Tarsem Singhs The Fall – Erzählen und Imagination

Tarsem Singh drehte sein Meisterwerk the Fall an vielen ausgewählten Locations, so auch am großen Tor am Taj Mahal. Quelle: Bishnu-Sarangi-auf-Pixabay

The Fall von Tarsem Singh ist ein 2006 erschienenes (und 2024 überarbeitetes) visuell opulentes Filmdrama und eine Homage an die Kraft des Erzählens, insbesondere auch an den Zauber von Filmen. Nicht nur die Erzählstruktur ist außergewöhnlich, auch die unterschiedlichen und durch die Figuren evozierten Erzählebenen sind auf individuelle Weise im Film integriert. Und ist nicht gerade die einzigartige Wahrnehmung eines literarischen Werkes, einer mündlich vorgetragenen Geschichte oder eines Films auch eine Facette des Erzählens und Erlebens von Sprache?! Ich möchte mit diesem Beitrag gezielt Licht auf bestimmte Aspekte von Tarsem Singhs The Fall werfen und eine Lanze für den Film brechen. Neben dem Rausch an Farben und Objekten wird der Film übrigens untermalt von Beethovens Sinfonie Nr. 7 in A-Dur op. 92 – II. Allegretto. Hier zum Einstieg der Trailer.

Inhaltsverzeichnis

Einleitende Worte zur Kraft von Literatur und der individuellen Wahrnehmung zur Lektüre

Auf der Verleihung zum Deutschen Buchpreis 2024 sagte die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs: „Die vielleicht größte Entwicklung bietet die Literatur selbst. Die Perspektiven und Stimmen die durch sie sichtbar werden. Literatur bildet Realitäten ab und hält uns einen Spiegel vor. Literatur bietet aber auch immer Gegenentwürfe zur Wirklichkeit. Literatur hilft beim Nachdenken über uns selbst und andere. Und sie tut es, ohne eindeutig zu sein. In ihrem fiktionalen Charakter ist sie immer polyvalent. Der oder die Leser:in erlebt das Gelesene individuell gepaart eben mit eigenem Erleben, eigenem Denken, eigenen Erfahrungen. Keine zwei Menschen lesen einen Roman genau gleich. Für meinen Begriffe liegt in genau dieser Polyvalenz die unglaubliche Kraft der Literatur.“[1]

Und ebendies gilt auch für Filme, bzw. die Erzählungen in The Fall, auch wenn es sich um ein anderes Medium handelt. Ich kann den Film hier leider nur beschreiben und Trailer anbieten, aber ich hoffe, ich kann Neugier wecken. The Fall hat darüber hinaus hinsichtlich des thematischen Schwerpunkt über das Erzählen viel gemeinsam mit dem Film Three Thousand Years of Longing, in dem es um Mythenrezeption und gleichfalls das Erzählen geht. Überschneidungen hinsichtlich der Dialogstruktur erkenne ich darüber hinaus mit dem Kollektivroman Wir kommen, der als ein Dialog in Gesprächsform zwischen verschiedenen Autor:innen verfasst wurde. Und wie in Das Haus am See geht es auch um die Überlappung verschiedener literarischer oder filmischer Szenerien durch die Zeit.

Auch haben sich andere im Zuge der Aktualisierung intensiver mit dem Film auseinandergesetzt:

Worum geht es in Tarsem Singhs Film The Fall?

Los Angeles 1915. Stuntman Roy Walker liegt nach einem Sturz gelähmt im Krankenhaus. Er lernt das fünfjährige Mädchen Alexandria kennen, die beim Mandarinenpflücken ebenfalls von der Leiter gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat. Er beginnt, ihr eine Geschichte epischen Ausmaßes zu erzählen und verwebt auf kunstvolle Weise seine Realität bzw. die Inhalte des Films in dem er mitgespielt hat, mit einer fantastischen Erzählung. Im Film hören wir Roy reden, doch wir sehen mit Alexandrias Augen (es folgen Beispiel dazu). Roy erzählt jedoch mit einer bestimmten Absicht und versucht Alexandria mit seiner Erzählung zu manipulieren. Er erpresst sie sozusagen, indem er die Spannung steigert und erst weitererzählen will, wenn sie etwas Bestimmtes für ihn tut. Fiktion und Realität der Figuren gleichen sich immer weiter an, bis es zum abschließenden Showdown und zur heilsamen Erlösung durch Erzählen kommt. Im Film wechselt die Szenerie zwischen dem Krankenhaus als Ort der Rahmenhandlung und der fantastischen Erzählung der Binnenhandlung.

Informationen zur Erzählstruktur von Tarsem Singhs Film The Fall

Für diese Erzählung im Film, die Binnenhandlung, gab es kein Drehbuch, alleine strukturelle Vorgaben, von der nur der Hauptdarsteller Lee Pace wusste. Seine Schauspielpartnerin, die achtjährige Catinca Untaru, verließ unbewusst diese Struktur und wurde erzählerisch ausschweifend, während Lee bzw. die von ihm verkörperte Figur Roy versucht, innerhalb der strukturellen Vorgaben zu bleiben.[2] Der Dialog zwischen beiden, aus dem sich die Geschichte formt, kann so besonders authentisch wirken, weil das Gespräch ungekünstelt war, denn Catinca war sich in der Rolle der Alexandria über weite Teile des Films nicht vollkommen bewusst, dass sie gefilmt wurde.[3] Catinca Untaru und Lee Pace improvisierten auf Basis der Strukturvorlage, sodass eine vollkommen originäre Geschichte entstand, die Tarsem Singh dann im Laufe von vier Jahren in 24 Ländern an ausgewählten Orten, wie Schlössern und Wüsten und weltberühmten Monumenten und mehr, nachdrehte. In sein Herzensprojekt investierte er selbst sein eigenes Geld und ging mit einem von Budget von 30 Millionen Dollar sogar fast in den Bankrott.[4] Die Investition hat sich in jedem Fall gelohnt! The Fall ist einzig, es handelt sich um ein wertvolles, individuelles und persönliches Kunstwerk.[5] Und auch Tarsem Singh sagte in einem aktuellen Interview mit Ella Kemp von Letterboxd, dass er es wieder tun würde. Der Film sei sein Baby.[6] Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Warum ich so begeistert von The Fall bin, werde ich folgend anhand einiger Beispiele aufführen.

Die eigene Imagination bei der Rezeption von The Fall und von den Figuren

Wie schon im Zitat bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises erwähnt, hat jeder Mensch bei der Lektüre seine eigene Perspektive – das gilt auch für das Ansehen eines Films. Gerade das zeigt der Film in phänomenalen Ausmaßen! Denn Sprache und Imagination eines jeden Menschen sind verschieden und führen zu Missverständnissen auf Basis des unterschiedlichen Wissens, das jeder in sich trägt, wie auch ein Gespräch zwischen Roy und Alexandria zeigt:

Roy: You’re the one who asked for a pirate story.
Alexandria: No.
Roy: Yes, you did.
Alexandria: Mh mh. I just wanted to know if your friend was a pirate.
Roy: Why?
Alexandria: Because he has just one leg.
Aus: Singh, Tarsem: The Fall [Film]. Indien, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten 2006, Googly Films RadicalMedia Absolute Entertainment, 0:22:05-0:22:29.

Interessant finde ich an diesem kurzen Dialog, dass Alexandria in Roys Freund, der ebenfalls ein Stuntman ist, wegen seiner Beinprothese einen Piraten erkennt. Sie, die fiktionale Figur, wird Geschichten über Piraten kennen, wobei zur Rolle des Piraten neben dem Schiff, dem Säbel, den Ohrringen und dem Papagei oder dem Haken an der Hand auch ein Holzbein gehören kann. Diese traditionellen Elemente gehören zur kulturell tradierten Rolle eines Piraten und Alexandria weiß dies. Wäre das Gespräch im Film nicht wie beschrieben authentisch abgelaufen, dann wäre das Wissen der Figur ihr über den Schöpfer Tarsem Singh eingeflößt worden, was nur gegangen wäre, weil er ebenfalls die typischen Attribute eines Piraten kennt. Mit dem Wissen über die Freiheit der Figuren hinsichtlich ihrer Gesprächsführung darf davon ausgegangen werden, dass Alexandria / Catinca diejenige ist, der dieses Wissen zugeschrieben werden kann. Und sowieso wird über das Erzählen Wissen weitergegeben, dazu gehört auch das literarische Erzählen und das Erzählen in Filmen.

Was ist eigentlich Erzählen?

Es folgen einige Informationen zum Erzählen als Einführung. Einer präzisen Begriffsbestimmung stehe zunächst im Weg, dass ›Erzählen‹ sowohl ein alltagssprachliches Wort als auch ein wissenschaftlicher Terminus sei[7], so der Literaturwissenschaftler Matías Martínez. Der Ausgangspunkt für dieses Dilemma lautet daher: „Erzählen ist Geschehensdarstellung.“[8] Martínez unterteilt das Erzählen weiter nach drei Kriterien der Konkretheit, der Temporalität (die spezifische Chronologie) sowie die Kontiguität, also die zeitliche, kausale und räumliche Bezogenheit der erzählten Gegenstände aufeinander.[9] Man könnte auch grob formulieren: Es geht beim Erzählen um das Was, um das Wann, das Wo und Wie. Ist Erzählen eine anthropologische Universalie? – fragt Christoph Meister, wenn er das Erzählen als etwas dem Menschen Zugehöriges kategorisiert und feststellt:

„Erzählen leistet mehr als das bloße Auflisten von unzusammenhängenden Ereignissen und punktuellen Beobachtungen; es stellt Zusammenhange her. In dieser Funktion begegnet es uns als medienübergreifendes Phänomen, das nicht notwendig an Sprache oder Texte gebunden ist: Zeichnungen und Bilder, Gesten, Filme, das Ballett, die Performance und womöglich sogar architektonische und musikalische Artefakte können ereignisverknüpfende Geschehensberichte liefern.“[10]

Das Erzählen als anthropologische Universalie

Für mich persönlich ist Erzählen eine anthropologische Universalie. Und das nicht nur, weil sich Menschen seit jeher mittels Sprache, Gestik, Mimik oder Zeichnungen mitgeteilt haben, sondern weil mich anthropologische Überlegungen zur Entwicklung der Sprache und ihre Rolle für die Literatur überzeugt haben. So hat der Anthropologe Robin Dunbar an Primaten geforscht und überträgt das komplexe Sozialleben, das zur Fellpflege gehört, das sogenannte Grooming, und für Verbundenheit und Austausch sorgt, auf den Menschen und das Erzählen.[11] Ist Grooming eine Sache unter zwei Affen, können mit Erzählungen mehr Individuen in einer Gruppe erreicht werden. Salopp formuliert könnte man sagen, dass durch die Entwicklung der Sprache beim Menschen nicht nur Zeiteinteilung bei der Beziehungspflege ökonomischer aufgeteilt wird, sondern es werden durch andere überlebenswichtige Informationen in der Gruppe geteilt, Zugehörigkeit gefestigt, relevante Neuigkeiten schnellstmöglich über Gespräche verbreitet. Dunbars These lautet demzufolge auch, dass die Sprache entstanden sei, damit wir tratschen.[12] Zwei Drittel aller Alltagsgespräche drehen sich um zwischenmenschliche Beziehungen und ihre Bewertung.

„Gleichzeitig weisen Erzählforscher darauf hin, daß nicht nur in den gegenwärtigen westlichen Industriegesellschaften, sondern auch in den oral verfaßten Kulturen und in den illiteraten Schichten von Schriftkulturen die sogenannten Alltagserzählungen immer schon einen ungleich größeren Anteil am Erzählen einnehmen als die von der Forschung so lange privilegierten Märchen, Mythen und Sagen.“[13]

Erzählen als sprachbasierte Fenster der Seele und anthropologisches Werkzeug

Erzählen ist allgegenwärtig. Wir erzählen von uns, glücklichen und traurigen, aufregenden und hoffnungsvollen Momenten, schmücken aus, lassen Dinge weg, füllen Leerstellen mit Schlussfolgerungen und so weiter. An das Erzählen sind auch psychologische Motive und Emotionen geknüpft wie Scham, Stolz, Freude, Neid und mehr. Einige ist das Erzählen vielleicht aus der religiösen Praxis der Beichte oder liturgischen Zusammenhängen bekannt, andere kennen es aus therapeutischen Begegnungen oder ganz allgemein der Informationsbeschaffung im Alltag. Gottfried Keller hat beispielsweise in seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe eine ihm bekannte Zeitungsneuigkeit über den Freitod zweier junger Menschen literarisch verarbeitet. Überhaupt verarbeiten Menschen durch den Schreibprozess bewusste und unbewusste Erlebnisse, kann Schreiben als eine Art Ersatzgesprächstherapie von innen heraus sogar heilsam wirken. Viele Autor:innen verarbeiten eigene Eindrücke aus ihrem Alltag, ihren Beziehungen und ihrer Vergangenheit in ihren Romanen und beziehen dabei noch den zeitgenössischen oder historischen Kontext ein. So auch die Gewinnerin des diesjährigen Buchpreises Martina Hefter mit ihrem Roman Hey guten Morgen, wie geht es Dir? Diesbezüglich möchte ich mir auch den Roman von Clemens Meyer Die Projektoren genauer ansehen, der wohl weniger autofiktional aber intertextuell und intermedial nicht linear erzählt auf verschiedenen Zeitebenen mit viel Wissensinhalten aufwartet. Aber immerhin entstieg das Werk einer Idee, die ihn nicht losgelassen hat. Jedenfalls drängen aktuell sehr viele autofiktionale Romane auf den Buchmarkt, Autofiktion – ein Trend, in dem Autor:innen von ihrem Leben erzählen, die Figuren eindeutig als die Autor:innen zu erkennen sind, allerdings fiktionale, erfundene Elemente enthalten können. Das unterscheidet sich von der faktisch orientierten Autobiografie. Jedenfalls kommt auch Jan Christoph Meister zu dem Schluss:

„Menschen erzählen in allen Epochen und Gesellschaften, und dies nicht nur in der schonen Literatur oder im geselligen Kreis, sondern auch im Alltag und damit zu handfesten Zwecken – zur Information, zur Instruktion, zur Kommunikation und Weitergabe von Erfahrungen ebenso wie mit manipulativer Absicht.“[14]

Und mit der manipulativen Absicht, die mit dem Erzählen einhergehen kann (die ja möglicherweise beim Verfassen eines Romans auch ökonomische Beweggründe haben kann und weniger unbewusste Aufarbeitungsstrategie ist) sind wir auch wieder bei Tarsem Singhs Film The Fall und seiner Figur Roy Walker. Der erzählt seine epische Geschichte nämlich nur, damit Alexandria ihm als Bandit (einer der Helden in Roys Geschichte) Tabletten stiehlt, damit er Suizid begehen kann. Neben seiner Verletzung leidet er unter Liebeskummer.

Für einen kleinen Überblick werde ich zunächst auf die Figuren der Rahmen- und Binnenhandlung eingehen und die groben strukturellen Zusammenhänge herstellen.

Die Rahmenhandlung in The Fall von Tarsem Singh (Los Angeles, 1920er Jahre, Krankenhaus)

Im Zentrum der Handlung steht das Schicksal von dem Stuntman Roy Walker, der sich nach einem schweren Unfall am Filmset im Krankenhaus von einem Sturz erholt. Er ist nicht nur physisch geschädigt und kann seine Beine nicht bewegen, sondern hat zudem eine Depression und Suizidgedanken entwickelt. Diese sind nicht nur auf den Unfall zurückzuführen, sondern auch auf seinen Liebeskummer. Seine Angebetete hat sich dem Hauptdarsteller des Films zugewandt, in dem er mitspielte, der Star des Films, für den Roy den Stunt ausgeführt hat. Im Krankenhaus lernt er Alexandria kennen, die sich wegen eines gebrochenen Arms in Behandlung befindet.

Roy beginnt mit manipulativen Absichten, Alexandria eine „epische Geschichte von Liebe und Rache“ zu erzählen, damit sie ihm Tabletten für seinen geplanten Suizid klaut. In Alexandrias Vorstellung vermischen sich die Figuren der erzählten Geschichte mit den Personen, die sie im Krankenhaus sieht ebenso wie Dinge, die ihr im Alltag begegnen und die wir als Publikum dann im Film sehen können – in der Rahmenhandlung als Objekte wie ein die Figur eines Elefanten – die Tiere werden im Film zu wichtigen Helfern der Helden. Im Laufe der Zeit nimmt Alexandria aktiv Einfluss auf Roys Geschichte (wie es ja tatsächlich auch in der Realität der Schauspieler war), hinterfragt Unstimmigkeiten, fügt eigene Ideen hinzu und lenkt die Erzählung, wenn ihr Teile nicht gefallen. Allerdings erzählt auch Roy autofiktional. Immerhin ist böse Antagonist seiner Geschichte – Gouverneur Odious – der Schauspieler, der sich seine Herzdame geschnappt hat.

Eine Liste der Figuren aus der Rahmenhandlung von Tarsem Singhs Film The Fall

Hauptfiguren aus The Fall

  • Roy Walker – gelähmter Stuntman, traumatisiert durch Unfall und Liebeskummer (ist in der Binnenhandlung der Maskierte Bandit)
  • Alexandria – 5-jähriges Mädchen mit gebrochenem Arm, Tochter von Orangenpflückern (ist in der Binnenhandlung die Tochter des Maskierten Banditen)

Nebenfiguren aus The Fall

  • Roys Ex-Freundin (eine Schauspielerin)
  • Der Filmstar (für den sie Roy verließ) – in der Binnenhandlung der Antagonist Gouverneur Odious
  • Alexandrias arbeitende Familie
  • Ihr indischer Kollege beim Orangenpflücken
    (Wird in der Binnenhandlung der Inder – wobei Roy von Indianern erzählt und in Alexandrias Vorstellung und ihrer persönlichen Bezugnahme ihr Kollege vor ihrem inneren Auge erscheint)
  • Der Eisverkäufer im Krankenhaus
    (Ist in der Binnenhandlung der ehemalige Sklave Otta Benga)
  • Schwester Evelyn – fürsorgliche Krankenschwester, die eine Affäre mit einem Arzt hat (wird in der Binnenhandlung die Geliebte des Banditen und Verlobte von Gouverneur Odious)
  • Roys Freund, der ebenfalls Stuntman ist und eine Beinprothese trägt (wird zu Luigi dem Sprengstoffexperten, weil Alexandria sich den Verlust des Beins durch einen Unfall bei einer Explosion herleitet)
  • Ein Arzt (wird zu Darwin)
  • Der Pfarrer (Er wird einer der bösen Helfer von Odious)
  • Der Röntgenmann (Er wird ebenfalls zu einem der bösen Schergen von Odious)

Wie gesagt hören wir Roy erzählen, aber wir sehen Alexandrias Imagination. Daher werden die Menschen, die sie im Krankenhaus trifft zu Figuren in Roys Geschichte, weil sie diesen laut dem was sie hört, Rollen auf Basis ihres Wissens zuweist.

Die Binnenhandlung in The Fall von Tarsem Singh (Roys epische Geschichte über Liebe und Rache)

In Roys Geschichte gibt es fünf Helden, die alle ein Ziel haben: Sie wollen Rache nehmen an dem bösen Herrscher Gouverneur Odious. Roys Geschichte beginnt mit der Einführung des Schwarzen Banditen mit der Maske, der auf Rache an dem bösen Gouverneur Odious sinnt. Er ist Roys Alter Ego und ein charismatischer, mutiger Held, der – zwar getrieben von Rache – auch einen Sinn für Gerechtigkeit besitzt. In seinem Verhalten spiegeln sich Roys emotionale Zustände beim Erzählen, die sich auf die Ereignisse in der Rahmenhandlung beziehen. Es ist interessant, dass der Gouverneur in Roys Geschichte eine absolut antagonistische Figur darstellt, der er keinerlei Graustellen zuweist, also gnadenlos böse ist. Zieht man in Betracht, dass dieser Mann der Filmstar ist, für den Roy den Stunt ausgeführt und für den sich seine Angebetete entschieden hat, ist ein derartiger Hass verständlich.

Die Figuren der Binnenhandlung aus Roys epischer Erzählung in The Fall

  • Der Maskierte Bandit (Roys Alter Ego in der Geschichte)
    Roy stattet ihn zuerst mit einer Zahnlücke aus, die er bei Alexandrias Vater auf einem ihrer Fotos gesehen hat. Daher erkennt sie sich später als die Tochter des Banditen.
  • Luigi, der italienische Feuerwerkexperte
    Luigi wurde von Odious des Landes verwiesen, weil er als Sprengstoffexperte zu mächtig wurde. Odious verfügte, dass niemand mehr mit ihm reden durfte. Er konnte nicht einmal zu seinem Priester und die Beichte ablegen, woraufhin er schwor, Odious zu töten.
  • Otta Benga
    Otto Bengas Bruder starb bei der Sklavenarbeit unter Odious, woraufhin er alle Sklaven befreite und Rache schwor.
  • Der Inder
    Der Inder schwor Rache an Odious, weil dieser den Tod seiner Frau auf dem Gewissen hatte.
  • Charles Darwin mit seinem speziellen Affen Wallace
    Charles Darwin liebte alles, was lebte. Er suchte mit seinem Affen Wallace nach einem Schmetterling namens Americana Exotica. Odious schickte ihm diesen tot, woraufhin Darwin schwor, ihn zu töten. (Interessant ist, dass hier die Fakten verkehrt werden, denn immerhin hat die historische Person Darwin selbst Schmetterlinge gesammelt dazu später mehr)

Ein sechster Held, der Mystiker, wird sich im Verlauf der Erzählung zu ihnen gesellen. Der Mystiker wurde geschickt, um den Helden gegen Odious beizustehen.  Und auch Alexandrias Alter Ego, die Tochter des Maskierten Banditen wird in der Erzählung auftauchen, wenn sie sich selbst in Roys Geschichte hineinspricht.

Die Verwobenheit von Fakten und Fiktion durch das Erzählen in Tarsem Singhs The Fall

Der Maskierte Bandit jedenfalls versammelt eine Gruppe von fünf außergewöhnlichen Helden um sich, die alle ein Ziel haben: Rache an dem bösen Herrscher Gouvaneur Odious. Es ist interessant, dass Roy erzählt, aber Alexandria nur verstehen kann, was sie weiß und bereits kennengelernt hat. Wenn wir also dem Film folgen, dann folgen wir Alexandrias Fantasievorstellungen, wie sie die Geschichte von Roy erzählt wahrnimmt. Aus diesem Grund ergeben sich auch Differenzen zwischen den Bildern und den Wörtern. Als Roy seine Helden einführt, hat er den Westernfilm im Sinn, bei dem er als Stuntman mitgespielt hat. Wenn er also von einem Indian spricht, dann meint er einen Indianer, einen Amerikanischen Ureinwohner, wohingegen Alexandria ihren Kollegen vom Orangenpflücken, den Inder vor ihrem inneren Auge sieht. In ihrer Vorstellung wird die von Roy erwähnte Squaw zu einer orientalischen Prinzessin, wird das Wigwam zu einem prächtigen indischen Palast. Hier die entsprechende Erzählpassage

Then, there was the Indian. Who whenever anxious, always stroked his brow. The Indian was supposedly married to the most beautiful squaw in the world. Yet nobody had seen her. To verify this, Odious disguised himself als a leper. And when he saw her reflection, he was smitten. Looking the doors to his Wigwam, the Indian stood guard. Litttle do they know, he was guarding an empty home for his wife had already been kidnapped by the evil Governor Odious. But the sqaw refused to show herself to him. So Odious had her thrown into the Labyrinth of Despair. Eventually she realized there was only one way out. [Sie springt von einem Turm aus dem steinernen Labyrinth in den Tod] While murning his wife’s death the Indian took a blood oath never to look a another squaw and tthat he would be responsible for Governor Odious’s death.
Aus: Singh, Tarsem: The Fall, 0:18:17-0:19:46.

Die deutsche Übersetzung

Dann war da noch der Indianer. Der sich, wenn er besorgt war, immer über die Augenbraue strich. Der Inder war angeblich mit der schönsten Squaw der Welt verheiratet. Doch niemand hatte sie gesehen. Um dies zu überprüfen, verkleidete sich Odious als Aussätziger. Und als er ihr Spiegelbild sah, war er hin und weg. Der Indianer blickte auf die Türen seines Wigwams und stand Wache. Sie wissen nicht, dass er ein leeres Haus bewachte, denn seine Frau war bereits vom bösen Gouverneur Odious entführt worden. Aber die Squaw weigerte sich, sich ihm zu zeigen. Also ließ Odious sie in das Labyrinth der Verzweiflung werfen. Schließlich wurde ihr klar, dass es nur einen Ausweg gab. [Sie springt von einem Turm aus dem steinernen Labyrinth in den Tod] Während er den Tod seiner Frau betrauerte, legte der Indianer einen Blutschwur ab, niemals eine andere Squaw anzusehen und dass er für den Tod von Gouverneur Odious verantwortlich sein würde.

The Fall führt über Roys Erzählen und die filmische Visualisierung von Alexandrias Vorstellungskraft, die ja aus der Geschichte Roys entspringt die Individualität der menschlichen Imagination vor Augen. Tarsem Singhs Film The Fall bietet darüber hinaus bei jedem Anschauen neue Details, die miteinander in Beziehung gesetzt werden können, er ist sozusagen jedes Mal ein neuer Film, der anders wahrgenommen werden kann. Momentan ist The Fall auch nur auf Englisch mit deutschen Untertiteln bei Amazon MUBI einsehbar, wobei dies aufgrund vieler mangelhafter Übersetzungen ein Vorteil ist.

Fiktionale Selbstreferenzialität in Figurendialogen in Tarsem Singhs The Fall

Den Grund für die naturalistische Darstellung der Gespräche zwischen Roy und Alexandria hatte ich bereits erwähnt – es gab kein Drehbuch, sondern eine Struktur, an der Lee Pace sich orientierte, während seine junge Schauspielpartnerin versuchte, die Geschichte zu ihrer eigenen zu machen.[15]  Dafür möchte ich ein Beispiel geben. Alexandria sitzt bei Roy im Bett, der Vorhang ist um sie herumgezogen, nur ihre Beine schauen darunter hervor. Sie bewegt sich, tritt gegen den Nachttisch und stößt eine Tasse Tee um. Die braune Flüssigkeit durchnässt die weiße Unterlage, die sich vollsaugt und immer mehr von der weißen, weichen Fläche Braun wird. Die sich langsam mit brauner Flüssigkeit vollsaugende Unterlage dient Roy als Überleitung in seine Geschichte, in welcher der Bruder des maskierten Banditen in ein an zwei Pfeiler gewickeltes Leichentuch gehüllt ist, dass sich langsam von seinem Blut rot einfärbt. Doch interessant ist der authentische Dialog zwischen Alexandria und Roy an dieser Stelle.

Maskierter Bandit – Binnenhandlung: [Betrauert seinen Bruder und spricht in einem ausländischen Akzent] That which has been taken from we can never be replaced. My brother …
Alexandria – Rahmenhandlung: Why he speaks like this?
Roy: Because he’s your father.
Alexandria: But my father is dead.
Roy: What? Okay, how do you want me … How do you want him to speak?
Maskierter Bandit – wieder Binnenhandlung: [Spricht jetzt wie Roy ohne Akzent]: I think of all the joys we had.]
Alexandria – Rahmenhandlung: Normal, like you.
Maskierter Bandit – wieder Binnenhandlung: I could’ve saved you, but I was weak.
Singh, Tarsem: The Fall, 0:36:41-0:37:14.

Erzählen als manipulative Strategie zur Instrumentalisierung anderer in Tarsem Singhs Film The Fall

erzählt Alexandria nicht ohne Hintergedanken. Liebeskummer und seine Lähmung machen ihm zu schaffen, sodass er ihr Vertrauen für seine Selbstmordgedanken missbrauchen will. Er schafft es über das Erzählen seiner Geschichte, in der es schließlich nicht nur um einen Banditen geht, sondern er setzt die Spannung selbst als Druckmittel ein – erst, wenn Alexandria ihm die gewünschten Pillen bringt, erfährt sie mehr. Inmitten eines Angriffs der Helden auf einen Trupp von Gouverneur Odious Schergen stoppt er die Erzählung. Alexandria ist so in Roys Geschichte vertieft, der in ihrer Vorstellung der Maskierte Bandit ist, dass dieser im schnellen Galopp beim Angriff unvermittelt das Wort an sie richtet:

Maskierter Bandit: Tell me, Alexandria, do you read English?
Alexandria: You always stop at the same part when it’s very beautiful and interesting.
Roy: I just wanted to know if you can read English. Can you? Can you read English?
Alexandria: Yeah.
Roy: What’s this? [Zeigt auf ein Blatt Papier]
Alexandria: Paper.
Roy: No. What’s this? This. [Zeigt auf ein Wort]
Alexandria: M-o-r-p-h … Three [Es handelt sich um das Wort MORPHINE, das E ist wie eine verkehrte seitenverkehrte 3 aus. Weil es nicht eckig ist, erkennt Alexandria bzw. Catinca eine 3 statt einem E. Diese Verwechslung wurde auch im Film verwendet und nicht geschnitten.]
Roy: What’s that?
Alexandria: Three.
Roy: That’s good. I’m having a hard time sleeping and I can’t remember that story. I need some pills. I need pills in a bottle that has this written on them.
Alexandria: M-o-r-p-h-i-n-three?
Roy: Yes. And it’s in the main block. [Roy meint den Krankenhausflügel. Alexandria hat ihm daraus Oblaten gebracht, daher weiß er, dass sie den Ort kennt.] In that room in the main block. You understand?
Alexandria: Ask the head nurse.
Roy: I’m asking you as a friend.
Alexandria: But it’s stealing.
Roy: No, it’s not. Not if you need it. It’s no different than stealing bread from a church.
Alexandria: I’ll als them for you.
Roy: No. It’s a bandit secret. I need the pills to finish the story. Understand?
Singh, Tarsem: The Fall, 0:43:15-0:44:50.

Alexandria bringt Roy die Pillen. Schlau wie sie ist, behält sie nur drei Stück und kippt den Rest ins Klo. Also erzählt Roy weiter, versucht aber durch Cliffhanger wiederholt Alexandria für seine Zwecke einzuspannen. So stiftet er sie an, im Schrank seines Bettnachbarn nach Pillen zu suchen. Er scheut sich nicht, zu lügen: Dieser habe ihm seine eigenen Pillen gestohlen. Erst dann würde er weitererzählen können. Allerdings weiß er nicht, dass die Tabletten gegen Zucker ausgetauscht wurden und für seine Absichten nutzlos sind.

Ist The Fall von Tarsem Singh ein großer Dialog?

Diese Frage habe ich mir im Laufe dieser Bearbeitung gestellt. Ich denke tatsächlich, dass Tarsem Singhs Film The Fall in vielfacher Hinsicht ein Dialog ist, nicht nur ein Dialog, der auf die Gespräche der Figuren bezogen ist, sondern es handelt sich auch um einen Dialog des Schöpfers Tarsem Singh mit seiner Liebe zum Filmemachen und mit uns Zuschauern; sein Film ist ein Dialog mit der Kunst an sich, mit der Kunst des Erzählens, mit der Kunst des Filmemachens, und darüber hinaus sind viele weitere Dialoge in unterschiedlichen Formen in The Fall eingebunden, zeitgenössische Dialoge um die Wissenschaft, um die Entstehung der Arten, um Mystik, um Recht, um Medizin, Tod und Sterben, Hoffnung, Liebe, Imagination und und und … Tarsem Singhs Film The Fall ist letztendlich auch ein Dialog, in dem es um Heilung durch Erzählen geht – die Heilung der Seele durch das Erzählen und das Zuhören zugleich! Immerhin gründet der Film thematisch indirekt auf den Selbstmordgedanken von Roy. Ich denke nicht, dass ich übertreibe, wenn ich behaupte, dass Roy durch das Erzählen und durch die erzählerische Intervention von Alexandria gerettet wird, weil sie sich in seine Geschichte hineindrängt und beim Gedanken an den Tod der fünf Helden und Roys möglichem Ableben gleichermaßen in Tränen ausbricht. Erzählen bzw. die Verbundenheit durch das Erzählen besitzt heilsame Kräfte – das ist ja auch Thema in Der Kleine Prinz beispielsweise.

Reale Objekte als fiktionale Elemente in Tarsem Singhs Film The Fall

Nicht nur die Figuren und ihre Funktion und Identitäten überlappen sich in der Erinnerung der Protagonisten und fließen in die epische Erzählung mit ein, sondern auch bestimmte Objekte sorgen für Wiedererkennungseffekte. Darwin beispielsweise bewahrt in einer kleinen Holzkiste Karten, Käfer und andere Gegenstände auch wie auch Alexandria Fotos und kleine Figuren in einer derartigen Holzkiste bei sich trägt. Ein wiederkehrendes Motiv ist auch der kleine mit Löchern verzierte Brief, den Alexandria verfasst hat und der durch einen Zufall auf Roys Schoß landet. Die Form und Verfasstheit dieses Briefs dienen den Helden in Roys epischer Geschichte als geheime Kommunikation. Darwins Karte wird eben diese Form annehmen, weil er sie in seine Holzbox zu den Käfern gepackt hat. Schmetterlinge, Elefanten, Affen, die Maske des Banditen, Pferde, ein Gebiss, ein Eisblock, Pfeile, der Röntgenschutzmantel, eine herzförmige Kette und viele andere Objekte sind in die Handlung der Rahmengeschichte, der Binnenerzählung und ihren verschiedenen Nebenschauplätzen verwebt und werden zu sinnenstiftenden und handlungstragendenden Pfeilern, auf denen der Film steht und sich weiter imaginativ ausbreitet und in unseren Köpfen neue Formen annimmt.

Tarsem Singhs Film The Fall – ein surrealistisches Meisterwerk

Wenn man sich mit der Bildsprache in The Fall beschäftigt, dann muss auch der Surrealismus als Strömung in der Literatur, im Film und der Kunst genannt werden. Tatsächlich entwickelte sich der Surrealismus nach dem Ersten Weltkrieg in Paris und begann ursprünglich als literarische Bewegung 1924 mit dem manifest de surréalisme der Schriftsteller André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupoult, in dem das Ziel des Surrealismus erklärt wurde.[16] Heute ist das Wort surreal allgemein bekannt, 1917 handelte es sich allerdings um einen Neologismus, eine Wortneuschöpfung. Eingeführt wurde der Begriff Surrealismus durch Guillaume Apollinaire mit seinem surrealistischen Drama, wobei der Begriff dann von den soeben erwähnten Schriftstellern in ihrem Manifest verwendet wurde. Breton war stark von den Theorien Sigmund Freuds beeinflusst, was erklärt, „dass surrealistische Werke aus dem Bewusstsein in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche entstehen sollten – das, was Freud als Begründer der Psychoanalyse untersucht hatte.“[17] Freuds Traumdeutung war bereits 1899 erschienen. Er erklärt darin Träume als Ausdruck der Psyche sowie, dass Träume psychoanalytisch deutbar seien oder auch frei assoziativ und dass sie über bestimmte Motive und Symbole den Schlüssel zum Unterbewusstsein offenbaren. Maler und Schriftsteller setzten Freunds Theorie der freien Assoziation in ihren Werken um.[18] Sie wollten ohne rational nachzudenken wurden automatisch Worte und Formen gestaltet. „Auf diese Weise wollten sie in das Unbewusste vordringen und tiefliegende Empfindungen und Emotionen ausdrucken. Im Unbewussten sah man eine Quelle der Fantasie, und um eine möglichst hohe Kreativität zu erreichen, musste diese Quelle zuganglich gemacht werden. Die Surrealisten mischten Bewusstes und Unbewusstes in ihren Werken und verbanden Traum- und Fantasiewelten mit der alltäglichen Welt der Rationalität.“[19]

Surrealistisches Ineinanderfließen von Erzählen, Filminszenierung, Imagination in The Fall

Beim Surrealismus handelt es sich um eine Kunstform, bei der eine Verfremdung stattfindet. Ungewohnte und gegensätzliche Gegenstände, Themen, Landschaften und Motive werden miteinander in Beziehung gesetzt und verbunden. Auf diese Weise ergeben sich Kontraste, die ein Bild verfremden beziehungsweise in der Literatur gibt es auch surrealistische Darstellungen. Surrealistische Bilder lassen sich häufig nicht rational erklären, oftmals ist das individuelle Seelenleben des jeweiligen Schöpfers ausschlaggebend für die Darstellung. Es entsteht eine Differenz zwischen der Darstellung und der Realität, wodurch eine künstlerische Vision des Unbewussten erzeugt wird. Eine gute Erklärung für den Kunstbereich ist auf dieser Seite zu finden.

Eben dies geschieht über das Erzählen von Roy, der Imagination von Alexandria, den Figuren im Film, die aber teilweise Halt finden über die losen Strukturvorgaben der Schauspieler Lee Pace und Catinca Untaru, wobei letztlich der Regisseur Tarsem Singh alles in Szene setzt im Medium Film. Tatsächlich hat er sogar dafür gesorgt, das weitläufige Kulissen seinen Vorstellungen entsprechen wie beispielsweise die leuchtend blauen Wände der Häuser, auf die die Helden aus ihrem Versteck blicken. Diese ließ er extra anmalen, um den Farbeindruck zu verstärken.

Ein weiteres Beispiel ist die Überblendung der Hochzeitszene, in der „the stoney-faced priest“ die Helden verraten hat und die Szenerie wechselt zu einer kargen Steinwüste, in der wenige Steine vorhanden sind, die aber eindeutig als das Gesicht des Priesters zu erkennen sind – eine Verfremdung des Gesichts oder eine Verfremdung der Landschaft – wie auch immer, beides jedoch ist enthalten in den Worten von Roy bzw. des Maskierten Banditen. Das Schmetterlingsmotiv wird zur Insel, auf welche die Helden verbannt wurden, der auf ein Handtuch verschüttete Tee von Roy wird zum Blut des Leichentuchs seines Bruders – die fantastischen Filmszenen sind farblich opulent, üppig und surrealistisch ästhetisch ineinanderfließend.

Fazit zu Tarsem Singhs Film The Fall – ein Film zum Niederknien

Man muss den Film einfach selbst sehen und sich ein Bild machen, wie es ja sowieso mit allen Dingen im Leben ist. Aus diesem Grund möchte ich hier auch gar keine abschließendes Fazit abgeben, sondern den Vorschlag zum Selbstansehen machen. Tarsem Singhs The Fall ist es wert, angesehen zu werden!

Fakten in Fiktion integriert: Darwin, Wallace und die Entstehung der Arten

Der Held Darwin hat seinen Affen Wallace dabei, den er allerdings in einem Sack versteckt. Niemand weiß von diesem Affen. Und doch flüstert dieser Darwin viele interessante Informationen zu. So auch zu Beginn der Erzählung, als die Helden auf einem abgelegenen Riff festsitzen, das wie ein Schmetterling geformt ist. Wallace spricht zu Darwin und dieser hört zu. Wallace verrät ihm die rettende Idee, wie sie vom Riff herunterkommen. Doch statt Wallace vor den anderen zu loben, verschnürt er den Sack und erklärt: „Ich habe eine Idee!“ Für diese streicht er dann auch den Ruhm und die Anerkennung der anderen ein, so äußert sich der Bandit: „Darwin! That was a great idea!“ sowie Luigi: „Darwin, you are a genius!“

Die Konstellation aus Darwin und dem Affen, der Wallace heißt und Darwin seine ganzen Ideen zuschiebt, die dieser als seine eigenen ausgibt, bedarf der Erklärung. Die Rahmenhandlung von Tarsem Singhs Film The Fall spielt in den 1920er-Jahren in den USA, insofern hat Tarsem Singh auf geschickte Weise historische Fakten in Roys epische Geschichte eingeflochten, denn er hat sich insbesondere bei der Figur des Darwin von Nachrichten aus dem frühen 20. Jahrhundert inspirieren lassen. Konkret geht es um die Kontroverse der Urheberschaft der Ideen in Charles Darwins Über die Entstehung der Arten zwischen Darwin und Alfred Russel Wallace. Aus den beiden Naturforschern werden in Tarsem Singhs Fantasie bzw. in Roys Geschichte und aus dem Mund des Schauspielers Lee Pace der Forscher Darwin, der Rache an dem bösen Gouverneur Odious schwört, weil dieser ihm das gesuchte Exemplar eines toten Schmetterlings – Americana Exotica – schickte und der ihm zuflüsternde Affe Wallace, der in Wirklichkeit der geniale Geist hinter den genialen Ideen des fiktiven Darwins ist. Darwin ist der bekanntere Naturforscher und lange Zeit wurden ihm die Erfolge der berühmten Theorien zugeschrieben. Die 1920er waren eine Zeit der intensiven Debatten um Darwins Evolutionstheorie, beispielsweise wurden in mehreren US-Bundesstaaten sogenannten Anti-Evolutions-Gesetze eingeführt, damit Evolution nicht an Bildungsinstitutionen gelehrt wurde. Höhepunkt der Debatte war der sogenannte Scopes-Prozess von 1925, auch Affenprozess genannt in Dayton, Tennessee, bei der der Biologielehrer John Scopes angeklagt wurde, weil er Evolution unterrichtete. Der Prozess erregte landesweite Aufmerksamkeit – daher darf geschlussfolgert werden, dass die Figuren im Filmen über das Erzählen als eine anthropologische Universalie gehört haben.

Zu Darwin und Wallace in The Fall: Die Kontroverse um die Entstehung der Arten zwischen Charles Darwin und Alfred Russel Wallace

Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (1823-1913) entwickelten unabhängig voneinander Theorien zur Evolution durch natürliche Selektion. Darwin begann seine Forschung früher, insbesondere während seiner Reise auf der HMS Beagle von 1831 bis 1836. Er formulierte seine ersten Ideen zur natürlichen Selektion 1838, zögerte aber lange mit der Veröffentlichung. Wallace hingegen kam zu ähnlichen Schlüssen während seiner Expeditionen zum Amazonas (1848-1852) und im Malaiischen Archipel (1854-1862). 1858 sandte Wallace seinen Essay an Darwin, was diesen zur Veröffentlichung seines bahnbrechenden Werks Über die Entstehung der Arten 1859 veranlasste. Beide Theorien wurden am 1. Juli 1858 gemeinsam der Linnean Society of London präsentiert. In ihrer Forschung spielten Primaten eine wichtige Rolle: Darwin untersuchte sie im Zoo und nutzte sie als Vergleich zum Menschen, während Wallace Orang-Utans auf Borneo studierte. (Aus diesem Grund wird Wallace wohl unter anderem im Film auch ein Affe.) Darwins späteres Werk Die Abstammung des Menschen (1871) vertiefte die Diskussion über menschliche Evolution. Trotz Darwins größerer Bekanntheit werden heute beide als Co-Entdecker der Evolutionstheorie durch natürliche Selektion anerkannt. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Wahrnehmung jedoch verschoben. Viele Wissenschaftshistoriker und Biologen betonen nun stärker die unabhängigen Beiträge beider Forscher. Es gibt eine wachsende Anerkennung für Wallace‘ Rolle, teilweise als Reaktion auf seine frühere Vernachlässigung. Für Darwin sprechen seine umfangreichere Beweissammlung und die detaillierte Ausarbeitung der Theorie, wohingegen Wallace seine Ideen schneller publizierte und auf Feldforschung in tropischen Regionen verweisen konnte. Eine aktuelle Tendenz würdigt die komplementären Stärken beider Wissenschaftler, anstatt die Erkenntnisse des einen dem anderen vorzuziehen. Bleibt die Tatsache, dass Alfred Russel Wallace zumindest als gleichrangiger Begründer der Evolutionstheorie in die Wissenschaftsgeschichte hätte eingehen müssen.

Quelle

Singh, Tarsem: The Fall [Film]. Indien, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten 2006, Googly Films RadicalMedia Absolute Entertainment.

Verwendete Literatur und mehr

Deutscher Buchpreis 2024 Preisverleihung mit Deutscher Gebärdensprache,YouTube, online unter:

https://www.youtube.com/watch?v=533IwGdCBIM (zuletzt aufgerufen am 22.10.2024), 13:42-14:31.

CJ Prinz: Interview: Tarsem Singh über die 4K-Restaurierung von The Fall auf Seventh Row vom 24. September 2024, online unter: https://seventh-row.com/2024/09/24/tarsem-singh-the-fall-interview/ (zuletzt aufgerufen am 15.10.2024).

Hodge, Susie: 50 Schlüsselideen Kunst. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen. Berlin/Heidelberg 2024.

Martínez, Matías: Was ist Erzählen? In: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Matías Martínez. Stuttgart 2017, S. 2-6.

Meister, Jan Christoph: Erzählen: Eine anthropologische Universalie? In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hg. von Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin/Boston 2018, S. 88-112.

Neumann, Michael: Erzählen. Einige anthropologische Überlegungen. In: Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Symposium. Hg. von Michael Neumann. München 2000, S. 280-296, hier S. 280-281

Tarsem Singh Reads Your Letterboxd Reviews of The Fall, Interview mit Ella Kemp von Letterboxd vom 28.09.2024, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=eJdgJUilEM8 (zuletzt aufgerufen am 20.10.2024).

The Fall – Exclusive: Lee Pace Interview vonMovieWeb vom 21.09.2010 auf YouTube, online unter:

https://www.youtube.com/watch?v=xzfK5EWlz80 (zuletzt aufgerufen am 22.10.2024).

Was ist Surrealismus von Kunsthaus Artes, online unter: https://www.kunsthaus-artes.de/magazin-blog/was-ist-surrealismus/#:~:text=Merkmale%20der%20surrealistischen%20Malerei&text=Ungewohnte%20oder%20gegens%C3%A4tzliche%20Gegenst%C3%A4nde%2C%20Themen,lassen%20sich%20nicht%20rational%20erkl%C3%A4ren (zuletzt aufgerufen am 25.10.2024).


[1] Deutscher Buchpreis 2024 Preisverleihung mit Deutscher Gebärdensprache,YouTube, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=533IwGdCBIM (zuletzt aufgerufen am 22.10.2024), 13:42-14:31. [2] Tarsem Singh Reads Your Letterboxd Reviews of The Fall, Interview mit Ella Kemp von Letterboxd vom 28.09.2024, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=eJdgJUilEM8 (zuletzt aufgerufen am 20.10.2024). [3] The Fall – Exclusive: Lee Pace Interview von MovieWeb vom 21.09.2010 auf YouTube, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=xzfK5EWlz80 (zuletzt aufgerufen am 22.10.2024). [4] CJ Prinz: Interview: Tarsem Singh über die 4K-Restaurierung von The Fall auf Seventh Row vom 24. September 2024, online unter: https://seventh-row.com/2024/09/24/tarsem-singh-the-fall-interview/ (zuletzt aufgerufen am 15.10.2024). [5] Ebd. [6] Tarsem Singh Reads Your Letterboxd Reviews of The Fall, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=eJdgJUilEM8 (zuletzt aufgerufen am 20.10.2024). [7] Martínez, Matías: Was ist Erzählen? In: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Matías Martínez. Stuttgart 2017, S. 2-6, hier S. 6. [8] Ebd. [9] Ebd. [10] Meister, Jan Christoph: Erzählen: Eine anthropologische Universalie? In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hg. von Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin/Boston 2018, S. 88-112, hier S. 88. [11] Neumann, Michael: Erzählen. Einige anthropologische Überlegungen. In: Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Symposium. Hg. von Michael Neumann. München 2000, S. 280-296, hier S. 280-281. [12] Ebd., S. 283. [13] Ebd., S. 284. [14] Meister: Erzählen: Eine anthropologische Universalie?, S. 89. [15] Tarsem Singh Reads Your Letterboxd Reviews of The Fall, Interview mit Ella Kemp von Letterboxd vom 28.09.2024, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=eJdgJUilEM8 (zuletzt aufgerufen am 20.10.2024). [16] Hodge, Susie: 50 Schlüsselideen Kunst. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Neuser-von Oettingen. Berlin/Heidelberg 2024, S. 152. [17] Ebd. [18] Ebd., S. 152. [19] Ebd., S. 153.

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