Tür 20 – Ian McEwan mit Abbitte

Hinter Tür Nummer 20 steckt mit Abbitte von Ian McEwan ein hinter dem Idyll verborgener literarischer Schwall mit kaltem Wasser.

20. Dezember – Literarischer Adventskalender 2024

Ian McEwans Roman Abbitte (im Original Atonement, 2001) ist ein brillant erzähltes Werk über Schuld, Wahrheit und die Kraft der Vorstellung, die Macht der Literatur. Ich habe zunächst den Film gesehen, der mit hochkarätigen Schauspielern wie Keira Knightley, James McAvoy und Saoirse Ronan besetzt und sehenswert ist. Ich weiß noch, dass ich mir damals nicht viel vom Film versprochen hatte, umso faszinierter war ich letztendlich dann. Der Film hat mich mit „einer kalten Wucht“ erwischt, wie Claudia Voigt es im Nachwort meiner Romanausgabe wohlgewählt beschreibt.

Was bedeutet Abbitte eigentlich abseits des Romantitels?

Wenn der Film schon so gut war, wie gut war dann erst das Buch? Die Filme, die ich besser fand als die Buchvorlagen, kann ich an einer Hand abzählen. Also habe ich den Roman natürlich auch irgendwo im Schrank stehen. Abbitte – das ist ein nicht so häufig gebrauchtes Wort – jedenfalls höre ich es nicht im Alltag. Ich leiste Abbitte – das sagt doch heute keiner mehr. Hört sich so gesehen auch recht hochtrabend an, was es auch ist, setzt man den Begriff vergleichsweise in Beziehung zu gebräuchlicheren Begriffen, die hinsichtlich ihrer Bedeutung ähnlich sind. Es geht bei Abbitte um Reue, der Übernahme von Verantwortung, die sich aber von den geläufigen und einfacheren Begriffen wie Entschuldigung abhebt, wodurch eine emotionale und oft symbolische Schwere gekennzeichnet ist. Bei der Sühne wird mehr Wert auf den Akt der Wiedergutmachung gelegt, die Buße betont die Bestrafung oder die Läuterung durch ein Opfer. Es geht bei einer Abbitte um eine ernstgemeinte Wiedergutmachung für begangenes Unrecht, um eine Korrektur, um Wiederherstellung.

Hinter Tür Nummer 21 des Literarischen Adventskalenders 2024 steckt Abbitte von Ian McEwan.

Abbitte von Ian McEwan ist lesenswert, weil…

👉 McEwan mit beeindruckender Präzision die Themen Schuld, Liebe und Vergebung literarisch verarbeitet.
👉 die vielschichtigen Figuren und die überraschende Wendung am Ende lange nachhallen.
👉 der Roman eindrucksvoll die Zerstörungskraft von Vorurteilen und Missverständnissen darstellt.
👉 McEwan nicht nur eine tragische Liebesgeschichte erzählt, sondern auch die Macht der Literatur und der menschlichen Vorstellungskraft reflektiert.
👉 die kunstvoll verschachtelte Erzählweise und die poetische Sprache ein einzigartiges Leseerlebnis bieten.
👉 eindringlich gezeigt wird, wie Erinnerung und Wahrheit zum Umgang mit Schuld und Scham forciert manipuliert werden können.

Ein kleiner Vorgeschmack auf Abbitte

Mit elf Jahren schrieb Briony ihre erste Geschichte – ein törichtes, ein halbes Dutzend Volkssagen imitierendes Stückchen, dem es, wie sie erst später begriff, an jener Weitläufigkeit mangelte, die dem Leser unwillkürlich eine gewisse Achtung abnötigt. Doch zeigte ihr bereits dieser unbeholfene Versuch, welch ein Quell von Geheimnissen die schöpferische Phantasie ist: Saß sie an einer Geschichte, durfte niemand davon erfahren. Das Erdachte war zu zart, zu empfindlich, zu beschämend, als daß man irgendjemandem davon erzählen durfte. Sie zuckte schon zusammen, wenn sie nur sie sagt oder und dann niederschrieb, und wurde verlegen, wenn sie vorgab, die Gefühle einer bloß erfundenen Person zu kennen. Schilderte sie die Schwächen einer Figur, gab sie notgedrungen etwas Persönliches preis, da der Leser doch zwangsläufig vermuten mußte, daß sie sich selbst beschrieb. Auf welche andere Autorität hätte sie sich sonst berufen können? Erst wenn eine Geschichte fertig war, wenn sämtliche Schicksale bekannt, alle Knoten gelöst waren und das Opus einen Anfang und ein Ende hatte, so daß es wenigstens in dieser Hinsicht allen anderen fertigen Geschichten dieser Welt glich, fühlte sie sich unangreifbar und war bereit, Löcher in den Rand zu stanzen, die Kapitel mit einem Stück Schnur zusammenzubinden, ein Deckblatt zu bemalen und das vollendete Werk ihrer Mutter oder auch ihrem Vater zu zeigen, wenn der ausnahmsweise mal zu Hause war. […]
Die Familie ermunterte Briony, ihre Geschichten in der Bibliothek vorzulesen, und es überraschte die Eltern und auch die große Schwester wie unerschrocken dieses stille Mädchen auftrat, um die Zuhörer in den Bann seiner Erzählkunst zu ziehen, wie es mit dem freien Arm gestikulierte, beim Sprechen der Dialoge die Augenbrauen in die Höhe zog und beim Lesen sogar sekundenlang vom Blatt aufschaute, um nacheinander jedem ins Gesicht zu sehen und unverhohlen die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Familie einzufordern. Doch selbst ohne deren Aufmerksamkeit, ohne ihr Lob und ihre unübersehbare Freude an den Geschichten wäre Briony nicht vom Schreiben abzubringen gewesen. […]
Sie kannte nun ihren Weg und fand Erfüllung auf anderen Ebenen, denn Geschichten drehten sich nicht bloß um Geheimnisse, sie schenkten zudem noch jenen Genuß, den ihr alles Verkleinern breitete. Auf fünf Seiten konnte sie eine Welt erschaffen, die sie glücklicher machte als ihre Modellbauernhof. Die Kindheit eines verwöhnten Prinzen ließ sich auf einer halben Seite umreißen, für einen Ritt im Mondschein durch verschlafene Dörfer brauchte sie nur einen einzigen rhythmisch betonen Satz, und mit einem Wort – einem Blick – vermochte sie die Liebe zu wecken. War eine Geschichte zu Papier gebracht, schienen die Blätter vor lauter Leben in ihrer Hand zu beben. Selbst ihrer Ordnungsliebe konnte sie frönen, ließ sich mit Worten doch jedes Chaos in geregelte Bahnen lenken. Eine Krise im Leben der Heldin durfte sie mit Hagelschauer, Donner und Sturm untermalen, wohingegen Hochzeitsfeierlichkeiten gemeinhin mit strahlendem Sonnenschein und einer sanften Brise gesegnet waren. Auch die waltende Gerechtigkeit gehorchte ihrem Ordnungssinn, denn Tod und Eheschließung verkörperten die treibenden Kräfte einer jeden Geschichte, wobei ersterer ausschließlich den moralisch fragwürdigen Figuren vorbehalten blieben und letzte als Belohnung bis zur letzten Seite hinausgezögert wurde.
Aus: Ian McEwan: Abbitte. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Mit einem Nachwort von Claudia Voigt. Zürich 2002, S. 15-16.

Der Autor als Gott seiner Welt

Was hier in diesem Absatz thematisch anklingt, ist die Macht, die der Autor, in diesem Fall die Autorin Briony, über die von ihr geschriebenen Geschichten und die darin agierenden Figuren hat. Das ist nicht neu. Aber die Umsetzung variiert doch immer wieder. Mir persönlich fallen spontan zwei Werke ein: Daniel Kehlmanns Ruhm und daraus insbesondere die Geschichte Rosalie geht sterben sowie John Greens The Fault in our Stars. Macht also. Autorinnen und Autoren besitzen Macht über ihre erschaffene Welt. Es ist ein Leichtes, dort Menschen zu Ruhm kommen zu lassen oder sie in einer Nebenhandlung ins Nichts zu befördern – den literarischen Tod sterben zu lassen, der für die Figuren in ihrer Welt doch so real ist. Oder aber indirekt Rache zu nehmen, an ihnen vergangenheitlich nicht wohlgesonnenen Menschen. Oh, DAS ist ein anderes Blatt! Sind Autoren Kontrollfreaks? – Muss jeder für sich selbst beantworten. Briony jedenfalls liebt Ordnung.

Aber wichtig ist doch auch die Macht, die von Literatur ausgeht! Es gibt nämlich mehrere Ebenen auf denen schöpferische und inspirative Macht wirkt. Dazu lasse ich kurz Claudia Voigt aus dem Nachwort sprechen: „»Abbitte« ist auch eine Liebesgeschichte. McEwan spielt mit der Sehnsucht seiner Leser nach einem romantischen Happyend, wie nur ein großer Schriftsteller das kann denn das ungetrübte Glück, von dem man träumt, wenn man von einem Happyend träumt, gibt es so eben nur in der Literatur (oder im Kino). Deshalb hat Literatur Macht, sie kann Wünsche erfüllen, für die das Leben zu kompliziert ist.“

Claudia Voigt: Nachwort. In: Ian McEwan: Abbitte. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Mit einem Nachwort von Claudia Voigt. Zürich 2002, S. 500-507, hier S. 504.

Die Macht des Autors / der Literatur in Abbitte von Ian McEwan

Wir sehen, es geht um Erwartungen. Diese sind natürlich gebunden an den Autor (hier McEwan), den man für gewisse Werke bereits gekannt hat bei der Veröffentlichung von Abbitte, sie sind verbunden mit dem Titel, mit dem Genre, mit der Aussage des Klappentextes oder anderen einsehbaren Inhaltsangaben und Leseproben. Das würde jetzt zu weit führen. Aber man kann doch sagen, dass Literatur die Macht hat, uns für den Moment etwas zu geben, was die Realität uns nicht geben kann?! Also das ist eine Frage, die ich persönlich einerseits schnell beantworten könnte, doch bei genauerem Überlegen müsste ich länger nachdenken und alle Aspekte ausloten. Das ist hier nicht möglich. Aber Macht, die Macht des Autors über seine Schöpfung, die in unserer Realität Wellen schlagen kann, Echos erzeugen und Ereignisse wandeln, die ist unumstößlich!

Es gibt zwischen Realität und Fiktion ein Abhängigkeitsverhältnis, eine Beziehung, eine Verknüpfung, Interaktion, Wechselwirkung, Korrelation, einen Zusammenhang, eine Einflussnahme, die auch integrativ ist, verschmelzend, einverleibend, absorbierend, infiltrierend, übertragbar. Ganz klar. Erschaffen ist Macht. Wer steht da nicht drauf?! War es im Kindesalter der Legozoo oder Puppen; werden es im Schreibakt Figuren und Personen; werden es im Erwachsenenalter Angestellte, Wertpapiere und wer weiß was noch – Obsessionen wie Sex, Drogen, Nervenkitzel.

Abschließend noch einmal Claudia Voigt, die Ian McEwan zitiert:
»Wir sind nur Tiere mit Kleidern, die ganz merkwürdige Sachen machen, wie Affen auf einer Teegesellschaft«, hat McEwan einmal gesagt. In »Abbitte« nähert er sich dem letztlich Unergründlichen, das der Nährboden aller Literatur ist, nicht nur als Psychologe, sondern auch als eine Art Chirurg. Seine Meisterschaft liegt darin, dass er seine intellektuellen Volten über das Wesen des Menschen und der Literatur in einen wunderbar zu lesenden klassisch englischen Roman gefasst hat.“

Claudia Voigt: Nachwort. In: Ian McEwan: Abbitte. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Mit einem Nachwort von Claudia Voigt. Zürich 2002, S. 500-507, hier S. 507.

Worum geht es in Ian McEwans Abitte?

Die Handlung von Abbitte spielt in England, beginnend im Sommer 1935, und erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte, eingebettet in die historischen Umbrüche des Zweiten Weltkriegs. Im Zentrum steht die junge Briony Tallis, eine aufstrebende Schriftstellerin, deren fehlgeleitetes Verständnis von Ereignissen eine tragische Kette von Missverständnissen und Konsequenzen auslöst. Sie beschuldigt fälschlicherweise Robbie Turner, den Sohn der Haushälterin, eines Verbrechens, das er nicht begangen hat. Diese Anschuldigung zerstört nicht nur Robbies Leben, sondern auch die Liebesbeziehung zwischen ihm und Brionys älterer Schwester Cecilia. Die Figuren sind komplex und vielschichtig gezeichnet. Thematisiert werden unter anderem Klassenunterschiede, die Auswirkungen von Krieg und der Einsatz der Literatur zur Formung der Realität. McEwans präzise Sprache und die geschickte narrative Struktur machen Abbitte zu einem eindrücklichen und bewegenden Werk über Schuld und die Unmöglichkeit, die Vergangenheit vollständig wiedergutzumachen.

Abbitte im grob skizzierten Dreiaktschema nach Aristoteles

Der Roman lässt sich auch nach dem Aristoteles zugeschriebenen Dreiaktschema strukturieren. Ganz platt gesagt geht es eigentlich nur darum, dass Aristoteles in seiner Poetik sagt, dass eine Geschichte einen Anfang, eine Mitte und Ende haben sollte. In diesem Sinne lässt sich auch Abbitte in drei Teile strukturieren.

Erster Akt (Exposition)
Einführung der Figuren, der Welt und des Konflikts – Die dreizehnjährige Briony Tallis beobachtet auf dem Landsitzt ihrer Familie eine Reihe von Ereignissen und missinterpretiert sie, woraufhin Robbie verhaftet wird, Cecilia und er sich trennen müssen.

Zweiter Akt (Konfrontation)
Eskalation des Konflikts, Hindernisse und Herausforderungen: Robbie kämpft im Zweiten Weltkrieg und sehnt sich nach Cecilia, die den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat. Briony arbeitet als Krankenschwester.

Dritter Akt (Auflösung)
Höhepunkt und Lösung des Konflikts, oft mit einer Katharsis – nach einem Zeitsprung erfährt man, dass Briony eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist und was aus ihrer Familie geworden ist.

Ian McEwan – Meister der modernen Literatur

Der 1948 geborene Ian McEwan ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen britischen Schriftsteller und bekannt für seine präzisen und scharfen literarischen Beobachtungen in Bezug auf gesellschaftskritische Themen. Geboren in Aldershot, England, studierte er englische Literatur und Kreatives Schreiben an der University of East Anglia, wo er zu den ersten Absolventen des renommierten Schreibprogramms gehörte. Sein literarisches Debüt gab McEwan 1975 mit der Kurzgeschichtensammlung First Love, Last Rites, die ihm den Somerset-Maugham-Preis einbrachte. Seine Romane wie Abbitte (Atonement, 2001), Amsterdam (1998, Gewinner des Booker Prize) und Abendstern (Saturday, 2005) haben ihn weltweit bekannt gemacht. McEwans Werke zeichnen sich durch moralische Dilemmata, komplexe Charaktere und einen luziden Blick auf gesellschaftliche und historische Entwicklungen aus. Neben literarischen Themen widmet sich McEwan auch zeitgenössischen Debatten, etwa in seinem Roman Maschinen wie ich (Machines Like Me, 2019), in dem ethische Fragen rund um künstliche Intelligenz aufgeworfen werden.

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