Hier geht es um Patriotismus und das erste Kapitel aus Joseph Hellers Catch 22.
Kapitel 1: Der Texaner und der Patriotismus
Das erste Kapitel führt Captain Yossarian als einen faulen und nicht besonders pflichtbewussten jungen Mann ein, der es sich im Lazarett bequem gemacht hat, während seine Kameraden weiter unter Lebensgefahr Bombereinsätze fliegen müssen. Er belügt die Ärzte, indem er Leberbeschwerden vortäuscht und lässt sich mit großen Portionen Fleisch, Fruchtsaft und Milchschokolade – von den Krankenschwestern direkt ans Bett gebracht – den Tag versüßen. Wäre nicht Krieg, es wäre Urlaub. Denn Yossarian befindet sich nicht an einer stark beschossenen Front, sondern auf der Mittelmeerinsel Pianosa vor Elba und Italien.
Bereits im ersten Kapitel werden die im Verlauf des Werkes relevanten und handlungstragenden Themen vielfältig inszeniert. Diese Themen werden in kommenden Textmosaik-Ausgaben differenzierter betrachtet werden. Hier soll zunächst eine allgemeine Einführung über das breite Spektrum an satirischer Themenvielfalt geboten werden.
Willkür, Entpersonalisierung, Kontrolle
Als Beamter ist Yossarian verpflichtet, im Lazarett die Feldpost zu zensieren.
„For a little while in the morning he had to censor letters, but he was free after that to spend the rest of each day lying around idly with a clear conscience.“ (Joseph Heller: Catch 22. London 1955, S. 7.)
„Jeden Morgen mußte er eine Weile Briefe zensieren, aber danach stand es ihm frei, den Rest des Tages mit reinem Gewissen untätig im Bett zu verbringen.“ (Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 199, S. 8.)
Die Zensur der Briefe ist so langweilig, dass Yossarian sich für die Zensur eigene Regeln ausdenkt. Einmal kürzt er alle Adverbien und Adjektive, dann die bestimmten und unbestimmten Artikel, dann wiederum fügt er etwas hinzu, schwärzt ganze Absätze und später sogar die Adressen. Die Kennzeichnung der Zensur mit dem eigenen Namen ist Vorschrift, doch Yossarian unterschreibt wahlweise als Irving Washington oder Washington Irving und verursacht der Militärbehörde solches Kopfzerbrechen, dass ein Mitarbeiter vom Criminal Investigation Command (CID), der für interne Ermittlungen zuständigen Instanz Straftaten, den für die verpatzten Zensuren Verantwortlichen ausfindig machen soll.
Absolute Kontrolle
Allgemein wurden Zensurmaßnahmen in Kriegszeiten angewandt, damit geheime Informationen, Fotos sowie Gerüchte, Propaganda, kritische Kommentare zur Regierung und überhaupt zum Krieg nicht öffentlich wurden bzw. in die Heimat gelangten oder möglicherweise sogar dem Feind in die Hände fielen.
Zensur ist ein Mittel, um nicht nur ein- und ausgehende Informationen zu kontrollieren, sondern auch, um Untergebene einzuschüchtern. Indem Yossarian sämtliche Briefe seiner Eigenlogik nach willkürlichen Maßstäben „zensiert“, verwirrt er die Behörde und untergräbt die Autorität seiner Vorgesetzten. Im Grunde führt er das (Zensur)System ad adsurdum.
Das gesamte System der Zensur beruht auf diskriminierender Entpersonalisierung. Wenn Yossarian zuletzt Anreden und Unterschriften streicht – dann ist hier die Paradoxie des Krieges am Zensurbetrieb selbst dargestellt. Das willkürliche Löschen von Namen findet im Krieg tatsächlich statt, wenn Menschen aus dem Leben „radiert“ werden.
Das Militär ist nach hierarchischen Prinzipien aufgebaut und je nach Rang folgen die Soldaten der jeweiligen Befehlskette. Kleinste Ungereimtheiten werden bestraft und verfolgt. Aus diesem Grund wird auch der CID-Ermittler auf der Suche nach einem gewissen Irving oder Washington tätig und ins Lazarett eingeschleust, kann aber den Übeltäter nicht ausfindig machen.
Humanität, Patriotismus, Kapitalismus
Yossarian ist mit seiner Haltung, die – aus patriotischer Perspektive betrachtet – durchaus als asozial betrachtet werden kann, nicht allein. Ebenfalls ohne nennenswerte Verletzungen oder Erkrankungen im Lazarett befinden sich der an einer imaginierten Grippe erkrankte vierundzwanzigjährige Lieutenant Dunbar und etliche weitere Soldaten. Nur die wenigstens haben ernsthafte Verletzungen, zu denen ein vollständig in Mullbinden gehüllter Unbekannter und ein Texaner gehören, der sich als „gut, generös und liebenswert“ (DE, S. 10. EN: „good-natured, generous and likeable“, S. 9) entpuppt.
In die Mitte des Lazaretts platziert, gibt der Texaner bald seine patriotischen Ansichten zum Besten, nach denen er wohlhabende Menschen als anständige Menschen bezeichnet, denen mehr Stimmen zustünden. Herumtreiber, Huren, Atheisten und Hungerleider dagegen gelten ihm als unanständige Leute. Eben wegen seines naiven Patriotismus hält es keiner der scheinbar erkrankten Männer mit ihm aus, sodass sich das Lazarett innerhalb von zehn Tagen leert und die vermeintlich Erkrankten lieber wieder in den Krieg ziehen und ihr Leben riskieren, als es sich im Krankenbett gutgehen zu lassen.
Patriotismus als Lösung auf alles
Interessant ist Dunbars Feststellung, die diesem in der monotonen Langeweile des Lazaretts plötzlich entfährt, dass er jetzt endlich wisse, was die ganze Zeit gefehlt habe: Patriotismus!
Yossarian entgegnet daraufhin: „Richtig, richtig, richtig. Heiße Würstchen, die heimische Fußballmannschaft, Mutters Apfelkuchen. Dafür kämpfen alle. Wer aber kämpft für die anständigen Leute? Wer kämpft dafür, daß die anständigen Leute mehr Stimmen abgeben dürfen? Kein Patriotismus. Daran fehlt es. Und auch am Matriotismus.“ (S. 10)
„You’re right, you’re right, you’re right. The hot dog, the Brooklyn Dodgers. Mom’s apple pie. That’s what everyone’s fighting for. But who’s fighting für the decent folk? Who’s fighting for more votes fort he decent folk. There’s no patriotism, that’s it is. And no matriotism, either.“ (S. 9)
Inwiefern der Begriff Matriotismus auf das damalige Frauenbild bezogen werden kann, ob feministische Betrachtungen und Interpretationen bei der Thematik überhaupt herangezogen werden sollten, wird beizeiten eingehender betrachtet werden. Gemeint sein könnte hier eine gleichberechtigte Betrachtungsweise, nicht nur Vater, sondern eben auch Mutter, nicht nur Mann, sondern eben auch Frau. Denn bereits hier zeigt sich, dass Yossarian keineswegs faul und asozial ist, sondern sich Gedanken um Gleichberechtigung macht. Dies stellt ihn in einen figuralen Antagonismus zum patriotischen Texaner. Was ist überhaupt echter, wahrer Patriotismus? Inhärent schwingen zugleich im Zusammenhang mit den vorher von den Figuren gemachen Aussagen nach anständigen und unanständigen Menschengruppen mit und damit auch die Frage nach der Wertigkeit von Menschenleben in einer ebenfalls hierarchisch organisierten Gesellschaft.
Menschen ins System bringen
Diese Einteilung von Menschen gilt für das bürokratische System des Militärs, wie es etwa an den Diensträngen offensichtlich wird. Diese sind nach einem hierarchischen Organisationsprinzip geordnet. Die zum Rang gehörende Relevanz der jeweiligen Person zeigt sich an dem sterbenden Colonel, der in einer Privatstation im Lazarett untergebracht ist und von einer Privatarmee an Spezialisten am ganzen Körper intensiv untersucht wird. Täglich erhält er Besuch von einer elegant gekleideten Frau, die ihn bemitleidet.
Wo auch immer Menschen sich in verschiedene Klassen einteilen lassen schwingt in der modernen Welt der Kapitalismus als unerbittliches Pendel mit. Im Kapitalismus gilt in gewisser Weise die von Darwin aufgestellten Thesen zur Evolution und natürlich auch die bekannte „Survival oft he fittest“-Thematik. Inwiefern Kapitalismus und Krieg sich gegenseitig äußerst günstig bedingen, befruchten und befördern wird ebenfalls in den folgenden Analysen erläutert.
Literatur, Religion, Wahnsinn
Es finden sich in Hellers Werk immer wieder intertextuelle Verweise und Anspielungen auf andere literarische Werke, die ihn als belesen kennzeichnen. Im ersten Kapitel handelt es sich um Moby Dick. Der Bezug wird leider im deutschen Exemplar nicht deutlich, da sich die Übersetzer wohl ein Späßchen bezüglich der Übersetzung eines Begriffs gemacht haben.
„[…] ein Pathologe befaßte sich mit [dem Pathos des ältlichen Colonels], ein Zystologe mit seinen Zysten, und ein glatzköpfiger, pedantischer Zetaseanologe von der zoologischen Abteilung der Universität Harvard, den die schadhafte Anode einer Lochkartenmaschine skrupellos zum Dienst in einer Sanitätseinheit gepreßt hatte, bemühte sich anläßlich seiner Visiten bei dem sterbenden Colonel, ein Gespräch über Moby Dick in Gang zu bringen.“
Man fragt sich also: Was hat das Ganze mit Moby Dick zu tun? Das englische Original ist deutlich – Wait for it!
„[…] there was a pathologist für hist pathos, a cystologist for his cysts, and a bald and pedantiv cetologist from the zoology department at Hardvard who had been shanghaied ruthlessly into the Medical Corps by a faulty anode in an I.B.M. machine and spent his sessions with the dying colonel trying to discuss Moby Dick with him.“ (S. 15)
Der englische Begriff cetologist bedeutet ‘Walforscher’, wohingegen das in der deutschen Übersetzung gebrauchte Wort ‘Zetaseanologe’ schlichtweg nicht existiert (zumindest habe ich es nicht finden können).
Inwiefern nun von Moby Dick auf den Bildungsstatus des Colonel geschlossen werden darf (immerhin kommt kein Gespräch zustande) oder aber beide Werke hinsichtlich der implizit vorhandenen religiösen, philosophischen und mythischen Symbolik vereint, ist Interpretationssache. Beide Romane handeln von Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Mensch und Bestie. Aber wie genau die Figuren zu bewerten sind, das ist ambivalent oder zumindest auf den ersten Blick nicht deutlich erkennbar.
Die Unschuld des Idealen
Der Roman beginnt damit, dass Yossarian sich auf den ersten Blick in den Kaplan verliebt, als er ihn sieht. Dies ist nicht wörtlich zu nehmen, doch stellt der Kaplan aufgrund seiner Zuordnung zur Geistlichkeit für Yossarian etwas Besonderes dar, auf das in noch folgenden Interpretationen hinzuweisen sein wird. Zudem darf er auch als Schlüsselfigur begriffen werden.
Die Frage, wer wahnsinnig oder verrückt ist, wird bereits im ersten Kapitel aufgegriffen. Sie ist tatsächlich sinnstützend für den gesamten Roman und findet sich schließlich auch implizit in der widersinnigen Logik des titelgebenden Catch 22. Wer verrückt ist und was genau man dafür tun muss, sind für den Handlungsverlauf relevante Markierungen. Dabei kann unterschieden werden zwischen dem psychologischen Wahnsinn als Krankheit und dem Verrücktsein im Sinne eines Abrückens von der allgemeinen Wahrnehmung oder allgemeingültigen Meinung. Dies zeigt sich bereits im ersten Kapitel an Yossarians Verhalten, weil er sich gegen die ihm aufgetragenen Befehle wendet und die hierarchische Ordnung willentlich untergräbt, sich zudem von den patriotisch gesinnten Kameraden ins Lazarett zurückzieht und lieber für sich lebt.
Man ist, was man tut?
Fast alle Kapitel in Hellers Werk tragen Namen von Figuren, die eine mehr oder weniger gewichtige Funktion in der Handlung übernehmen. Das hat einen bestimmten Grund. Natürlich könnte die Kapitelstruktur als chaotisch und nicht chronologisch geordnet sein. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu einer tiefergehenden Ordnungsstruktur, die der Autor in sein Werk eingewoben hat und mit seinen eigenen Erfahrungen und Überzeugungen sowie realen und ins Satirische übertragenen Fakten aus dem kulturellen Gedächtnis und anthropologischen Kenntnissen verwoben hat.
Heller bildet nicht nur die bescheuerten bürokratischen Gepflogenheiten des US-Militärs oder ganz allgemein die Vorgehensweise institutionalisierter Organisationen ab. Es wird sich zeigen, dass Heller hier sehr akribisch vorgeht und versucht, möglichst viele in der Gesellschaft bekannte Stereotype auf irgendeine Art und Weise in seiner Satire zu platzieren. Er nimmt innerhalb dieses Ganzen quasi eine gesellschaftliche Studie über zeitgenössische Stereotype vor.
Stereotype, Spiegelungen, Menschen
„Der Begriff des Stereotyps (griech.: stereos – starr, hart, fest und typos – feste Norm, charakteristisches Gepräge) wurde bereits 1922 vom Journalisten Walter Lippmann in die Sozialwissenschaften eingeführt, der damit die “Bilder in unseren Köpfen” beschrieb, die sich als schablonisierte und schematisierte Vorstellungsinhalte zwischen unsere Außenwelt und unser Bewußtsein schieben.“[1]
Laut Jens Eder, der sich intensiv mit der Konzeption von Figuren (vor allem in Filmen) beschäftigt hat, erscheinen „Stereotype als Übereinkünfte, dabei vermitteln sie selbst erst den größten Teil der Meinung über Andere. Die gewohnten Stereotype einer Kultur können in einer anderen als fremdartige, seltsame oder exotische Konstrukte erscheinen.“[2]
Stereotype kategorisieren
Kategorisieren lassen sich Stereotype laut Eder in drei Hinsichten. Ästhetisch sind sie, weil sie trivial sind und keinen Erkenntnis- und Erlebnisgewinn bringen. Da sie Langeweile auslösen können sie ebenfalls aus einer wirkungsbezogenen Perspektive kritisiert werden. Zuletzt können Stereotype unangemessene Denkmuster verbreiten, dann ist ideologische Kritik angebracht.[3]
Stereotype haben teils problematische Wirkungen für die Einschätzung, Bewertung und emotionale Einstellung zu sozialen Gruppen (vgl. Schönpflug 1998). Als «Stereotyp-Effekte» ergeben sich etwa systematische Urteilsverzerrungen. Stereotypisierte Personen werden grundsätzlich extremer beurteilt. Unterschiede zwischen Mitgliedern einer Gruppe (Schwarze, Frauen usw.) werden minimiert, die Unterschiede zwischen den Gruppen maximiert. Dabei werden der eigenen Gruppe eher positive, den anderen eher negative Eigenschaften zugeschrieben.“[4]
Figuren und Stereotype
„Eine Figur wird als Stereotyp konstruiert, bekommt aber eine narrative Funktion, die nicht durch den Stereotyp impliziert wird; dadurch werden die signalisierten Annahmen in Frage gestellt. Beispielsweise könnte ein stereotyper Alkoholiker ein erfolgreicher Geschäftsmann werden. Im Gegensatz zu Stereotypen können andere soziale Typen auch eine Ablehnung dominanter Werte nahe legen, etwa Figuren, die sich außerhalb der herrschenden Gruppen oder der Gesellschaft befinden.“[5]
„Eine Figur ist typisiert, wenn ihre Eigenschaftskonstellation einem mentalen Prototyp im Gedächtnis der Zuschauer weitgehend entspricht; sie ist individuell, wenn dies nicht der Fall ist und sie sich der Vorstellung von einem einzigartigen menschlichen Individuum annähert. Eine typisierte Figur kann durchaus komplex sein und sich verändern, entscheidend sind ihr Schematismus und ihre einfache Verständlichkeit. Es gibt inhaltliche und strukturelle, soziale und mediale Figurentypen, darunter jeweils zahlreiche Spielarten: unter den Medientypen etwa die der Film-, Genre- und Erzähltradition sowie des Starsystems, unter den Sozialtypen solche für Rollen, Gruppen, Nationalitäten, Temperamente, Körper usw. Zudem ist zu unterscheiden zwischen Stereotypen, Archetypen und funktionellen Typen. Stereotype Figuren entsprechen übergeneralisierenden, ideologischen Vorstellungen über Mitglieder sozialer Gruppen. Die Eigenschaftskonstellationen archetypischer Figuren sind transhistorisch und transkulturell verbreitet. Funktionale Typen sind Figuren, die typisiert angelegt sind, um bestimmte dramaturgische Aufgaben besser erfüllen zu können.“[6]
Gibt es Patriotismus auch bei Stereotypen?
Jens Eder beschreibt die Entwicklung von universalen Grundstrukturen, die zur Erschaffung von Figuren beitragen. Er führt an, dass Gedächtnisinhalte innerhalb der Kognitionswissenschaften (aber auch der Semiotik) oft in Form assoziativer Begriffssysteme oder Merkmalslisten modelliert. Dabei sind einzelne gespeicherte Informationen jedoch zu komplexeren Strukturen verbunden: zu Schemata, Prototypen und Exempla. Schemata sind allgemeine Wissensstrukturen über Merkmalskonstellationen von Menschen, Dingen oder Ereignisabläufen. Sie bilden ein offenes, nach Wahrscheinlichkeit geordnetes Muster von Merkmalsalternativen.“[7]
Rezipienten verfügen durch ihre Erziehung in einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu über spezifische Schemata von bestimmten Gruppen von Menschen oder auch Kategorien an Figuren (Großmutter, Pirat, Barkeeper usw.). Laut Jens Eder stellt ein Prototyp den Standardfall eines Schemas dar. Das bedeutet, er trägt die individuell zugeordnete Konstellation von Merkmalen von bestimmten Menschen, Situationen oder Gruppen.[8] Mit diesen Prototypen können subjektiv Erfahrungen verbunden werden. Insbesondere im Falle von Heller ist diese Beobachtung relevant. Denn er selbst war im Zweiten Weltkrieg Bomber und hat nach eigenen Angaben einige seiner Figuren nach realen Vorbildern geschaffen. Catch 22 ist satirisches Gegenbild zu Erinnerungen einer real lebenden Person. Heller hat seine Figuren schließlich nach dem ihm bekannten Wissen aus dem kulturellen Gedächtnis geformt.
Figuren, Funktionen, F…Stereotype
„Entsprechende Typisierungen sind in hohem Maße funktional, denn sie rufen bei Rezipienten schnell einschlägige Wissensbestände ab, was den vom Text erforderten Charakterisierungsaufwand reduziert. Die Typisierung einer Figur kann sich u. a. dem Genre oder auch unserem Alltag (oder zumindest unserer Welt) entnommenen Kategorisierungen verdanken. Sehr geläufige Fälle einer vom Genre abhängigen Typisierung finden sich etwa in Detektivromanen, in denen sich Kriminelle und Ermittler gegenüberstehen, oder in der Liebesgeschichte, in der die Liebenden trotz allerlei Verwicklungen schließlich zueinanderfinden. Figurenkonzeptionen können sich auch alltagsweltlichen Stereotypisierungen verdanken und beispielsweise Rollenstereotype (die Hausfrau, die femme fatale, der zerstreute Professor) oder kulturelle, gesellschaftliche oder gender-bezogene Stereotype (die Arbeitslose, der Macho) reproduzieren.“ [9]
Die Anonymität des Individuums
Im Lazarett befindet sich auch der sogenannte Soldat in Weiß, der komplett eingegipst sein Dasein fristen muss und keine Wahl hat, als sich die Anekdoten des Texaners Stunde um Stunde anzuhören. Einzig ein Loch zum Atmen gibt es sowie Schlitze an den Ellenbogen und aus seinem Bauch, in die Schläuche eingelassen sind. Er wird intravenös ernährt, wobei es zwei Behälter gibt, die stets ausgetauscht werden. Es handelt sich dabei um den Urin und die Flüssigkeit, über die er ernährt wird. In dieser absurden Logik ernährt er sich quasi selbst. Zumindest solange, bis Schwester Duckett beim täglichen Fiebermessen seinen Tod feststellt. Es gibt Theorien, nach denen der Soldat in Weiß stellvertretend für das Schicksal des Einzelnen steht, für den einfachen Mann, der im Angesicht des instituionellen Militarismus keine Chance hat und sich ohnmächtig in seine Schicksal ergeben muss. Er muss hören, was er nicht will. Er muss schlucken, was ihm nicht guttut. Er sieht nichts und hört nichts. Und sprechen kann er nicht mehr. Dieses Individuum ist physisch zerstört vom Krieg, in dem es geschickt wurde. Es wird quasi ausgelöscht.
Patriotismus und Rassentrennung?
Heller nutzt das Ableben der anonymen Figur sofort für eine Debatte zur Rassentrennung bzw. überhaupt dem Umgang mit dem fremden Anderen. Yossarian und Dunbar beschuldigen den Texaner, den Soldaten in Weiß ermordet zu haben, weil er ein Neger war. Der Texaner weist dann jedoch daraufhin, dass 1944 die Armee noch getrennt war und Menschen mit dunkler Hautfarbe in einem anderen Bereich des Lagers untergebracht waren. Dunbar und Yossarian vermuten daraufhin, dass der Rote Seargent (er wird sogenannt, weil er indigener Abstammung ist), den Soldaten in Weiß in das Zelt geschmuggelt habe.
Fazit und Ausblick
Figuren und dahinterstehende Ansichten, Vorurteile, Wissenselemente, welche stereotypisch in die Figurenkonzeption eingeflossen sind und sich thematisch im jeweiligen Kapitel entfalten. Von diesem Punkt gehen sämtliche Handlungsstränge ins gesamte Werk aus. Denn die Handlung in ›Catch 22‹ verläuft nicht linear, sondern (wie bereits festgestellt) oberflächlich vielleicht chaotisch anmutend, allerdings steckt dahinter neben der von einem Trauma ausgehenden Struktur gleichfalls ein ausgeklügeltes System, das in den nächsten Folgen nach und nach (auch in Bezug auf die Figureneinführung, die eingearbeiteten und inszenierten Thematiken und relevanten Ereignisse) aufgedeckt und veranschaulicht werden soll.
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Quellen
Joseph Heller: Catch 22. London 1955.
Joseph Heller: Catch 22. Aus dem Amerikanischen von Irene und Günther Danehl. Mit einem Nachwort zur deutschen Neuausgabe von Joseph Heller. Frankfurt am Main 1999.
Verwendete Literatur:
Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg 2008.
Kindt, Tom/Köppe, Tilmann: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2022.
Six-Materna, Iris und Six, Bernd: Stereotype. Essay. In: Lexikon der Psychologie. Online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/stereotype/14836 (zuletzt abgerufen am 17.08.2023).
[1] Iris Six-Materna und Bernd Six: Stereotype. Essay. In: Lexikon der Psychologie. Online unter:
https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/stereotype/14836 (zuletzt abgerufen am 17.08.2023).
[2] Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg 2008, S. 380.
[3] Ebd., S. 380.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 381.
[6] Ebd., S. 398.
[7] Ebd., S. 89.
[8] Ebd., S. 90.
[9] Kindt, Tom/Köppe, Tilmann: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2022, S. 106.
Bildquellen
- field-mail: pixabay.de – Greg-Montani
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