ich ein Ausschlachter?‘ Die Metapher des Topf-Umrührens in fremden Küchen (zu der ich noch komme) verdeutlicht, dass literarische Bearbeitung immer auch Aneignung und Umformung bedeutet. Was dabei verloren geht – die unmittelbare Brutalität des Ereignisses – ist möglicherweise genauso wichtig wie das, was gewonnen wird: die Möglichkeit der Kommunikation.“
Was ist eigentlich eine Metapher?
Das Feld der literarischen Stilmittel wie rhetorische Figuren und Tropen ist weit – und zählt zum Schulstoff. Mitunter besteht manchmal sogar Verwechselungsgefahr oder eine gewisse Überlappung. Ich werde einige der behandelten Stilmittel, die ich in Die Ausweichschule genauer skizzieren möchte, definieren. So müssen die Begriffe Metapher, Allegorie und Symbol laut Urs Meyer aufgrund ihrer Nähe zueinander, klar definiert werden.[1] „Im Unterschied zur Metapher und zum Symbol wird der Begriff der Allegorie zusätzlich als Gattungsbegriff verwendet. Alle drei Verfahren treten aber in literarischen Texten verschiedenster Natur auf und erfüllen unterschiedliche (religiöse, politische, erbauliche, beschönigende, belehrende etc.) Funktionen.“[2]
Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert Metapher so: „Ein im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck, der mit dem Gemeinten durch eine Ähnlichkeitsbeziehung zu verbinden ist.“[3]
Komplexe Zusammenhänge wirkungsvoll vermitteln
Klassischerweise ist diese prägnante Definition für die Metapher bezeichnend, doch je nach interpretatorischem Rahmen gibt es Verwandtschaften und Ähnlichkeiten mit anderen literaturwissenschaftlichen Begriffen Metonymie, Symbol, Allegorie, Personifikation und Vergleich.
Alle diese Stilmittel sind bildhafte Sprachformen, die über die wörtliche Bedeutung hinausgehen und durch Übertragung, Ersetzung oder Veranschaulichung komplexe Gedanken, Gefühle oder Zusammenhänge verständlicher und wirkungsvoller vermitteln.
Sie alle arbeiten damit, dass sie eine direkte, sachliche Aussage durch eine indirekte, oft sinnlichere oder emotionalere Darstellung ersetzen – sei es durch Bilder (Metapher), Ersetzung (Metonymie), Vermenschlichung (Personifikation), ausgedehnte Gleichnisse (Allegorie), Gegenüberstellung (Vergleich) oder konkrete Zeichen für abstrakte Inhalte (Symbol).
Zur Verdeutlichung folgt hier eine Definitionsliste zur mentalen Vorbereitung:
Vergleich
Bei einem Vergleich handelt es sich um eine „[s]prachliche, meist syntaktisch explizite Verknüpfung zweier mindestens in einem Punkt ähnlicher Vorstellungen aus getrennten Sphären.“[4] Man erkennt den Vergleich oftmals am Gebrauch der Wörter wie oder als, mit denen explizite Ähnlichkeitsbeziehungen eröffnet werden. Dazu zählen beispielsweise „Stark wie ein Löwe“ oder „Der Berg ist höher als der Hügel“.
Allegorie
Bei der Allegorie besteht insofern Verwechslungsgefahr, weil es sich um eine literarische Figur sowie eine Gattung handeln kann und es auch verschiedene Arten gibt. Mich interessiert im Rahmen dieser Analyse die Allegorie als literarisches Stilmittel: „Die Allegorie wird in der rhetorischen Tradition aus der Metapher abgeleitet und als flachendeckender Gebrauch von metaphorischen Bedeutungsfiguren bestimmt. Bei der Allegorie kann dabei noch am ehesten von einem Bild gesprochen werden, da hier, anders als bei der partikularen Form der Metapher, ein satzübergreifendes Spiel mit doppelten Bedeutungen stattfindet, das sich über einen ganzen Text oder zumindest über ein längeres Textsegment erstrecken kann.
Die Allegorie besteht im Gegensatz zur Einzelmetapher also aus einem den Einzelsatz übergreifenden ›Metapherngeflecht‹. Legt ein ganzer Text bzw. ein ganzer Textausschnitt aufgrund der in ihm enthaltenen uneigentlichen Redeweisen eine zwei fache Bedeutungsinterpretation nahe oder verlangt diese sogar, so spricht man von einer Allegorie.“[5]
Man kann auch sagen: Die Allegorie ist eine fortgeführte Metapher, die durch eine systematisch aufgebaute Bildwelt einen abstrakten Sachverhalt veranschaulicht. Es handelt sich also um eine erweiterte, systematische Metaphorik auf der Ebene ganzer Texte oder Textpassagen, keine einzelnen Figuren wie es bei der Justitia für Gerechtigkeit der Fall ist.
Symbol
Bei dem Symbol handelt es sich um ein „[m]ehrdeutiges Zeichen als Resultat eines poetischen Verfahrens zur Erzeugung von Uneigentlichkeit durch ,entdeckte‘, nicht ,erfundene‘ literarische Ausdrucksmittel.“[6] Symbole sind konkrete Zeichen, die auf Abstraktes verweisen, wobei die Ähnlichkeitsbeziehung oft konventionalisiert ist.
Personifikation
Bei einer Personifikation handelt es sich um die „Darstellung von unbelebten, außermenschlichen
oder abstrakten Sachverhalten als menschliche Gestalten.“[7] Wenn etwas personifiziert wird, findet eine Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Nicht-Menschliches aufgrund bestimmter Ähnlichkeiten statt.
Metonymie (eingeschränkt)
Eine Metonymie ist „[e]in im übertragenen Sinne gebrauchter sprachlicher Ausdruck, der mit dem Gemeinten durch eine Beziehung der faktischen Verknüpfung zu verbinden ist.“[8] Die Metonymie weist nur begrenzt Ähnlichkeit mit einer Metapher auf, nämlich dann, wenn die „Berührungsbeziehung“ auch als Ähnlichkeitsbeziehung interpretiert werden kann.
Metapher, Metonymie, Symbol, Allegorie, Personifikation und Vergleich sind rhetorische Verfahren der Bildlichkeit, die durch uneigentliches Sprechen abstrakte, komplexe oder schwer fassbare Inhalte in anschauliche, konkrete Formen übertragen.
Weitere literarische Stilmittel in der Textpassage zur Aufguss-Metapher
Tatsächlich tauchen in der soeben zitierten Textpassage neben der Metapher die soeben definierten rhetorischen Figuren auf. Ich zitiere die entsprechende Passage am besten erneut, damit man nicht ständig wieder hochscrollen muss:
Eine gute Metapher für alte Erinnerungen, also, ich meine potenziell schmerzhafte Erinnerungen, die man vielleicht auch ein Stück weit verdrängt hat, ja?
Ja, sagt Hatice.
Wenn man sich mit solchen vergrabenen Erinnerungen beschäftigt, dann ist ein Aufguss eine schöne Metapher. […]
Wie in der Sauna?, fragt sie dann.
Nein, nicht wie in der Sauna, sage ich. Eher so in Richtung Tee. Man hat dieses ganze Zeug, dieses vertrocknete Zeug, verschrumpelt, tot, okay?
Okay.
Das liegt unten auf dem Boden, und man schüttet jetzt das heiße Wasser drauf, und plötzlich kommt was in Gang. Alles bekommt wieder Farbe und Geruch und Geschmack. […] Die Metapher greift aber irgendwie nicht so richtig, weil ein Aufguss ja schon was mit Genuss zu tun hat. […]
Tee trinken hat ja etwas Masochistisches, das dachte ich schon immer, sage ich. Dieses brühend heiße Wasser, man schüttet diese brühend heiße Wasser in sich rein, es muss gerade so heiß sein, dass es den Mund nicht verletzt, aber Schmerz ist ganz klar Teil des Rituals, den Schmerz auszuhalten, das ist ein zentraler Teil der Tee-Erfahrung. […]
Ich hab das mit dem Aufguss-Bild mal ausprobiert auf jeden Fall, sage ich. Und auch ziemlich ausgebreitet, seitenlang. Und hab dann nachträglich in alles, was ich schon hatte, noch diese Sache mit dem Aufguss reingeschrieben, so was wie: Die Wucht der Ereignisse schlug ihm entgegen wie heißer Dampf, oder: Die Erinnerung entfaltete sich und gab ihren Duft frei, sowas in der Art, solches Zeug, die ganze Zeit solches Zeug. Dann hab ich mir gedacht, scheiße ist das blumig, das ist zu blumig, viel zu, ich weiß nicht.“ (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 7-9)
Eine mögliche Aufschlüsselung der Tee-Aufguss-Metapher in seine Bildsprache
Vergleich: Der explizite Vergleich findet sich in der Wendung „schlug ihm entgegen wie heißer Dampf“. Das Vergleichswort „wie“ macht die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der emotionalen Wucht der Ereignisse und dem physischen Aufprall von heißem Dampf syntaktisch sichtbar.
Personifikation: In dem Satz „Die Erinnerung entfaltete sich und gab ihren Duft frei“ wird die Erinnerung als handelndes Subjekt dargestellt, das bewusste Aktionen vollzieht. Die Erinnerung „entfaltet sich“ aktiv und „gibt Duft frei“, als wäre sie ein lebendiges Wesen mit eigener Handlungsfähigkeit, während Erinnerungen in der Realität passive psychische Inhalte sind.
Metonymie: Die Wendung „dieses ganze Zeug, dieses vertrocknete Zeug“ funktioniert meiner Meinung nach metonymisch, weil das konkrete Material der Teeblätter stellvertretend für die abstrakten Erinnerungsinhalte steht. Die physische Beschaffenheit des getrockneten Tees (verschrumpelt, tot) ersetzt die psychische Beschaffenheit der verdrängten Erinnerungen durch eine Beziehung der sachlichen Verknüpfung.
Symbol: Ich denke, der Aufguss-Vorgang selbst kann als Symbol für Transformation gelesen werden, da er den Übergang von einem Zustand in einen anderen repräsentiert: von tot zu lebendig, von farblos zu farbig, von geruchlos zu duftend. Diese symbolische Ebene macht den psychischen Prozess der Erinnerungsaktivierung in konkreten, wahrnehmbaren Veränderungen fassbar.
Allegorie: Und zuletzt erkenne ich auch die Möglichkeit einer allegorischen Lesart, die aber weniger stark ausgeprägt ist als die anderen benannten Figuren. Der gesamte Aufguss-Vorgang könnte als systematische Darstellung des Erinnerungsprozesses verstanden werden, wobei jedes Element eine entsprechende psychische Komponente hätte. Diese Allegorie bleibt jedoch andeutungsweise und wird nicht zu einem geschlossenen System ausgebaut.
Die Metapher des Tee-Aufgusses wird damit selbstreflexiv. Der Ich-Erzähler experimentiert mit ihnen und erkennt ihre Stärken, aber auch die mit ihrer Verwendung einhergehende Gefahr der Ästhetisierung des schwierigen und komplexen Themas des Amoklaufs. Er stellt dies fest, wenn er feststellt „scheiße ist das blumig, das ist zu blumig“.
Und wie erwähnt ist die Metapher eingehend des Romans verwoben mit der Nutria-Verwechslung, die ihrerseits thematisch indirekt auf die Missdeutung von Metaphern verweist und damit auch auf die Möglichkeit einer fehlgeleiteten Interpretationsleistung aus unterschiedlichen Gründen.
Sprachliches „Ausweichen“ ins Bildhaft-Indirekte in Die Ausweichschule
Kaleb Erdmann macht das Ausweichen des konkret Sprachlichen ins Bildhafte in Die Ausweichschule zum Programm: Das „Ausweichen“ wird zur erzählerischen Notwendigkeit ebenso wie bei dem beschriebenen Ereignis das Gutenberg-Gymnasium in die Ausweichschule ausgelagert wurde.
Nicht Feigheit oder Verdrängung führen zu dieser indirekten Darstellung, sondern die Einsicht, dass manche Erfahrungen mit Bildern und Wahrnehmungen vermittelt werden können. Bloße Fakten, konkrete Worte, chronologische Auflistungen reichen manchmal nicht, um die gesamten Ausmaße des Geschehens zu begreifen. Die stilistische Indirektheit wird somit zur erkenntnistheoretischen Aussage: Sie reflektiert die Art, wie traumatische Erfahrungen überhaupt erinnert und prozessiert werden – fragmentarisch, verschoben, konserviert bzw. versiegelt in Bildern und Symbolen.
Textpassage aus Die Ausweichschule zum Begriff Ausweichschule
Der Begriff Ausweichschule hinterlässt bei mir heute einen Nachgeschmack, sage ich. Damals war es der übliche, der normale Begriff für das graue Gebäude im Erfurter Süden, das schließe ich zumindest daraus, dass ich ihn heute so routiniert verwende. Wenn man sich aber fragt, wem oder was da eigentlich ausgewichen werden sollte, dann macht sich ein merkwürdiger Assoziationsraum auf. Einerseits ist da dieses irre Bild, dass knapp siebenhundert Schüler, Lehrer und Hausmeister wie ein schwerfälliger Ozeandampfer der Tatsache ausweichen, dass unsere Schule zu einem Ort des Grauens geworden ist, zu einem Horrorhaus. Wie wir gemeinsam unseren Kurs ändern, um auf einen Trennschnitt zu einer psychisch entlasteten Schulatmosphäre zuzusteuern.
Aber es steckt noch ein anderes Bild in dem Begriff, nämlich dass eine Ausweichschule eine Schule ist, in der man das Ausweichen lernt: einer Gefahr, einem Gefühl oder einer Patrone. Diese zweite kindliche Assoziation ist diejenige, die aus meinem elfjährigen Kopf stammt. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 148-149)
Zum Titel Die Ausweichschule und seiner inhärenten Semantik
Die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Ausweichschule“ ist in der soeben zitierten Textpassage besonders wirkungsvoll: Schon im Titel Die Ausweichschule steckt ein Spannungsmoment, das den Roman trägt: Er lässt sich doppelt lesen, einmal als Institution, die räumlich ausweicht, und zugleich als ein Ort, an dem das Ausweichen selbst zur Fähigkeit, ja fast zur pädagogischen Disziplin wird. Diese Doppeldeutigkeit wird im Text nicht nur benannt, sondern durch verschiedene rhetorische Figuren entfaltet, sodass die Sprache selbst zum Medium des Ausweichens wird.
Besonders auffällig ist dabei die zentrale Metapher des „schwerfälligen Ozeandampfers“. Sie bildet kein isoliertes Bild, sondern entwickelt sich zu einem ganzen metaphorischen System. Die Schulgemeinschaft wird zu einem Schiff, das mühsam seinen Kurs ändern muss. In dieser Vorstellung spiegeln sich Größe und Trägheit institutioneller Strukturen, aber auch die Möglichkeit, bewusst zu steuern: weg von Gefahr, hin zu einer entlasteten Atmosphäre. Dass alle an Bord dieses „Ausweichmanövers“ sitzen, verweist zudem auf die kollektive Dimension des Geschehens.
Immerhin sind nicht nur die Schüler traumatisiert – alle irgendwie Involvierten sind in die übergreifende Traumatisierung verwickelt, das wird auch im Roman wirkungsvoll beschrieben: So zog sich das Trauma wie eine schwarze Schlange durch die Stadt. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 153)
Auch Personifikationen strukturieren die Textpassagen. Wenn sich „ein merkwürdiger Assoziationsraum auftut“, wird einem abstrakten Begriff Handlungsmacht zugeschrieben. Der Text suggeriert dadurch, dass innere Räume nicht konstruiert, sondern eher wie von selbst aufgeschlagen werden – ein Bild, das das Unverfügbare und zugleich das Überraschende betont.
Hinzu treten sensorische Metaphern wie der „Nachgeschmack“, die auf einer synästhetischen Ebene wirken. Ein eigentlich körperlicher Eindruck wird hier in einen kognitiven oder emotionalen Zusammenhang übertragen. Der Text bindet so Erfahrungsebenen aneinander, die zunächst unvereinbar scheinen.
Auch die Symbolik prägt die Wahrnehmung. Das „graue Gebäude“ steht als Sinnbild für Leere und Trostlosigkeit, während das „Horrorhaus“ eine hyperbolische Verdichtung darstellt, die das Schreckhafte in einer kindlich zugespitzten Form hervorruft.
Nicht zuletzt greift der Text auf Metonymien zurück, etwa wenn der „elfjährige Kopf“ für das gesamte kindliche Bewusstsein steht. Das Bild markiert eine Perspektive, die durch ihre Reduktion zugleich Authentizität gewinnt.
Gerade die Verschränkung dieser literarischen Stilmittel macht die besondere Raffinesse des Romans aus. Sie stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern überlagern sich, sodass eine Art semantische Beweglichkeit entsteht. Das Ausweichen könnte sich damit nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich vollziehen – als Oszillation zwischen Notwendigkeit, Strategie und unwillkürlicher Erfahrung.
Das Unklare benennen durch sprachliche Ästhetisierungsstrategien
Im Ich-Erzähler in Die Ausweichschule schwelt das, was er als Schüler erlebt hat nach über 20 Jahren immer noch. Er bemerkt es an körperlichen Reaktionen wie Schweißausbrüchen, Gedankenkreisen, Vermeidungsverhalten und anderen Aspekten, die als Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung bezeichnet werden können. In diesem Sinne schreibt er sich seine Eindrücke von der Seele. Aber damit gehen Fragen der Ethik einher, die er sich immer wieder stellt.
Ich will kein Wundenaufreißer sein, ich will nichts von Erfurt, […] will ich Erfurt loswerden, und zwar indem ich herausfinde, warum es mehr als zwanzig Jahre nach dem Amoklauf noch mal mit solcher Kraft und Gewalt in mein Leben getreten ist, warum mein Höllenfenster plötzlich wieder offen steht. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 219)
Die Frage ist, ob man Trauma „loswerden“ kann, ob man es sich wirklich von der Seele schreiben kann. Irgendwann erkennt der Ich-Erzähler in Die Ausweichschule, dass der Schreibprozess neben anderen ihn selbst betrifft und er sich mit dem Schreiben auch seiner Angst, die ihn jahrelang begleitet hat, stellen muss. Schreiben ist keine Einbahnstraße.
Ich bin mir nicht sicher, ob man unbedingt zwanzig Jahre später ein Buch über den Erfurter Amoklauf schreiben muss, Wunden aufreißen, einen Topf umrühren, den man vielleicht ganz in Ruhe lassen sollte. Welchen plausiblen Grund es dafür geben könnte. Was ich weiß, ist, dass meine Gliedmaßen heute, in den Zwanzigerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, taub werden, wenn ich Erfurt zu nahe komme, und meine Luftröhre sich verschließt. Ich weiß, dass mir letztes Jahr in einer Frankfurter Apfelweinwirtschaft ein Thüringer Montagearbeiter die Nase gebrochen hat, um Robert Steinhäuser zu verteidigen, und wenn ich schon daran denke, wird mein Kopf schwer, mein Nacken steif, und natürlich schmerzt meine Nase. Nach einem halben Jahr des Schreibens weiß ich immer noch wenig über meine eigene Motivation, aber ich weiß, dass ich nichts aus dem Amokbild lernen will, weil er kein Schulbuch, kein Schaubild, kein Merksatz ist, dass ich nichts aus ihm schöpfen will, denn er ist kein Waschbecken und kein Brunnen, sondern ein reales Ereignis, in dessen Folge heute siebzehn Menschen nicht mehr leben. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 120)
Die literarische Auseinandersetzung einer kollektiven Gewalterfahrung, die eine ganze Stadt und Menschen darüber hinaus traumatisierte ist ein Unterfangen, dass eine reflektierte Herangehensweise erfordert, die sich aus sämtlichen Perspektiven neben der eigenen dem Thema nähert und auch immer wieder die eigene Sichtweise infragestellt.
Selbstreflexives Schreiben – Ausschlachten, Töpfe-Rühren oder Kunst?
Ich denke tatsächlich, dass Schreiben Erinnerungen aktivieren, strukturieren, verarbeiten, auflösen oder verändern kann. Insofern hat die Idee, dass literarisches Schreiben durch Verfremdung und symbolische Darstellung Zugang zu verdrängten Inhalten schaffen kann, für mich Plausibilität. Allerdings muss man auch differenzieren, denn die Gleichsetzung von kreativem Schreiben wie es bei literarischen Prozessen der Fall ist mit professioneller Traumatherapie ist problematisch.
Traumatherapie erfordert geschulte Begleitung, strukturierte Verfahren und Sicherheitsnetze für Retraumatisierungen. Erdmanns Die Ausweichschule zeigt diese Ambivalenz anhand der vielen umfangreichen Reflexionen: Der Erzähler fragt sich, ob er „Wunden aufreißt“ und „Töpfe umrührt“, die er „in Ruhe lassen sollte“. Das zeugt von einem Feingefühl im Umgang mit der Materie und von Empathie. Darunter liegt die Frage, wann Kunst angemessen ist und ob Kunst abgespaltet werden kann von dem tatsächlichen Ereignis und der Gewalterfahrung, die ins Medium der Literatur übersetzt und in ihm poetologisch inszeniert wird.
Literarisches Schreiben als „Rühren in Töpfen“
Obwohl der Ich-Erzähler von dem Amoklauf betroffen ist, hadert er mit sich und seinem Vermögen, der Richtige für das Erzählen dieser Geschichte zu sein.
Aber bin ich betroffen genug? Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern keinen Mord und kein Blut gesehen, ich war nur anderthalb Jahre auf der Ausweichschule und bin dann weggezogen. Ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Geschichte zu erzählen. Ich schreibe ja nicht nur über mich selbst. Ich rühre einen Topf um, von dem ich nicht weiß, ob ich mich überhaupt nähern sollte, einen völlig fremden Topf, so fühlt es sich an, als würde ich irgendwo durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren. […]
Ich glaube, wenn man schreibt, nimmt man in Kauf, Töpfe umzurühren, die einem nicht gehören sagt er [der Dramatiker]. Glaubst du nicht? Man könnte vielleicht so weit gehen, zu sagen, dass es das ist, was Schreiben überhaupt bedeutet. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 160-170)
Wir finden in dieser Passage wieder hauptsächlich Metaphern: Das „Topf umrühren“ ist eine im gesamten Roman durchgehaltene Metapher für das Schreiben über fremde bzw. traumatische Erfahrungen. Der Schreibprozess wird als Küchenhandlung dargestellt – man „rührt um“, was bereits da ist, bringt Dinge in Bewegung, mischt sie auf. Die Metapher wird systematisch entwickelt: „einen Topf umrühren“, „völlig fremden Topf“, „Töpfe umrühren, die einem nicht gehören“.
Zusätzlich kommt der Vergleich ins Spiel, der die Metapher bildhaft stützt: „Als würde ich irgendwo durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren“ – hier wird das Schreiben über fremde Erfahrungen explizit mit einem Einbruch verglichen (eingeleitet durch „als würde ich“).
Ich denke, dass der Vergleich des Einbruchs sehr wichtig ist und mit den Werte- und Moralvorstellungen des Ich-Erzählers in Beziehung gesetzt werden könnte. Der Einbruch ist negativ behaftet, handelt es sich schließlich um eine Straftat. Dass er seine Schreibleistung mit einem Einbruch vergleicht, obwohl er absolut geeignet ist über das Ereignis zu schreiben, bei dem er anwesend war, zeigt das moralische Dilemma, in dem er sich befindet.
Die Kombination beider Stilmittel verstärkt die negativ konnotierte Bedeutung: Das Schreiben wird sowohl als Eindringen in fremden Raum (Vergleich mit Einbruch) als auch als aktives Manipulieren fremder „Substanzen“ (Metapher des Umrührens) dargestellt.
Der Dramatiker erweitert dann die Metapher zur grundsätzlichen Definition des Schreibens: „Töpfe umzurühren, die einem nicht gehören“ wird zur Wesensbestimmung literarischen Arbeitens überhaupt.
Die Metapher ist besonders treffend, weil „umrühren“ sowohl das Aufwühlen/Durcheinanderbringen als auch das Vermischen und Neuordnen impliziert – genau das, was beim Schreiben über komplexe Erfahrungen geschieht, in die Menschen involviert sind. Man befindet sich nicht im luftleeren Raum, kein Mensch ist eine Insel, alles ist verbunden (um die Figuren aus Die Schrecken der anderen von Martina Clavadetscher aus meinem letzten Beitrag zu zitieren). Aber das muss nicht schlecht sein, es kann sogar sehr gut sein, weil endlich Dinge ans Licht kommen, es endlich weitergehen kann.
Literarisches Schreiben als Konservierung oder Transformation?
In diesem Abschnitt will ich literarisches Schreiben als kreatives Schreiben bezeichnen und somit auch als Kunst. Literarisches Schreiben kann als Kunstform betrachtet werden, weil es weit über das bloße Vermitteln von Informationen hinausgeht. Im Zentrum steht die bewusste Gestaltung von Sprache: Wörter werden nicht nur aneinandergereiht, sondern rhythmisiert, verdichtet und in eine Form gebracht, die Gedanken, Gefühle und Stimmungen hervorruft. Damit ähnelt literarisches Schreiben der Arbeit eines Malers, der Farben komponiert, oder eines Musikers, der Töne ordnet. Hinzu kommt die schöpferische Dimension – Literatur eröffnet neue Sichtweisen, entwirft Figuren und Welten und wird in kulturellen Kontexten gelesen, gedeutet und diskutiert.
Gleichzeitig darf man nicht übersehen, dass Schreiben auch Handwerk ist: Es folgt Regeln, Traditionen und Techniken, die erlernt und geübt werden müssen. Gerade im Zusammenspiel von technischem Können und individueller Kreativität entsteht das, was wir als Kunst bezeichnen. Literarisches Schreiben bewegt sich also zwischen beidem – es ist Handwerk in seiner Basis, aber Kunst in seiner Vollendung.
Insofern schafft Schreiben über Erinnerungen und über traumatische Erfahrungen mit Hilfe von rhetorischen Figuren einen geschützten Sprachraum, in dem das einst real gewesene transformiert wird in eine andere Form – eben dies macht das Geschriebene zu einem Kunstwerk. Dazu passt auch eine Passage aus Die Ausweichschule sehr gut, weil sie eben diesen Prozess der Transformation beschreibt.
Gibt es überhaupt einen guten Grund, eine Katastrophe in Kunst zu verwandeln?
Und so stellt sich auch der Ich-Erzähler die Frage:
Gibt es überhaupt einen guten Grund, eine Katastrophe in Kunst zu verwandeln? (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 116)
Er diskutiert diese Frage an einem Essay des britischen Schriftstellers Julian Barnes, der wiederum um das Gemälde Das Floß der Medusa des Malers Géricault behandelt. Vermutlich gemeint der Essay Aus Katastrophen Kunst machen aus Barnes‘ Werk Kunst sehen. Dort diskutiert er dies am Beispiel des Gemäldes Das Floß der Medusa von Géricault. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 116-118)
Im Studium am Literaturinstitut hat mir ein Dozent einmal einen Essay von Julian Barnes gegeben, der angeblich die Frage behandeln sollte, wie und warum man eine Katastrophe zu Kunst macht. In dem Essay ging es um den Maler Géricault und sein Bild Das Floß der Medusa, das den Moment darstellt, in dem ein Knäuel knochiger Schiffbrüchiger auf einem schwimmenden Bretterverschlag das rettende Schiff am Horizont entdeckt.
Die Fregatte Medusa war 1816 vor der Küste Westafrikas auf Grund gelaufen. 157 Männer und eine Frau konnten sich auf ein Floß retten und steuerten die nahe Küste an, wurden aber von den Strömungen der Ebbe zurück aufs offene Meer gezogen. Als nach einer Woche die Wasserfässer und Zwiebacksäcke zur Neige gingen, finden die Schiffbrüchigen an, sich gegenseitig umzubringen und aufzuessen. Andere begingen Suizid, starben an Erschöpfung oder Durst. Gerettet wurden nach zwei Wochen nur noch fünfzehn Seeleute, viele von ihnen waren verstümmelt und vom Salzwasser erblindet.
Ich habe den Essay mit großen Erwartungen und Blick auf Erfurt gelesen und war ziemlich enttäuscht. Barnes behauptet, dass das Gemälde, das Kunstwerk, sich von dem was tatsächlich passiert ist, vom Anker der Geschichte, gelöst hat und zu etwas Allgemeinem geworden ist, an das der Zuschauer mit seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen andocken kann […]
Das hat mir überhaupt nicht gefallen. Diese Matrosen haben sich gegenseitig aufgegessen. Sie haben sich erdrosselt, zerstückelt und gegessen. Und das dazugehörige Gefühl soll Manchmal hat man‘s eben schwer sein? Das erscheint mit unbefriedigend, nicht ausreichend. Es kommt mir wie eine Verspottung dieser Matrosen vor. Im Grunde ist es exakt das, wovor ich Angst habe, beim Schreiben übe den Amoklauf den Anker der Geschichte über Bord zu werfen und am Ende noch bei einer Lehre rauszukommen:
Kauern wir nicht alle manchmal unter einer Schulbank, voll panischer Angst erschossen zu werden?
Barnes schreibt, die Zeit löst eine Geschichte in Form, Farbe, Emotionen auf. Er zählt auf, Géricault sei es nicht darum gegangen, politisch, symbolisch, theatralisch, schockierend, aufregend, sentimental, dokumentarisch oder unzweideutig zu sein, es sei ihm um die Treue zur Kunst gegangen. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 116-118)
Es gibt im Roman eine Stelle, die das Thema in anderer Form aufgreift und in Beziehung setzt mit der Transformation der Kunst und dem Erleben des Ich-Erzählers sowie seinem Schreibprozess. Es geht um das Epoxid-Huhn.
Das konservierte Huhn als transformative Kunstform
Die Skulptur, die auf unserem Wohnzimmerboden durch eine Monopolyfigur vertreten wurde, gefällt mir sehr gut. Sie ist perfekt platziert, das Hin- und Hergeschiebe hat sich gelohnt. Laut der Werkbeschreibung besteht die Arbeit aus Epoxidharz, ein hüfthoher, trüber Klotz in einer kräftigen Bernsteinfarbe. Im Inneren des Blocks ist ein Huhn eingeschlossen wie die Mücke aus Jurassic Parc. […] Feine Luftbläschen bedecken die Federn wie aufgestickte Perlen. Ich gehe auf die Knie und sehe genauer hin. Das Huhn wirkt nicht panisch oder gefangen, sondern gefasst, es schwebt ganz ruhig im Raum, die Flügel sind gefaltet, der Kopf erhoben, die Krallen stehen gerade auf dem unsichtbaren Boden.
[…]
Ist das ein echtes Huhn?, frage ich.
Echtes Huhn, sagt Lipi. Hab ‚nen Taxideternisten aufgetrieben, der hat mir gezeigt wie’s geht. […] Ich hab’s geschlachtet, ausgestopft und eingegossen, sagt Lipi. Hab’s sogar gegessen.
Wow, sage ich.
Jep, sagt sie und reicht mir ein Feuerzeug. Ich öffne mein Bier, wir trinken vor dem Huhn und unterhalten uns. Lipi erklärt mit, wie man ein Huhn in Epoxidharz gießt, ich erzähle vom Erfurt-Projekt, wir entdecken ein paar Parallelen.
Hat es was mit Konservierung zu tun, frage ich Lipi, willst du das Huhn fixieren, dokumentieren oder so?
Ach Quatsch, sagt Lipi. Wir sind doch hier nicht im Naturkundemuseum. Es ist jetzt was Neues, kein Huhn mehr.
Kein Huhn mehr, wiederhole ich blöde und blicke nachdenklich auf den eingegossenen Vogel. […]
Vorhin in der Galerie war die Sache noch nicht glasklar, denke ich, als der Automat zu rattern beginnt. Das Huhn ist der Amoklauf, das Epoxid ist das Schreiben, ich bin der Künstler. Aber was, wenn ich das Huhn bin? Eingeschlossen und unbeweglich, festsitzend in einer zähen, bösartigen Geschichte, aus der ich keine Chance habe auszubrechen. (Erdmann: Die Ausweichschule, S. 66-70)
In dieser Textpassage erkenne ich einige der zuvor definierten literarischen Stilmittel wie Metonymie, Symbol, Allegorie, Personifikation, Vergleich und natürlich die Metapher, mit denen der Ich-Erzähler wiederholt auf seinen literarischen Schreibprozess mit dem Thema seiner Vergangenheit zu sprechen kommt.
Die Kunstinstallation mit dem konservierten Huhn als literarisches Exempel
In der zitierten Passage aus Die Ausweichschule wird eine Kunstinstallation beschrieben – ein echtes, totes Huhn, das in durchsichtiges Epoxidharz eingegossen wurde. Der Abschnitt zur Installation könnte als Ausgangspunkt für eine komplexe Reflexion über Kunst, Trauma und Schreibprozesse gelesen werden. Daher möchte ich kurz auf die Möglichkeiten eingehen, die literarische Stilmittel an dieser Stelle bieten, damit meine Gedankengänge nachvollzogen werden können.
Das Kunstobjekt Huhn als mehrdeutige Allegorie
Im Rahmen der eingangs erwähnten Verwechslungsgefahr von Interpretationen wage ich noch, das Huhn als Allegorie zu betrachten: Der Ich-Erzähler führt es nicht nur als skurriles Detail ein, sondern entwickelt daran ein System von Tropen, das sich um Trauma, Kunst und Selbstreflexion verschränkt. Die Textpassage erlaubt sowohl eine Lesart, in der das Huhn als Symbol des Amoklaufs fungiert, als auch eine, in der es zum Spiegelbild des Erzählers selbst wird.
In einer ersten Deutung – dem Huhn als Symbol für den Amoklauf – ließe sich das Huhn mit dem traumatischen Ereignis parallelisieren. Der im Epoxidharz konservierte Kadaver verweist dabei auf das Medium des Schreibens, das Vergangenes fixiert und gleichzeitig transformiert. Der Künstler schließlich, der diesen Prozess vollzieht, steht im übertragenen Sinne für den Erzähler selbst, der das Trauma ästhetisch bearbeitet. Hier entsteht somit ein allegorisches Dreieck von Objekt, Medium und Subjekt, das die Logik der künstlerischen Verarbeitung veranschaulicht.
Doch die Allegorie kippt in einer zweiten Wendung. Nun repräsentiert das Huhn nicht mehr das Ereignis, sondern den Ich-Erzähler selbst – er erkennt sich und sein Schaffen im Kunstobjekt. Das Harz wird zur Erzählung des Amoklaufs, die ihn einschließt, und die Situation erscheint als Gefangensein in der eigenen Geschichte. Damit verschiebt sich die Perspektive: Aus der Position des souveränen Künstlers wird die eines Kontrollierten, der selbst Teil des Objekts geworden ist. In dieser Interpretationsoption wäre neben der potenziellen Selbstreferenzialität dieser Allegorie auch die Verschränkung von ästhetischer Kontrolle und subjektiver Verstrickung im Schreibprozess gezeigt.
Vergleiche in der Kunstobjekt Huhn Textpassage
Die Ambivalenz des soeben erwähnten Prozesses wird zusätzlich durch Vergleiche illustriert. Der Hinweis auf die „Mücke aus Jurassic Park“ ruft in mir ein kulturelles Referenzsystem auf, in dem Konservierung zugleich als Bewahrung und als Gefahr erscheint. Immerhin – wer den Film vor Augen hat, wird sofort bestimmte Assoziationen haben, denn: Was eingeschlossen wird, kann unversehens wieder aktiviert werden. Zuletzt waren es die wieder aktivierten Dinosaurier, die Menschen angriffen und für Zerstörung sorgten. Was im Film dargestellt ist und durch das Zitat literarisch in die Poetologie von Die Ausweichschule integriert, gilt auch für das Romanthema – den Amoklauf: Die literarische Bearbeitung kann Erinnerungen neu beleben und das Risiko einer Ästhetisierung von Gewalt in sich tragen.
Insofern bestehen Ähnlichkeitsbeziehungen mit der Tee-Aufguss-Metapher wie auch mit anderen im Roman für diesen Prozess herangezogenen Bilder wie das Umrühren von Töpfen und weiteren.
Und hier schwingt zugleich auch die Gefahr der Ästhetisierung mit, die ich neben den genannten Stilmitteln auch in der Passage zum Epoxid-Huhn sehen kann. Bei dem Bild der Luftbläschen im Harz, die aussehen „wie aufgestickte Perlen“, wird der Blick auf die Verwandlung von Störungen in Ornament gelenkt. Hier wird das Misslungene kunstvoll verklärt, sodass auch Fehler der Konservierung ästhetischen Wert gewinnen. Übertragen auf den literarischen Prozess verweist dies auf die Tendenz, Brüche und Unzulänglichkeiten in stilistische Verdichtungen zu überführen. Gerade hier liegt die Tendenz zur unangemessenen Ästhetisierung bestimmter Ereignisse – gerade über dieses Thema wird ausführlich anhand von Beispielen im Roman reflektiert.
Jedenfalls lässt sich meiner Meinung nach in der Allegorie des Huhns ein hochreflexives Spiel mit Bedeutungen lesen, das Trauma, Kunst und Selbstverständnis verschränkt. Sie bündelt Fragen nach Erinnerung, Ästhetisierung und narrativer Angemessenheit und führt dabei die prekäre Doppelrolle des Erzählers vor Augen: als Schöpfer und zugleich als Eingeschlossener seiner eigenen Geschichte. Und es darf nicht vergessen werden, dass alle, die mit dieser Schöpfung in Kontakt kommen, ebenfalls mögliche Reaktionen haben werden. Es geht also um mehr, also nur um die Subjekt-Objekt-Beziehung – es geht um die Gemeinschaft und das teilhabende Kollektiv.
Die literarische Raffinesse dieser Textpassage in Die Ausweichschule
Besonders eindrücklich ist die Huh-Metapher, in der der Erzähler „festsitzend in einer zähen, bösartigen Geschichte“ erscheint. Die Erzählung des Amoklaufs wird hier zu einer physischen Substanz, zäh wie Epoxidharz, zugleich personifiziert und räumlich vorgestellt: in ihr kann man feststecken, wie in einem klebrigen Material. Damit wird das Schreiben selbst zur körperlichen Erfahrung der Gefangenschaft. Gerade in der ständigen Selbstreflexion des Ich-Erzählers über den Schreibprozess wird diese Metapher greifbar, während andere Figuren – etwa der Dramatiker (der ein Theaterstück über den Amoklauf verfasst hat) – scheinbar unbeschwert mit der ästhetischen Inszenierung des Amoklaufs umgehen und damit Erfolge feiern.
Ich hatte eingehend am Nutria-Beispiel aus Die Ausweichschule vor einer möglichen Überinterpretation gewarnt bzw. einer Interpretation, die keine anderen Optionen zulässt und den Text zu sehr vereinnahmt. Ich möchte darum kurz eine meiner vorläufigen Interpretationen zu der Huhn-Passage als Negativbeispiel bereitstellen.
Warnung vor Überinterpretation: Das Huhn als christologische Allegorie der Postmoderne
Die Huhn-Episode offenbart sich bei genauerer Betrachtung als vielschichtige Allegorie der abendländischen Heilsgeschichte. Das eingegossene Huhn repräsentiert eindeutig Christus – wie dieser stirbt es den Opfertod (wird geschlachtet), wird aber durch die Kunst (= göttliche Schöpferkraft) zu neuem „Leben“ erweckt. Die bernsteinfarbene Transparenz des Epoxidharzes symbolisiert das himmlische Licht, während die „aufgestickten Perlen“ der Luftbläschen unverkennbar die Dornenkrone evozieren.
Dass Lipi das Huhn sowohl tötet als auch „isst“, verweist auf die Eucharistie – sie vollzieht symbolisch das Abendmahl und wird damit zur Priesterfigur. Ihre Aussage „Es ist jetzt was Neues, kein Huhn mehr“ ist eine säkularisierte Paraphrase der Transsubstantiationslehre.
Die „gefasste“ Haltung des Huhns mit „erhobenem Kopf“ entspricht ikonographisch der Darstellung Christi am Kreuz, während die „geraden Krallen auf unsichtbarem Boden“ die Nägel der Kreuzigung symbolisieren. Der „trübe Klotz“ verweist auf den Stein vor Christi Grab.
Erdmanns Text entwickelt somit eine postmoderne Theodizee: Wenn das Huhn für das Trauma des Amoklaufs steht, dann fragt der Text letztlich nach der Rechtfertigung Gottes angesichts unschuldigen Leidens. Die Verwandlung des toten Tieres in Kunst entspricht der christlichen Hoffnung auf Auferstehung – traumatische Erfahrung wird zu ästhetischer Erkenntnis transfiguriert.
Warum diese Interpretation problematisch ist:
- Monokausalität: Ich zwinge alle Textelemente in ein einziges Deutungsschema, statt ihre Mehrdeutigkeit anzuerkennen
- Fehlende Textbelege: Nirgendwo im Roman gibt es Hinweise auf christliche Symbolik – ich projiziere externe Deutungsmuster auf den Text
- Übercodierung: Ich deute jedes Detail symbolisch, obwohl manche Elemente einfach realistische Beschreibungen sein könnten
- Zirkelschluss: Ich suche nur Belege für meine Vorannahme, statt ergebnisoffen zu analysieren
Ich denke, man kann gut die Unbedingtheit dieser haltlosen Analyse erkennen – es bleibt kein Spielraum für andere Möglichkeiten offen und ich gehe absolut von der Richtigkeit meiner Angaben aus – obwohl ich überhaupt keine Textpassagen zitiere.
Man könnte auch in Anlehnung an das vorhin erwähnte Nutria-Beispiel aus Die Ausweichschule erklären, dass ich hier etwas als „Katze“ bezeichne, was in Wirklichkeit ein Nutria ist. Wer die weiter oben zitierte Passage überlesen hat, sollte es tun, wenn er diese Anspielung verstehen möchte. Es geht mir darum, zu zeigen, dass man bei der Analyse von Literatur schlussfolgern kann und es auch tun sollte, ja sogar muss. Aber das funktioniert nur, wenn man seine Thesen am Text belegen kann und das am besten auch unter Hinzunahme von gefestigten Theorien und Konzepten sowie wissenschaftlichen Publikationen. Hinzu kommt die Basis des eigenen Wissens, das auf den Text projiziert wird. In diesem Sinne bleibt alle Projektion und Interpretation potenziell und diskussionsbedürftig. Ich hoffe, dass ich das deutlich machen konnte.
Abschließend zu Die Ausweichschule von Kaleb Erdmann
Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule demonstriert die polyvalente Natur literarischer Stilmittel bei der Darstellung kollektiver Gewalterfahrungen und dem damit verbundenen Schreibprozess: Sie ermöglichen überhaupt erst die sprachliche Annäherung an das Unsagbare, bergen aber zugleich das Risiko der Ästhetisierung und Verharmlosung. Die rhetorischen Figuren fungieren als ästhetische Übersetzungsstrategien, die einen Reflexionsraum schaffen – doch dieser Raum bleibt ambivalent zwischen Schutz und Verklärung.
Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule zeigt wie die literarische Übersetzungsstrategien traumatischer Erfahrung sowohl notwendig als auch problematisch sein können. Der Ich-Erzähler ringt damit, dass seine „blumigen“ Bilder zwar kommunizierbar machen, was sich der direkten Darstellung entzieht, dabei aber möglicherweise die Schärfe des Erlebten mildern und sich der Gefahr der Ästhetisierung aussetzen. Diese Spannung lässt sich nicht auflösen – sie ist vielmehr konstitutiv für jede literarische Bearbeitung kollektiver Gewalterfahrungen.
Die erfolgte Analyse einiger verwendeter literarischer Stilmittel enthüllt damit nicht nur deren poetische Funktion, sondern auch die ethischen Dilemmata, die mit jeder künstlerischen Transformation von Gewalt und Trauma einhergehen. Literatur wird so zu einem Ort produktiver Ungewissheit, an dem die Grenzen des Sagbaren nicht überwunden, sondern sichtbar gemacht werden.
FAQ: Stilmittel in „Die Ausweichschule“ – Literaturanalyse
Was ist "Die Ausweichschule" von Kaleb Erdmann?
Ein selbstreflexiver Roman über die literarische Bearbeitung des Erfurter Amoklaufs von 2002. Der Erzähler war als Elfjähriger dabei und schreibt 20 Jahre später darüber – dabei reflektiert er ständig über die Grenzen und Gefahren des Schreibens über traumatische Ereignisse.
Warum heißt der Roman "Ausweichschule"?
Der Titel hat eine Doppelbedeutung: Einerseits die reale Ausweichschule, in die die Kinder damals gebracht wurden. Andererseits eine „Schule des Ausweichens“ – ein Ort, wo man lernt auszuweichen: Gefahren, Gefühlen, direkter Darstellung. Die Literatur selbst wird zur Form des Ausweichens.
Was bedeutet "ästhetische Verschleierung"?
Die Gefahr, dass literarische Stilmittel traumatische Erfahrungen nicht nur zugänglich machen, sondern sie gleichzeitig in eine zu erträgliche, „schöne“ Form bringen. Der Erzähler fragt sich selbst: „Scheiße ist das blumig, das ist zu blumig.“
Was ist eine Allegorie und wo taucht sie auf?
Eine Allegorie ist eine fortgeführte Metapher über längere Textpassagen. Beispiel: Das eingegossene Huhn in Epoxidharz kann als Allegorie für den Schreibprozess gelesen werden – das Huhn als Ereignis, das Harz als literarische Form, der Künstler als Schreibender.
Wie funktionieren Personifikationen im Text?
Abstrakte Begriffe werden vermenschlicht: „Ein merkwürdiger Assoziationsraum tut sich auf“ – der Raum handelt wie ein Lebewesen. „Die Erinnerung entfaltete sich und gab ihren Duft frei“ – die Erinnerung wird zur handelnden Person.
Was sind Metonymien in dem Roman?
Ersetzungen durch sachliche Verknüpfung: „Der elfjährige Kopf“ steht für das gesamte kindliche Bewusstsein. „Dieses vertrocknete Zeug“ (Teeblätter) für die psychischen Erinnerungsinhalte.
Was sind synästhetische Metaphern?
Übertragungen zwischen Sinnesebenen: „Nachgeschmack“ für ein kognitives/emotionales Gefühl. Der körperliche Eindruck wird in einen seelischen Zusammenhang übertragen.
Gibt es Vergleiche im engeren Sinne?
Ja, mit „wie“ oder „als“: „Die Wucht der Ereignisse schlug ihm entgegen wie heißer Dampf“ oder „als würde ich durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren“ (Schreiben als Einbruch).
Was ist mit Ironie und Selbstreferenz?
Der Roman ist hochgradig selbstreferenziell – er reflektiert permanent über sein eigenes Entstehen. Ironie entsteht durch die Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf angemessene Darstellung und der gleichzeitigen Ästhetisierung.
Welche Tradition des Schreibens über Gewalt?
Erdmann steht in der Tradition reflektierter Gewaltdarstellung (nicht sensationsheischend). Ähnlich wie W.G. Sebald oder Alexander Kluge entwickelt er indirekte Darstellungsformen für das Extreme.
Warum sind Tropen wichtig für Traumaliteratur?
Sie schaffen einen „Übersetzungsraum“ zwischen Erfahrung und Kommunikation. Direkte Darstellung würde entweder banalisieren oder überwältigen. Bildhafte Sprache ermöglicht kontrollierten Zugang.
Gibt es andere Autoren mit ähnlichen Strategien?
Ja, Erdmann steht in einer literarischen Tradition der indirekten Gewaltdarstellung:
Uwe Johnson: Seine „Jahrestage“ entwickeln eine komplexe Erzählstruktur, um die NS-Zeit und ihre Nachwirkungen darzustellen, ohne in Sensationalismus zu verfallen.
W.G. Sebald: Entwickelte für die Holocaust-Darstellung eine Poetik der Umwege – er nähert sich dem Unsagbaren über Fotografien, Dokumente und assoziative Sprünge. Wie Erdmann vermeidet er die direkte Konfrontation mit dem Grauen und schafft stattdessen meditative, melancholische Texträume.
Herta Müller: Ihre Diktaturerfahrung übersetzt sie in eine hochmetaphorische Sprache – „Atemschaukel“, „Herztier“. Auch sie reflektiert die Schwierigkeit, totalitäre Gewalt angemessen darzustellen, ohne sie zu banalisieren.
Jenny Erpenbeck: In „Heimsuchung“ oder „Gehen, ging, gegangen“ arbeitet sie mit Verfremdungstechniken und fragmentarischen Erzählstrukturen, um historische Gewalt und gegenwärtige Ausgrenzung zu thematisieren.
Alexander Kluge: Seine Collagen-Technik und essayistische Reflexionen schaffen Distanz zum dargestellten Schrecken – ähnlich wie Erdmanns metareflexive Passagen.
Welche ethischen Fragen stellt der Roman?
Erdmann entwickelt ein komplexes ethisches Fragensystem, das er bewusst offenlässt:
Gesellschaftliche Funktion: Welchen Auftrag hat Literatur gegenüber kollektiven Katastrophen? Aufklärung, Mahnung, Heilung, oder ist sie primär der ästhetischen Wahrheit verpflichtet? Ja: W.G. Sebald (indirekte Holocaust-Darstellung), Herta Müller (Metaphorik für Diktaturerfahrung), Jenny Erpenbeck (Verfremdung historischer Gewalt).
Aneignung vs. Authentizität: „Bin ich betroffen genug?“ fragt der Erzähler. Wer darf über kollektive Gewalterfahrungen schreiben? Gibt es Grade der Berechtigung?
Ästhetisierung vs. Angemessenheit: Die zentrale Spannung zwischen der Notwendigkeit, Kunst zu schaffen, und der Gefahr, dabei das Leid zu „verschönern“ oder zu instrumentalisieren.
Kollektive vs. individuelle Erfahrung: Das Trauma gehört nicht nur dem Erzähler – es betrifft eine ganze Gemeinschaft. Darf er stellvertretend sprechen?
Zeitliche Dimension: Ist es nach 20 Jahren legitim oder sogar notwendig, „Wunden aufzureißen“? Oder sollten manche Ereignisse in Ruhe gelassen werden?
Verwertung vs. Verarbeitung: Die Metapher des „Ausschlachtens“ – wo beginnt die problematische kommerzielle oder künstlerische Verwertung von Leid?
Verantwortung gegenüber den Opfern: Wie stellt man sicher, dass die Darstellung den Verstorbenen und Betroffenen gerecht wird?
Welche Tropen eignen sich besonders für indirekte Darstellung?
Bestimmte rhetorische Figuren haben sich als besonders geeignet für die Darstellung schwer fassbarer oder belastender Erfahrungen erwiesen:
Euphemismus (Beschönigung/Verhüllung):
- Mildert harte Realitäten ab: „entschlafen“ statt „sterben“
- Bei Erdmann: „Ausweichschule“ statt direkte Benennung der Katastrophe
- Gefahr: Kann zur Verschleierung oder Verharmlosung führen
Litotes (Verneinung des Gegenteils):
- „Nicht ungefährlich“ statt „sehr gefährlich“
- Schafft Distanz durch doppelte Verneinung
- Vorteil: Lässt Raum für eigene Interpretation des Lesers
Synekdoche (Teil für Ganzes):
- „Alle Hände an Deck“ – die Hand steht für die ganze Person
- Bei Erdmann: „Der elfjährige Kopf“ für das gesamte kindliche Bewusstsein
- Funktion: Macht Abstraktes konkret fassbar
Oxymoron (Widerspruch in sich):
- „Bittere Süße“, „lebender Tod“
- Besonderheit: Drückt Unauflösbarkeit von Gegensätzen aus – typisch für traumatische Erfahrungen
Chiasmus (Kreuzstellung):
- „Wir essen, um zu leben, und leben, um zu essen“
- Wirkung: Schafft sprachliche Spiegelung für psychische Kreisläufe
Anapher/Epipher (Wiederholung am Anfang/Ende):
- Kann obsessive Gedankenschleifen sprachlich nachahmen
- Beispiel: „Katze, sagt das Kind noch mal“ – die Wiederholung unterstreicht die Hartnäckigkeit falscher Deutungen
Ellipse (Auslassung):
- Erdmann: Die direkten Beschreibungen der Gewalt werden oft ausgelassen
- Das Nicht-Gesagte wird bedeutungstragend
- Bei schweren Themen: Was weggelassen wird, kann wichtiger sein als das Gesagte
Verwendete Literatur:
Birus, Hendrik: Metapher. In: RLW 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2007, S. 571-576.
Birus, Hendrik: Metonymie. In: RLW 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2007, S. 571-576.
Erdmann, Kaleb: Die Ausweichschule. Berlin 2025.
Huber: Christoph: Personifikation. In: RLW 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, S. 53-55.
Knapp, Fritz Peter: Vergleich. In: RLW 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, 755-757.
Meyer, Urs: Stilistische Textmerkmale. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Band 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Sonderausgabe. Herausgegeben von Thomas Anz. Stuttgart/Weimar 2013, S. 81-110.
Müller Farguell, Roger W.: Symbol2 In: RLW 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, S. 550-555.
[1] Meyer, Urs: Stilistische Textmerkmale. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Band 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Sonderausgabe. Herausgegeben von Thomas Anz. Stuttgart/Weimar 2013, S. 81-110, hier S. 105. [2] Ebd. [3] Birus, Hendrik: Metapher. In: RLW 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2007, S. 571-576, hier S. 571. [4] Knapp, Fritz Peter: Vergleich. In: RLW 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, 755-757, hier S. 755. [5] Meyer, Urs: Stilistische Textmerkmale. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Band 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Sonderausgabe. Herausgegeben von Thomas Anz. Stuttgart/Weimar 2013, S. 81-110, hier S. 105. [6] Müller Farguell, Roger W.: Symbol2 In: RLW 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, S. 550-555, hier S. 550. [7] Huber: Christoph: Personifikation. In: RLW 3. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, S. 53-55, hier S. 53. [8] Birus, Hendrik: Metonymie. In: RLW 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2007, S. 571-576, hier S. 588.
- Kaleb Erdmanns Die Ausweichschule – Strategien ästhetischer Verfremdung – 14. September 2025
- Martina Clavadetscher – Die Schrecken der anderen: Erzähltheorie, Figuren und Realität – 31. August 2025
- Literaturverweise in Konfliktdialogen – Waffe oder Ausrede? Department Q & Geoffrey Chaucer im Dialog – 17. August 2025