Die Relevanz von Märchen in der modernen Welt

Märchen sind allgegenwärtig und besitzen verschiedene Funktionen für den einzelnen Menschen wie auch im kulturellen Sinne wie zum Beispiel für die Stiftung von Gemeinschaft in einer Kultur.

Zuletzt bearbeitet am 4. Mai 2025

„Nicht nur Kinder, wir alle brauchen Märchen.“[1] So urteilte der Autor Nikolaus von Festenberg im Spiegel. Ich möchte mir dieses Zitat zur Brust nehmen und sehen, ob dies stimmen könnte. In Märchen triumphiert am Ende das Gute über das Böse, siegt die Liebe über den Hass und leben alle Beteiligten glücklich bis an ihr Ende. Wenn Märchen für die Erfüllung aller menschlichen Sehnsüchte stehen, dann mag es verständlich sein, das gerade in Zeiten der Aufruhr, der Konflikte und einer harten und unerbittlichen Realität, die Welt der fantastischen, romantischen Zuflucht für gestresste und desillusionierte Seelen bietet. Einmal eintauchen in die Zeit der Unbeschwertheit, der Kindheit noch mal einen Besuch abstatten, das ist ein Luxus, den sich viele Menschen heute in der schnelllebigen Zeit nicht leisten können und deren Psychen und Seelen dadurch verkümmern. Nicht umsonst steigt die Zahl der psychischen Krankheiten, kommen immer mehr Burn-Out-Fälle ans Licht und gibt es immer mehr Aussteiger, die sich nicht mehr wiedererkennen können im kapitalistischen Gefüge der Gesellschaft. Hart sind die Zeiten, in denen Menschen wie Objekte behandelt werden und arbeiten, um ihrem Vorgesetzten schwarze Zahlen auf das fette Bankkonto zu treiben. Sie selbst bleiben dabei auf der Strecke. Und nicht nur im eigenen Leben gibt es Szenen, die zum Wegschauen animieren.

Brauchen wir im 21. Jahrhundert Märchen?

Die Welt ist, trotz des Übergangs in das vermeintlich zivilisiert wirkenden 21. Jahrhundert, immer noch ein Schauplatz für Krieg und Terror. Und das sind nur die offensichtlichsten Auswüchse, die allen aus den Nachrichten bekannt sind, die privilegierte Menschen gar nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Denn auch in marginal wirkenden Strukturen in Institutionen, Behörden, Unternehmen, Schulen oder kleineren Gemeinschaften gibt es Formen der Diskriminierung, Destruktion, Ausgrenzung und Gewalt in verschiedenen Formen. Ich nenne jetzt einfach die Familie oder Paarbeziehung als Kleinform einer Gemeinschaft, in der durchaus verbale, psychische und physische Gewalt vorkommt – auch in zivilisierten Gesellschaften.

Der Blick auf die Realität zeigt insofern, dass es im Kleinen und Großen Szenen gibt, die zum Wegschauen zwingen – auch und gerade im persönlichen Leben. Die Flucht in Fantasiewelten ist daher nicht nur kindlich-naiv, sondern kann auch ein Ausdruck innerer Selbstfürsorge sein – ein Rückzug zur Besinnlichkeit und zur Anerkennung der eigenen Bedürfnisse, weil ein Aufladen der inneren Leere mit wohlig-warmen Bildern stattfindet, die den trüben Blick auf die extern als vielleicht feindlich gesonnene Realität abfedern. So kann die Hinwendung zu Märchen, Fabeln und fantastischen Narrativen als Impuls für eine sanfte, tiefgreifende Umgestaltung gesehen werden: hin zu mehr Empathie, Achtsamkeit und Kommunikation.

Moderne Medien greifen diese märchenhaften Impulse auf

Encanto

Das zeigt unter anderem der Film Encanto (2021) von Disney. Erzählt wird die Geschichte der Familie Madrigal, deren Mitglieder alle magische Fähigkeiten besitzen – alle außer der jungen Mirabel. Doch im Verlauf der Handlung zeigt sich: Nicht die Magie im klassischen Sinne, sondern emotionale Ehrlichkeit, Verwundbarkeit und familiäre Verbundenheit sind die wahren Kräfte, die eine Gemeinschaft tragen. Encanto bricht mit dem typischen Märchenschema der glorreichen Heldenreise und ersetzt es durch eine zärtliche Einladung zur Selbstannahme menschlicher Attribute und Eigenschaften. Es sind nicht Kampf oder Sieg, sondern Verständnis und Dialog, die hier Heilung bringen. In einer Gesellschaft, die Leistung über alles stellt, ist diese Botschaft revolutionär. Doch ist Encanto ein Animationsfilm und kann daher nur Potenziale spiegeln und intermedial inszenieren.

Legende

Ridley Scotts Legend (1985) illustriert eindrucksvoll, wie die Flucht in Fantasiewelten als Akt der Selbstfürsorge dienen kann. In einer Welt, in der das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkelheit bedroht ist, begibt sich der junge Jack auf eine Reise, um das Böse zu besiegen und die Unschuld zu bewahren, um die Welt vor dem Herrn der Finsternis (Tim Curry) zu retten. Dieser plant, durch die Tötung der letzten Einhörner ewige Nacht über die Welt zu bringen. Jack wird dabei von einer Gruppe magischer Wesen unterstützt, darunter der Elf Gump und die Fee Oona. Die Figur der Prinzessin Lily (Mia Sara) steht dabei symbolisch für die menschliche Unschuld, die durch Neugier und Verlockung gefährdet wird. Der Film zeigt, wie leicht das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse gestört werden kann, und betont die Notwendigkeit von Mut und Selbstaufopferung, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die märchenhafte Erzählung bietet nicht nur eine visuelle Flucht aus der Realität, sondern ermöglicht es dem Zuschauer, innere Konflikte und Ängste symbolisch zu verarbeiten. Durch die Konfrontation mit archetypischen Figuren und Herausforderungen regt der Film dazu an, über die eigenen Bedürfnisse und die Beschaffenheit der Welt nachzudenken. Legend zeigt somit, dass Märchen und fantastische Narrative nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch als Mittel zur persönlichen Reflexion und emotionalen Regeneration fungieren können.

Into the Woods

Ebenso dekonstruiert der Film Into the Woods (2014) das klassische Märchennarrativ. Die Handlung verwebt mehrere bekannte Geschichten – Aschenputtel, Rotkäppchen, Rapunzel – und führt sie zunächst zu einem vermeintlichen Happy End. Doch der Film fragt: Was passiert nach dem Glück? Welche Verantwortung folgt auf erfüllte Wünsche? Der Bruch mit der simplen Gut-Böse-Struktur macht Platz für moralische Grauzonen. Meryl Streep als Hexe verkörpert dabei nicht nur das Bedrohliche, sondern auch das Verdrängte, das Verletzte – und damit das Menschliche. Märchen sind hier keine Eskapismus-Folklore mehr, sondern psychologische Räume, die das Erwachsensein erfahrbar machen. Gerade darum ist der Film so interessant, immerhin gibt es viele Märchen, die psychologisch analysiert werden können.

Everything Everywhere all at Once

Noch radikaler verknüpft Everything Everywhere All at Once (2022) Märchenstrukturen mit postmodernen Erzählformen. Evelyn, eine erschöpfte Waschsalonbesitzerin, erlebt eine absurde Reise durch das Multiversum, trifft dabei unzählige Versionen ihrer selbst und konfrontiert existenzielle Fragen: Wer bin ich? Was zählt? Was ist Liebe? Trotz wilder Bildsprache, Hotdog-Fingern und überdrehtem Tempo geht es im Kern um eine tief menschliche Mär: Die Kraft des Mitgefühls, die Bedeutung der Familie, das Ja zum Leben – selbst wenn es chaotisch, banal oder enttäuschend ist. Der Film spielt mit Märchenelementen wie Verwandlung, Reise und Erlösung, aber er erdet sie in einer radikal ehrlichen, heutigen Weltsicht. Zudem spielen auch Aspekte wie Migration, institutionelle Autorität und Machtmissbrauch eine Rolle.

Die Flucht in angenehme imaginäre Welten kann daher als Rückzug zur Besinnlichkeit und Anerkennung der inneren Bedürfnisse gewertet werden. Wer sich selbst kennt, kann auch handeln und mit friedfertigen Mitteln langfristige Veränderungen herbeiführen. Somit kann die Orientierung hin zu Fabeln und Märchen, zu den strukturell in Happy Ends endenden Narrativen als Vorbote für weitreichende Umgestaltung hin zu mehr Kommunikation und Individualität angesehen werden.

Märchen besitzen viele verschiedene Funktionen

Märchen wirken insofern auf mehreren Ebenen – als Seelentröster, als Projektionsflächen, aber auch als Mahner, als didaktische Konzepte mit Lernpotenzial und möglicherweise sogar als transformative Heilsbringer in einer abgestumpften Welt. Sie sind tief verankert im kollektiven und individuellen Gedächtnis. In ihnen leben archetypische Bilder weiter, wie sie der Psychologe C. G. Jung beschrieben hat: der Held, die Hexe (wie sie auch in Wir kommen per Dialog formuliert wird), der Wald (ein beliebtes literarisches Motiv zum Beispiel in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe), das verwunschene Schloss – die alle für Symbole innerer Prozesse stehen. So wie der Held im Märchen den Drachen besiegt, ringt der Mensch in sich selbst mit Angst, Schuld, Reue, Sehnsucht. Moderne Märchen wie Star Wars oder Harry Potter demonstrieren alle diese im Märchen durch Handlungsstrukturen und Figuren vorgegebenen Prozesse und geben diesen inneren Kämpfen Form und Ausdruck. Gerade weil das Erzählen anthropologischer Natur ist, gemeinschaftsstiftend und nutzbringend für den Einzelnen und das Kollektiv, sind Märchen oft klarer und ehrlicher in ihrer Darstellung als jede Nachrichtensendung es sein könnte.

Märchen als Verblendung der Realität

Auf der anderen Seite kann der Mensch verlorengehen in diesen fantastisch fabulierten und herbei gesponnenen Welten, in denen immer alles gut ausgeht. Denn das Leben, die Realität, die sieht oft anders aus. Deren Farben sind nicht zuckersüß. Deren Probleme können nicht mit Magie und Zauberkraft gelöst werden, gibt es nicht einfach eine gute Fee oder Hexe, die – PUFF – erscheint, ihren Zauberstab schwingt und von außen die gewünschte Lösung einfach so, ohne Zutun, herzaubert. Wer zu tief und zu lange im Reich der erfundenen Utopie verweilt, verliert den Bodenkontakt und entschwebt entrückt dem Alltag, verliert sich in abgehobenen Zukunftsvorstellungen und irrealistischen Selbstbewertungen. Wenn der illusionäre Traum platzt, kann die Landung hart sein. Im schlimmsten Fall gehört die bzw. der vormalige Träumende dann zum Ausschuss der Gesellschaft. Wer nur träumt, der handelt nicht. Der ist gelähmt vom Scheinwerferlicht seiner goldig glänzenden Traumvorstellungen, die ihm aus vielfältigen Eskapismus-Modellen, die konsumorientierte Marketingunternehmen gezielt in die Welt der Medien pflanzen vereinnahmt und geblendet. Früher oder später prallt die Realität auf diese, in der Luft hängenden Traumfetzen, und zerreißt sie wie ein heranrasender Laster morgendliche Nebelschwaden. Es gilt: Die Dosis macht das Gift. Wer nur träumt, der handelt nicht. Wer sich in Fantasien verliert, kann im Alltag zerbrechen. Das Gleichgewicht ist entscheidend – zwischen dem Eingebunden-Sein in die reale Welt und dem freien Wandeln durch die Weiten der Vorstellungskraft.

Beschluss zu Märchen und Eskapismus

Die Vereinnahmung vieler Menschen durch Märchen oder märchenähnliche Schöpfungen in vielen Medien stellt somit die Flucht vor dem eigenen Leben und den Problemen des Alltags dar. Wenn der Mensch sich seine Bedürfnisse nur noch durch die ihm gebotenen Darstellungen der Medien erfüllen kann, dann verliert er sich selbst und wird es nicht einmal merken, da alle anderen es ihm gleichtun. Achtsamkeit ist somit eine Voraussetzung diese schleichende Gefahr zu erkennen, öfter innezuhalten und sich selbst zu fragen, warum es genau diese Geschichte, dieses Märchen, diese Legende ist, die so faszinierend und anziehend wirkt.

„Nicht nur Kinder, wir alle brauchen Märchen“ ist somit eine Aussage, der ich, wenn auch mit Bedacht, zustimme. Wie mit vielen Dingen, die gut sind, ist auch das Schwelgen in Märchengeschichten mit Vorsicht zu genießen. Ein Donut mit Schokoglasur ist lecker, wohingegen zehn derselben Sorte ordentliche Bauchschmerzen verursachen können. Märchen sind Nahrung für die Seele – solange sie nicht zur Hauptspeise im Leben werden. Wichtig ist es, ein gesundes Gleichgewicht zu wahren, zwischen dem eingrenzenden Erleben der Realität und der freiluftigen Unendlichkeit der Fantasie.

Thesen

Viele Menschen benutzen den aktuellen literarischen Trend hin zu Märchen als Flucht vor der Realität und aktuell wichtigen Themen wie Krieg oder Arbeitslosigkeit

Die Hinwendung von Erwachsenen zu fantastischen Märchen liegt begründet in der Begegnung mit der rationalen, autoritären und kapitalistischen Welt, die keinen Platz für innere Bedürfnisse lässt

Alle Menschen brauchen Märchen und Romantik – fantastische Elemente sind Nahrung für die Seele und schützen vor einem psychischen Infarkt

Die anti-autoritäre Erziehung ist für Kinder vorteilhaft, da sie viel Freiraum für Kreativität und Individualität lässt

Viele Schriftsteller passen sich den aktuellen Lesegewohnheiten an und bauen literarische Luftschlösser, die Geld einbringen, und den Leser in abstrakt erdachte Utopien entführen

Märchen und Fantasiegeschichten sollen nur zum Weiterlesen animieren, sie müssen sich nicht den aktuellen gesellschaftlichen Themen stellen

Ergänzende Aussagen zum Thema „Nicht nur Kinder, wir alle brauchen Märchen“

  1. Märchen als kollektives Unterbewusstsein
    Märchen enthalten archetypische Symbole (Held, Schatten, weise Alte), die nach C. G. Jung tief im menschlichen Unterbewusstsein verwurzelt sind. Sie sprechen emotionale und psychologische Grundmuster an, die uns helfen, Lebensphasen zu verarbeiten und Sinn zu finden.
  2. Märchen fördern Resilienz
    Auch moderne psychologische Ansätze erkennen in Märchen einen Beitrag zur inneren Widerstandskraft: Sie zeigen, dass auch in Zeiten größter Not (z. B. Aschenputtel, Hänsel und Gretel) eine Wende möglich ist. In schwierigen Lebensphasen können solche Erzählungen Kraft spenden.
  3. Moderne Märchen als Spiegel gesellschaftlicher Werte
    Die Art, wie Märchen heute erzählt werden, verändert sich. Wo früher nur „gut gegen böse“ galt, geht es heute auch um Ambivalenzen, Trauma, Genderrollen oder Klimawandel – Märchen wachsen mit der Zeit mit.
  4. Gefahr des Eskapismus
    Wie du bereits analysiert hast: Die Sucht nach heiler Welt kann zur Verweigerung der Realität führen. Märchen dürfen nicht zum einzigen Bewältigungsmechanismus werden, sonst wird aus der heilsamen Geschichte eine Illusion.
  5. Märchen als Spiegel innerer Entwicklung
    Märchen bieten symbolische Geschichten, die individuelle Reifungsprozesse widerspiegeln. Sie zeigen, wie Menschen durch Herausforderungen wachsen und ihre Persönlichkeit entwickeln können. Diese Erzählungen helfen, innere Konflikte zu verstehen und zu bewältigen.
  6. Märchen als moralische Orientierung
    Märchen vermitteln grundlegende Werte wie Gerechtigkeit, Mut und Mitgefühl. Sie bieten klare Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, die als moralischer Kompass dienen können. Diese Geschichten helfen, ethische Entscheidungen zu reflektieren und zu treffen.
  7. Märchen als kreative Inspirationsquelle
    Märchen regen die Fantasie an und fördern kreatives Denken. Sie inspirieren Künstler, Schriftsteller und Filmemacher zu neuen Werken und Interpretationen im Angesicht aktueller Problematiken und zeitgenössischen Transformationen. Die symbolischen Elemente von Märchen bieten vielfältige Möglichkeiten für kreative Ausdrucksformen. Zudem erfahren Märchen durch den fortschreitenden technischen Wandeln neue Optionen der Inszenierung.
  8. Märchen als Bildungsinstrument
    Märchen können pädagogisch genutzt werden, um Sprachfähigkeiten, kognitive Entwicklung und kulturelles Wissen zu fördern. Sie bieten einen spielerischen Zugang zu komplexen Themen, sind aber aufgrund der eingehenden Symbolik gut deutbar und unterstützen das Lernen auf vielfältige Weise.
  9. Märchen als Verbindung von Generationen
    Das Erzählen von Märchen schafft eine Verbindung zwischen den Generationen. Ältere geben Geschichten weiter, die sie selbst gehört haben. Dies stärkt nicht nur die Verbindung einzelner Familienmitglieder untereinander, sondern gefördert wird so im weiteren Sinne auf der intergenerationelle und kulturelle Austausch für ein gesundes Gemeinschaftsgefühl.

Märchenmotive und -symbole im Überblick

Motiv/SymbolFunktion/BedeutungBeispielhafte Märchen
Zahl DreiSymbolisiert Vollständigkeit, Harmonie und magische Kräfte.Schneewittchen (drei Blutstropfen), Die drei Federn, Der Teufel mit den drei goldenen Haaren
Zahl SiebenSteht für Vollkommenheit und Spiritualität.Schneewittchen (sieben Zwerge), Die sieben Raben, Die sieben Geißlein
SpiegelSymbolisiert Selbsterkenntnis, Wahrheit und oft Eitelkeit.Schneewittchen (magischer Spiegel der Königin)
ApfelSteht für Versuchung, Wissen und oft für den Übergang zwischen Leben und Tod.Schneewittchen (vergifteter Apfel)
WaldRepräsentiert das Unbewusste, Prüfungen und Transformation.Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Schneeweißchen und Rosenrot
DornheckeSymbolisiert Schutz, Isolation und den Übergang zwischen Zuständen.Dornröschen (Dornenhecke um das Schloss)
BlumeSteht für Schönheit, Vergänglichkeit und Sehnsucht.Dornröschen (Rosen), Die blaue Blume (Romantik)
SpindelSymbolisiert Schicksal, Lebensfaden und oft weibliche Tätigkeiten.Dornröschen (Stich an der Spindel), Spindel, Weberschiffchen und Nadel
HexeVerkörpert das Böse, Versuchung und oft die dunkle Seite der Weiblichkeit.Hänsel und Gretel, Schneewittchen (Stiefmutter als Hexe)
VerwandlungSymbolisiert innere Entwicklung, Reifeprozess und oft Erlösung.Der Froschkönig, Die sechs Schwäne, Hans mein Igel
Tier als HelferRepräsentiert Instinkte, Naturverbundenheit und oft übernatürliche Hilfe.Die Bremer Stadtmusikanten, Der gestiefelte Kater, Schneeweißchen und Rosenrot
Magische Zahl ZwölfSteht für Ganzheit, Ordnung und oft für die Zeit (Monate, Stunden).Die zwölf Brüder, Die zwölf Tänzerinnen
Goldene GegenständeSymbolisieren Wert, Reinheit und oft das Göttliche oder Königliche.Rumpelstilzchen (Goldspinnen), Die goldene Gans
SchlafRepräsentiert Transformation, Übergang und oft einen Zustand zwischen Leben und Tod.Dornröschen (100-jähriger Schlaf), Schneewittchen (todähnlicher Schlaf im Glassarg)
StiefmutterVerkörpert Eifersucht, Rivalität und oft die dunkle Seite der Mutterrolle.Schneewittchen, Aschenputtel, Hänsel und Gretel
Magische TiereStehen für Weisheit, Führung und oft für Prüfungen.Der goldene Vogel, Der weiße Hirsch, Hans mein Igel
Verlorene KinderSymbolisieren Orientierungslosigkeit, Reifung und die Suche nach Identität.Hänsel und Gretel, Die sieben Raben
Zauberhafte GegenständeRepräsentieren Hilfe, Prüfung und oft den Zugang zu verborgenen Kräften.Der gestiefelte Kater (magische Stiefel), Spindel, Weberschiffchen und Nadel

Märchen & Unbewusstes: Ein psychologischer Zugang

Was haben Märchen mit dem Unbewussten zu tun?

Märchen spiegeln archetypische Bilder wider, die tief im kollektiven Unbewussten verankert sind. C. G. Jung prägte den Begriff des kollektiven Unbewussten, das universelle Symbole wie den Helden, die weise Alte oder den Schatten enthält. Diese Archetypen erscheinen in Märchen und sprechen grundlegende menschliche Erfahrungen und Emotionen an.

Wie interpretieren Psychoanalytiker Märchen?

Psychoanalytische Ansätze sehen in Märchen symbolische Darstellungen innerer Konflikte und Wünsche. Jung und Freud gehören zu Psychoanalytikern, die Märchen entsprechend deuten. Sie analysieren Märchen ähnlich wie Träume, um unbewusste Prozesse und psychische Entwicklungen zu verstehen.

Welche Rolle spielen Archetypen in Märchen?

Archetypen sind universelle Urbilder, die in Märchen als wiederkehrende Figuren und Motive auftreten. Sie ermöglichen es, komplexe psychologische Themen auf einfache Weise darzustellen und fördern das Verständnis für menschliche Verhaltensmuster. Ein Beispiel für die Verbindung von Psychoanalyse und Archetypen ist Heldenreise des amerikanischen Mythenforschers Joseph Campbell, die auch als Strukturvorgabe für den Aufbau von Filmen und Serien genutzt wird.

Wer sind die bekanntesten Märchensammler:innen?

Brüder Grimm (Jacob und Wilhelm Grimm): Sammler deutscher Volksmärchen wie „Hänsel und Gretel“ oder „Aschenputtel“.

Hans Christian Andersen: Dänischer Autor von Kunstmärchen wie „Die kleine Meerjungfrau“ und „Das hässliche Entlein“.

Wilhelm Hauff: Bekannt für Märchen wie „Der kleine Muck“ und „Kalif Storch“.

Ludwig Bechstein: Deutscher Märchensammler, dessen Werke neben denen der Grimms populär waren.

Welche modernen Autor:innen haben Märchenelemente genutzt?

Astrid Lindgren: Schwedische Autorin, bekannt für Werke wie „Ronja Räubertochter“, die märchenhafte Elemente enthalten.

Michael Ende: Deutscher Schriftsteller, dessen Werke wie „Die unendliche Geschichte“ märchenhafte Strukturen aufweisen.

J.K. Rowling: Britische Autorin der „Harry Potter“-Reihe, die zahlreiche Märchenelemente integriert.

J.R.R. Tolkien: Autor von „Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“, die auf mythologischen und märchenhaften Motiven basieren

Wie beeinflussen Märchen heutige Medien?

Märchenmotive finden sich in zahlreichen modernen Filmen und Büchern.

„Encanto“: Ein Disney-Film, der eine magische Familie in Kolumbien zeigt und Themen wie Individualität und familiäre Erwartungen behandelt.

„Everything Everywhere All at Once“: Ein Film, der multiversale Konzepte nutzt und dabei archetypische Themen wie Selbstfindung und den Kampf zwischen Gut und Böse behandelt.

„Into the Woods“: Ein Disney-Film mit Meryl Streep, der klassische Märchenfiguren zusammenführt und ihre Geschichten neu interpretiert.

Warum sind Märchen kulturell bedeutsam?

Märchen bewahren kollektive Erfahrungen und Werte vergangener Generationen. Sie dienen als Mittel zur Weitergabe von Moralvorstellungen, kulturellen Normen und gesellschaftlichen Idealen. Durch ihre universellen Themen ermöglichen sie interkulturelle Verständigung und fördern das Verständnis für unterschiedliche Lebenswelten.

International bekannte Märchensammler

Hans Christian Andersen (Dänemark): Autor von über 150 Märchen, darunter „Die kleine Meerjungfrau“, „Das hässliche Entlein“ und „Die Schneekönigin“. Seine Werke zeichnen sich durch tiefgründige Symbolik und emotionale Tiefe aus.

Charles Perrault (Frankreich): Begründer des literarischen Märchens in Frankreich mit Geschichten wie „Cinderella“ und „Dornröschen“.

Alexander Afanasjew (Russland): Sammler russischer Volksmärchen, vergleichbar mit den Brüdern Grimm, mit Geschichten wie „Väterchen Frost“ und „Die Feuerblume“.

Zentrale Motive und Symbole in Märchen

Märchen nutzen universelle Symbole und Motive, um komplexe menschliche Erfahrungen und psychologische Prozesse zu veranschaulichen:

Farben: Farben tragen symbolische Bedeutungen. Rot steht oft für Liebe oder Gefahr, Weiß für Reinheit oder Unschuld, Schwarz für Tod oder das Unbekannte

Zahlen: Zahlen wie 3, 7 oder 12 haben symbolische Bedeutung. Die Zahl 3 steht oft für Vollständigkeit (z. B. drei Prüfungen), 7 für Vollkommenheit und 12 für Ganzheit oder Zyklus.

Tiere: Tiere wie der Frosch, der Wolf oder der Fuchs symbolisieren bestimmte Eigenschaften oder Herausforderungen. Der Frosch steht beispielsweise für Transformation, der Wolf für Gefahr oder Versuchung.

Gegenstände: Magische Objekte wie der Spiegel, der Apfel oder das Spinnrad haben tiefere Bedeutungen. Der Spiegel kann Selbsterkenntnis symbolisieren, der Apfel Versuchung oder Wissen, das Spinnrad das Schicksal.

Orte: Orte wie der Wald, der Turm oder der Brunnen stehen für Übergänge, Isolation oder das Unbewusste. Der Wald ist oft ein Ort der Prüfung und Selbstfindung, der Turm kann Isolation oder Schutz symbolisieren.


[1] Nikolaus von Festenberg: Fesche Zwerge, zarte Drachen. Erschienen am 13.3.2005 auf Der Spiegel, online unter: https://www.spiegel.de/kultur/fesche-zwerge-zarte-drachen-a-f27ffeee-0002-0001-0000-000039694649 (zuletzt aufgerufen am 04.05.2025).

Bildquellen

Worum geht es?

Dieser Blog dient dem Interpretieren von Literatur, Filmen und Kunst, individuellen Erfahrungen und der Realität. Die Analysen und Interpretationen erfolgen als Gedankenexperimente im Rahmen einer Beschäftigung mit dem Erzählen, literarischen Figuren, historischen Personen sowie realen Menschen unter Anwendung literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden.

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