Zitiert: Candide oder Der Optimismus – Voltaire

Candide oder Der Optimismus von dem französischen Philosophen, Schriftsteller und Aufklärer Voltaire (1964 – 1778) wurde 1759 zunächst anonym veröffentlicht, wobei die Verfasserschaft nicht lange geheimblieb. Kurze Zeit darauf wanderte das Buch auf den Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche. Zum Einstieg ein Zitat, das sinnstiftend das gesamte Buch trägt, zudem noch in den zeitgenössischen Kontext als Antwort auf Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Theodizee (Original: Essais de Théodicée) gilt und damit zu den Lehren des Doctor Pangloss gehört, der wissend seinen Schüler Candide belehrt, den titelgebenden Protagonisten.

»Es ist erwiesen«, sagte er, »dass die Dinge nicht anders sein können: Denn da Alles zu einem Zweck erschaffen worden, ist Alles notwendigerweise zum denkbar besten Zwecke in der Welt. Bemerken Sie wohl, dass die Nasen geschaffen wurden, um den Brillen als Unterlage zu dienen, und so tragen wir denn auch Brillen. Die Beine sind augenscheinlich so eingerichtet, dass man Strümpfe darüber ziehen kann, und richtig tragen wir Strümpfe. Die Steine wurden gebildet, um behauen zu werden und Schlösser daraus zu bauen, und so hat denn auch der gnädige Herr ein prachtvolles Schloss; der größte Freiherr im ganzen westfälischen Kreiste musste natürlich am besten wohnen, und da die Schweine geschaffen wurden, um gegessen zu werden, essen wir Schweinefleisch Jahr aus, Jahr ein. Folglich sagen die, welche bloß zugeben, dass Alles gut sei, eine Dummheit: Sie mussten sagen, dass nichts in der Welt besser sein kann, als es dermalen ist.«
Aus: Voltaire: Candide oder die beste aller Welten. Mit Illustrationen von Paul Klee. [Französischer Originaltitel Candide ou l’optimisme]. Wroclaw 2018, S. 8.[1]
Anmerkung: Es handelt sich bei meinem gebraucht gekauften Exemplar allem Anschein nach um eine Druckausgabe einer Kindle-Version, weswegen auch der Titel nicht Candide oder Der Optimismus, sondern Candide oder die beste aller Welten lautet.

Zu Voltaire – Eine kleine Einführung

Mit vollem Namen hieß der Franzose François-Marie Arouet. Es gibt einige Theorien über die Wahl des Pseudonyms. Unter anderem habe sich der kritische Denker einen einprägsamen literarischen Namen schaffen wollen, auch zur Stärkung seines Rufs als Autor. Das ist verständlich, immerhin prägen sich gängige Künstlernamen ein. Lady Gaga heißt eigentlich Stefani Joanne Angelina Germanotta, Altkanzler Willy Brandt hieß eigentlich Herbert Ernst Karl Frahm und auch Friedrich von Hardenberg bevorzugte Novalis, als den man ihn heutzutage auch kennt. Jedenfalls war sehr produktiv. Er verfasste Romane, Essays, Theaterstücke, Gedichte und führte auch einen regen Briefwechsel mit bekannten Persönlichkeiten seiner Zeit, darunter politische Führer, Adelige, andere Philosophen und Schriftsteller wie Jean-Jacques Rousseau oder Denis Diderot, Friedrich II. von Preußen und Katharina die Große von Russland. Seine Briefe waren oft von politischer, literarischer und philosophischer Natur und trugen zur Verbreitung seiner Ideen bei.

Voltaire als Kritiker seiner Zeit

Voltaire war bekannt für seine scharfsinnige Kritik an politischer Tyrannei, religiösem Dogmatismus und sozialer Ungerechtigkeit. Er war Verfechter der Meinungsfreiheit sowie der Trennung von Kirche und Staat. Eben darum geriet er oft in Konflikt mit den herrschenden Autoritäten seiner Zeit und landete mehrfach im Exil. Candide ist sein bekanntestes Werk und gehört zu den Klassikern der Weltliteratur. Darüber hinaus besitzt es einen immensen Unterhaltungswert mit bitterbösen Dialogen und satirischen Situationen, die auf menschlichen Stereotypen, verschiedenen zeitgenössischen Weltanschauungen, philosophischen Lehren und Moralvorstellungen basieren. Andererseits bin ich zuletzt auf ein sehr interessantes Zitat von Daniel Kehlmann zu Candide gestoßen, dass ich hier niemandem vorenthalten will. Vor allem stimme ich ihm zu! Aber es so hinzubekommen im entsprechenden Kontext, das ist auch etwas, das man erst einmal schaffen muss.

„Voltaire war spirituell unmusikalisch. Er träumte nie. Die Welt Goethes oder Kants hätte sich ihm nie erschlossen, geschweige denn je Hölderlins. »Candide« ist ein flaches Buch, es ist nicht tief, es ist nicht reich, es ist nur witzig, verzweifelt und wahr.“
Zitiert aus: Dichter beschimpfen Dichter. Ein Alphabet harter Urteile. Zusammengesucht von Jörg Drews & Co. Drankfurt am Main 2006, S. 241.

In diesem Sinne sollen hier ein paar mehr und weniger lange Zitate aufgeführt werden, welche die Lust zur Lektüre anregen und zugleich die scharfsinnige Kritik Voltaires präsentieren. Vorab noch ein paar Eckdaten zum einführenden Verständnis.

Gottfried Wilhelm Leibniz und die beste aller möglichen Welten

Voltaires Candide ist als Reaktion auf die von Gottfried Wilhelm Leibniz veröffentliche Theodizee-Thematik zu betrachten, in dem dieser einen folgenschweren Satz fallen lässt:

„Auf meinen Reisen hatte ich dann Gelegenheit, mich mit mehreren bedeutenden Männern verschiedener Richtungen zu besprechen, wie z. B. mit Herrn Peter von Wallenburg,
Weihbischof von Mainz, Herrn Johann Ludwig Fabricius, dem ersten Theologen in Heidelberg, und endlich mit dem berühmten Herrn Arnauld, dem ich sogar, etwa um 1673, einen von mir verfaßten lateinischen Dialog über diesen Gegenstand mitteilte, in dem ich schon damals als Tatsache hinstellte, daß Gott die vollkommenste aller möglichen Welten erwählt habe und durch seine Weisheit bestimmt worden sei, das damit verbundene Übel zuzulassen, was jedoch nicht hindere, daß diese Welt alles in allem die beste sei, die gewählt werden konnte.“[2]

Theodizee bedeutet so viel wie Rechtfertigung Gottes. Das Wort wird zusammengesetzt aus dem Altgriechischen θεός theós ‚Gott‘ und δίκη díkē ‚Gerechtigkeit‘. Es handelt sich bei der Theodizee um eine theologische Fragestellung, die sich mit der Vereinbarkeit des Bösen und Leids in der Welt mit der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte Gottes befasst. Denn angesichts solcher Ereignisse wie den Holocaust, Christus am Kreuz, Atombomben, Kriegen, Naturkatastrophen, Pandemien und mehr scheint die Frage nach dem allmächtigen und liebenden Gott, der Leid und Ungerechtigkeit zulässt, gerechtfertigt. Weitere Informationen zum Begriff gibt es erst einmal hier. Diese Problematik ist übrigens auch im Science-Fiction Film Signs von M. Night Shyamalan aus dem Jahr 2002 präsent. Dort gerät ein Pfarrer aufgrund des Todes seiner Frau in einen Gewissenskonflikt mit seiner theologischen Tätigkeit. Anhand der Dialoge und den Handlungen der Figuren lässt sich die Theodizee-Thematik gut erkennen.

Die beste aller Welten – Wirklich?

Doch zurück zu Leibniz und der besten aller möglichen Welten. Dieser Satz sorgt bis heute für rege Echos in der Welt. Leibniz argumentiert, dass Gott aus einer unendlichen Anzahl von möglichen Welten die beste auswählte. Diese beste Welt sei vollkommen und harmonisch, in der alles, was passiert, aus einem göttlichen Plan resultiert und letztendlich zum Guten führt. Sie steht im Einklang mit seiner Überzeugung von der Allgüte Gottes und seiner Sichtweise auf das Universum als wohlgeordnet und harmonisch. Er argumentierte, dass, auch wenn es in der Welt Leiden und Übel gibt, dies notwendig sei, um das größere Gut zu erreichen. Leiden und Übel seien Teil eines göttlichen Plans, der letztendlich zu einer vollkommenen Welt führen würde. Die Theorie hat allerdings einen Haken, weil sie im krassen Widerspruch steht zu der Realität mit ihren harschen, grausamen Ereignissen. Viele Menschen sind nämlich täglich mit Leiden, Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit konfrontiert. Kritiker haben Leibniz‘ Optimismus als naiv und unrealistisch kritisiert, denn er scheint das Ausmaß des menschlichen Leidens, die vielen Ungerechtigkeiten und Unvollkommenheiten auszublenden, zu minimieren oder sogar positiv zu verkehren. Heinrich von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili kann ebenfalls in diesem Zusammenhang gelesen werden, dort im Rahmen von Naturkatastrophen, auf die Menschen keinen Einfluss haben und denen sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Insgesamt zeigt Leibniz‘ Theorie der besten aller möglichen Welten seine optimistische Sichtweise auf das Universum und den göttlichen Plan, während sie gleichzeitig kontrovers diskutiert wird und verschiedene Fragen über das menschliche Leiden und die Natur des Bösen aufwirft.

Und dann Voltaire mit Candide

Und auch Voltaires Candide steht eben in diesem Zusammenhang, nimmt der französische Denker Leibniz‘ Theorie der besten aller möglichen Welten satirisch grandios aufs Korn. Durch die Erlebnisse und Abenteuer des jungen und naiven Candide zeigt Voltaire, wie absurd und unrealistisch Leibniz‘ Optimismus in Anbetracht des Leidens und der Ungerechtigkeit in der realen Welt ist. Candide erlebt eine Reihe von katastrophalen Ereignissen, die seine Überzeugungen über die Welt und Gottes Güte erschüttern, und seine Reise dient als satirische Kritik an Leibniz‘ Vorstellung von einer perfekten und harmonischen Welt. Die Geschichte von der Hauptfigur Candide ist eng mit Voltaires eigener Lebensgeschichte und seinen politischen Überzeugungen verbunden. Voltaire nutzt als führender Denker der Aufklärung Candide einmal als Figur und insgesamt als Werk als Plattform, um die Missstände seiner Zeit anzuprangern. Leser soll durch die satirische Überspitzung zum Nachdenken über die Notwendigkeit von Reformen in Politik, Religion und Gesellschaft angeregt werden, um Toleranz, Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Candide kann gerade auch als Reaktion auf die politische Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit gelesen werden, immerhin erlebte Voltaire dies selbst sein Leben lang, kam schließlich Candide auch auf den Index.

Ein kurzer Überblick von Voltaires Candide

Im Werk finden sich zahlreiche ironische Wendungen und absurde Situationen, die dazu dienen, die Unzulänglichkeiten und Widersprüche der Menschheit aufzudecken. Das Buch hat somit viel gemein mit Catch 22 von Joseph Heller – es geht um die Absurdität der Conditio humana, die Absurdität des menschlichen Daseins und des menschlichen Wesens an sich. Die Hauptfigur Candide ist ein naiver und gutgläubiger junger Mann, der durch eine Welt der Täuschung und des Leidens wandert und dabei ständig mit den falschen Vorstellungen von Gut und Böse, Glück und Unglück konfrontiert wird. Immer im Blick bleibt die scharfe Kritik an der Optimismus-Philosophie von Leibniz sowie die Kritik an institutioneller Macht und die damit eingehenden Ungerechtigkeiten, Kritik am Kolonialismus und vielem mehr. Candide ist eine Satire, die Rezipienten auffordert, über ihre Situation nachzudenken und sich bewusst für Veränderungen einzusetzen, um die Welt zu einem humaneren und gerechteren Ort für jeden Menschen zu machen. Das soll hier auch für einen ersten Überblick reichen. Nun zu den weitaus unterhaltsameren Passagen.

Am Anfang war die Lehre

Candide wohnt im Schloss des Freiherrn von Thundertentronckh in Westfalen. Er ist „ein junger Bursche, der von Natur die Sanftmut selbst war. Seine Gesichtszüge waren der Spiegel seiner Seele. Er besaß eine ziemlich richtige Urteilskraft und ein Gemüt ohne Art und Falsch; aus der diesem Grunde vermutliche nannte man ihn Candide.“ (Candide, S. 7)

Jedenfalls wird Candide von Doctor Pangloss unterrichtet, dessen Lehren er mit der ihm anhaftenden Treuherzigkeit und Leichtgläubigkeit aufnimmt. Pangloss lehrte die Metaphysikotheologikosmonarratologie (irgendwie also eine Wissenschaft aus allen Wissenschaften, die es auf Erden gibt), „Er bewies auf unübertreffliche Weise, dass es keine Wirkung ohne Ursache gebe, und dass in dieser besten aller möglichen Welten das Schloss des gnädigen Herrn das beste aller möglichen Schlösser und die gnädige Frau die besten aller möglichen Freifrauen seien.“ (Candide, S. 8)

Das weiter oben genannte Zitat ist die von Pangloss vertretene Lehre des Optimismus, dass wir alle in der besten aller Welten leben und damit direkt gemünzt auf das Werk von Leibniz. Schauen wir also genauer hin, wie sich die Umsetzung und das Erleben dieser Lehre für Candide und seinen Lebensweg auswirkt.

Textpassage 1: Aufbruch, Ursache und Wirkung

„Candide hörte aufmerksam zu und glaubte in seiner Unschuld Alles; denn er fand Fräulein Cunégonden äußerst reizend, obgleich er sich nie erdreistete, es ihr zu sagen. Er hielt es zunächst dem Glücke, als Freiherr von Thundertentronck geboren zu sein, für die zweite Stufe der Glückseligkeit Fraulein Cunégonden zu sein, für die dritte, sie alle Tage zu sehen, und für die vierte, der Weisheit des Magisters Pangloss lauschen zu dürfen, des größten Philosophen Westfalens und folglich der ganzen Erde.
Eines Tages lustwandelte Cunégonden in einem kleinen Gehölz in der Nähe des Schlosses, das man den Park nannte, da erblickte sie im Gebüsch den Doctor Pangloss, als er gerade der Kammerjungfrau ihrer Mutter, einer kleinen sehr hübschen und gelehrigen Brünetten, Privatunterricht in der Experimental-Physik erteilte. Da Fräulein Cunégonde sehr wissbegierig war, beobachtete sie mit angehaltenem Atem die wiederholten Experimente, die vor Augen ausgeführt wurden. Sie sah deutlich die ratio sufficiens [Anm.: die reine Vernunft] des Doctors, die Wirkungen und Ursachen. Auf dem Heimweg war sie höchst aufgeregt, tiefsinnig und voll des Verlangens, ihre Kenntnisse zu bereichern, wobei sie sich dachte, dass sie wohl die ratio sufficiens des jungen Candide und er die ihre vorstellen könnte.
Als sie zum Schlosse zurückkam, begegnete sie ihm und errötete; Candide errötete gleichfalls, sie begrüßte ihn mit unsicherer Stimme, und Candide sprach mit ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, als man eben vom Tisch aufstand, trafen Cunégonde und Candide sich zufällig hinter einer spanischen Wand. Cunégonde ließ ihr Taschentuch fallen; Candide hob es auf; sie fasste ihn in ihrer Unschuld bei der Hand; der junge Mensch küsste in seiner Unschuld die Hand des jungen Fräuleins mit einer Lebhaftigkeit, einem Feuer der Empfindung, einer Anmut, die ihm bis dahin fremd war. Ihre Lippen begegneten sich, ihre Augen glühten, ihre Knie zitterten, ihre Häder verirrten sich. In diesem Augenblick ging der Freiherr von Thundertentronckh an der spanischen Wand vorüber, und da er keine Ursache und je Wirkung sah, jagte er unsern Candide mit derben Fußtritten zum Schlosse hinaus. Cunégonde fiel in Ohnmacht; mit Ohrfeigen brachte die gnädige Frau Mama sie wieder zu sich selbst; und allgemeine Bestürzung herrschte in dem schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser. (Candide, S. 9)

Candide wird dann aus dem ‘Paradies’, das Schloss, dass ja das beste aller möglichen Schlösser ist, verjagt und zieht in die Welt. Es dürfte wohl klar sein, was der Doctor Pangloss im Gebüsch mit der gelehrigen Brünetten treibt, das der Unterricht in Experimental-Physik genauso gut ein Unterricht im Kamasutra sein könnte. Platt ausgedrückt könnte man also sagen: Doctor Pangloss vernascht im Gebüsch die Kammerjungfer, Cunégonden schaut zu, wird erregt, trifft Candide, eins führt zum anderen. Besonders gefällt mir persönlich die textliche Gestaltung, die kurzen, präzisen und aufeinanderfolgenden Ursache-Wirkung-Prinzipien, die dadurch auch einem Ablauf von einem wissenschaftlichen Experiment ähneln im Sinne einer logisch aufeinander aufbauenden Reihe von Entwicklungen und Schlussfolgerungen.

Textpassage 2: Die Kirche: Machtmissbrauch und Dogmatismus

Pangloss und Candide gelangen mit dem Schiff nach Lissabon, wo ein großes Erdbeben die Stadt verwüstet und viele Menschen sterben. Sie helfen bei den Aufräumarbeiten und speisen mit den Überlebenden. Auch in dieser Situation kann Pangloss mit seiner Lehre aufwarten, die ihn und Candide allerdings teuer zu stehen kommt.

[Pangloss] versicherte, dass die Sachen nicht anders sein könnten. »Denn,« sprach er, »dies Alles ist so gut, dass kein besserer Zustand denkbar ist; denn wenn es zu Lissabon einen Vulkan gibt, so kann er nicht anderswo sein. Denn es ist unmöglich, dass die Dinge nicht wären, wo sie sind. Denn Alles ist gut«.
Ein kleiner schwarzer Mann, seines Zeichens ein Familiar [Laienmitglied von Ordensgemeinschaften] der heiligen Inquisition, der neben ihm saß, nahm sehr höflich das Wort und sprach: »Augenscheinlich glaubt der Herr nicht an die Erbsünde; denn wenn Alles aufs beste angeordnet ist, so gibt es demnach weder Sündenfall, noch Strafe.«
»Ich bitte Ew. Exzellenz ganz gehorsamst um Verzeihung,« antwortete Pangloss noch höflicher; »denn der Sündenfall des Menschen und die Verfluchung gehörten notwendig in die beste aller möglichen Welten«.
»Der Herr glaubt also nicht an die Freiheit?« sprach der Familiar.
»Ew. Exzellenz werden gütigst entschuldigen,« erwiderte Pangloss; »die Freiheit verträgt sich ist der absoluten Notwendigkeit sehr wohl; denn es war notwendig, dass wir frei seien; denn der determinierte Willen endlich …«
Pangloss steckte noch mitten in seiner Phrase, als der Familiar seinem Bedienten, der ihm Port wein servierte, einen bedeutungsvollen Wink gab.

NACH DEM ERDBEBEN, wodurch drei Viertel von Lissabon zu Grunde gegangen waren, hatten die Weisen des Landes kein wirksameres Mittel, um der gänzlichen Zerstörung vorzubeugen, ausfindig gemacht, als dass man dem Volke ein schönes Auto da Fe [eine meist öffentliche Verkündung der Urteile der Prozesse der Spanischen Inquisition oder der Portugiesischen Inquisition] gebe. Die Universität Coimbra hatte den Ausspruch getan, dass das Schauspiel einiger Menschen, die mit zugehöriger Feierlichkeit bei langsamem Feuer gebraten würden, ein untrügliches Mittel zur Verhütung von Erdbeben sei.
Mann hatte demgemäß einen Biskayer festgenommen, der überführt war, seine Mitgevatterin geheiratet zu haben, und zwei Portugiesen, die ein geratenes Huhn verspeist und den Speck herausgenommen hatten. Nach diesem Mittagsmahl aber ergriff man noch den Doctor Pangloss und seinen Schüler Candide; jene weil er geredet, diesen, weil er mit beifälliger Miene zugehört hatte. Beide wurden, voneinander getrennt, in äußerst frische Gemächer gebracht, wo man nie von der Sonne belästigt ward. Acht Tage darauf wurden beide mit einem Sanbenito bekleidet und ihre Häupter mit einer spitzen papiernen Mütze (coroza) geschmückt. Die Mitra und der Sanbenito Candides war mit umgekehrten Flammen und mit Teufeln ohne Schweife und Klauen bemalt, Panglossens Teufel dagegen hatten Schweife, Klauen, und seine Flammen standen aufrecht. In diesem Anzuge folgten sie der Prozession und hörten eine sehr salbungsreiche Predigt an, worauf eine herrliche Symphonie auf den Brummbass folgte. Candide wurde während des Gesangs nach dem Takte ausgepeitscht; der Biskayer und die beiden Leute, die keinen Speck hatten essen wollen, wurden verbrannt und Pangloss gehängt, obgleich dies sonst nicht üblich ist. Denselben Tag erfolgt ein neues Erdbeben mit furchtbarem Getöse und den verheerensten Wirkungen.
Vor Betäubung und Entsetzen ganz außer sich, blutend und an allen Gliedern bebend sprach Candide zu sich selbst: »Wenn das die beste aller Welten ist, wie mögen denn erst die andern aussehen? Es möchte drum sein, wenn ich nur gepeitscht wäre, das bin ich schon bei den Bulgaren gewohnt worden; aber, o, mein teurer Pangloss, Du Krone der Philosophen! Dich musste ich hängen sehen, ohne zu wissen, warum? O, mein guter Jakob, bester der Menschen! Du musstest vor meinen Augen eine Beute der Wogen werden? Oh, Cunégond! Perle der Mädchen! Dir mussten sie den Leib aufschlitzen?«
Mit Predigt, Peitschenhieben, Absolution und Segen begnadigt und sich nur mit Mühe auf den Beinen haltend, wollte er sich fort trollen, als eine Alte mit den Worten zu ihm trat: »Fasst Mut, mein Sohn, und folgt mir.« (Candide, S. 23-25)

Predigt, Peitschenhieben, Absolution und Segen

Die beißende Kritik an der Kirche wird hier deutlich. Sofort nach Pangloss‘ Aussage, dass alles zum Besten stünde, es weder Sündenfall noch Strafe gebe, wird er aus dem Weg geräumt. Die Kirche baut ihre Macht und Instrumentalisierung ja gerade auf der Sündhaftigkeit des Menschen auf. Wer sündhaft ist, ist schuldig, wer Schuld abtragen muss, den hat man in der Hand. Voltaire bleibt aber nicht beim Allgemeinen, er geht noch weiter: Juwelenraubende Franziskaner (das sind übrigens die, die ihre weltlichen Güter aufgeben und der Armut verpflichtet sind), Inquisitoren mit Mätressen (die natürlich für derartige Unzucht nicht belangt werden) und sogar der Papst hat eine Tochter. Besonders schön ist im letzten Abschnitt des Zitats die Substantiv-Reihung ‘Predigt, Peitschenhieben, Absolution und Segen’, die für den Inbegriff der kirchlichen Instrumentalisierung des Schuldgedankens und damit einhergehenden Praktiken steht.

Textpassage 3: Kolonialismus und Eroberungs-/Raubzüge durch die Welt

Die letzte von mir ausgewählte Textpassage betrifft die Abenteuer von Candide und seinem Diener Cacambo in Surinam, den er aus Cadix mitgebracht hat.

DIE ERSTE TAGESREISE unserer beiden Wanderer war ganz angenehm. Ihren Mut befeuerte der Gedanken, dass sie sich im Besitz von größeren Schätzen befangen, als Asien, Europa und Afrika zusammen aufbringen könnten. Candide schrieb in seinem Entzücken Cunégondes Namen in die Bäume. Am zweiten Tage blieben zwei ihrer Lamas im Moraste stecken und gingen samt ihrer Ladung unter; zwei andere starben einige Tage später vor Ermattung; sieben oder acht kamen demnächst vor Hunger in einer Wüste um; andere stürzten nach einigen Tagen in Abgründe. Endlich, nachdem sie etwa hundert Tage gereist waren, blieben ihnen nur noch zwei Lamas.
»Du siehst, mein Freund,« sprach Candide zu Cacambo »wie vergänglich die Schätze dieser Welt sind. Nichts ist dauernd, als die Tugend, und das Glück, Fräulein Cunégonde wiederzusehen.«
»Du siehst, mein Freund,« sprach Candide zu Cacambo, »doch bleiben uns noch zwei Lamas mit mehr Schätzen, als der König von Spanien je besitzen wird, und in der Ferne sehe ich eine Stadt, die ich nur für Surinam, eine Kolonie der Holländer, halten kann.- Wir stehen am Ende unserer Mühseligkeiten und auf der Schwelle unseres Glücks.«
Indem sie sich der Stadt näherten, trafen sie auf einen Neger, der dahingestreckt lag und noch die Hälfte seiner Kleidung, eines blauleinenen Schurzes, hatte. Dem armen Mann fehlte das linke Bein und die rechte Hand.
»Ei, barmherziger Gott! Freund,« redete Candide ihn in holländischer Sprache an, »was machst du da in einem so schauderhaften Zustande?«
»Ich warte auf meinen Herrn, den großen Kaufmann Mynheer van der Dendur,« antwortete der Neger.
»Und hat Mynheer van der Dendur Dich so behandelt?« fragte Candide weiter.
»Ja, Herr,« sprach der Neger, »das ist so gebräuchlich. Man gibt uns zur Bekleidung zweimal im Jahr einen leinenen Schurz. Wenn wir in den Zuckersiederein arbeiten, und das Mühlradfast unsern Finger, so haut man uns den Arm ab. Wenn wir entlaufen wollen, so haut man uns ein Bein ab. Ich habe mich in beiden Fällen befunden. Um diesen Preis esst Ihr den Zucker in Europa. Und doch sagte mir meine Mutter, als sie mich an der Küste von Guinea um zehn patagonische Taler verkaufte: ›Liebes Kind, segne unsere Fetische, bete sie jederzeit an, sie werden Dich glücklich machen.
Du hast jetzt die Ehre, unsern gnädigen Herren, den Weißen, zu gehören, und machst dadurch das Glück Deines Vaters und Deiner Mutter.‹ Ach! Ich weiß nicht, ob ich ihr Glück gemacht habe, aber soviel ist gewiss, dass sie nicht das meine machten. Die Hunde, Affen, Papageien sind nicht den tausendsten Teil so schlecht daran, wie ich. Die holländischen Fetische, die mich bekehrten, sagen alle Sonntage, dass wir Alle, Weiße und Schwarze, Kinder Adams sind. Ich versteh mich auf Geschlechtsregister, aber wenn die Prediger die Wahrheit sagen, sind wir samt und sonders Geschwisterkinder. Nun werdet ihr mir aber zugeben, dass man seine Verwandten nicht schrecklicher behandeln kann.«
»O Pangloss!« rief Candide, »von solcher Abscheulichkeit hattest du keine Ahnung! Es ist genug; ich muss endlich Deinem Optimismus entsagen
»Was ist das, Optimismus?« fragte Cacambo.
»Ach,« sprach er, »es ist die Raserei, zu behaupten, dass Alles gut ist, wenn es einem so schlecht als möglich geht.«
Und er vergoss Tränen beim Anblick seines Negers. Und weinend betrat er die Straßen von Surinam. (Candide, S. 75-77)

Die Gräuel des Kolonialismus – Die Unterwerfung anderer Menschen

Laut Benedikt Stuchtey im Staatslexikon Online wird der Begriff Kolonialismus wie folgt erörtert:

„Begriffsgeschichtlich bezeichnet der K. die Begründung von Kolonien im Prozess der Kolonisation. Das Phänomen ist so alt und universal verbreitet wie die Menschheitsgeschichte. Zugleich ist es ein Brennglas für die durch die Kolonialherrschaft geschaffenen asymmetrischen Machtverhältnisse weltweit wie für die situative kulturelle Fremdherrschaft.“[3] Die Besetzung der Welt ging ab dem 15. Jahrhundert von Portugal aus und wurde dann von weiteren europäischen Nationen vorangetrieben. Hier ist ja 1492 das berühmte Jahr, in dem Christoph Kolumbus (der ja eigentlich nach Indien wollte) Amerika entdeckte und die Pocken, Masern und die Grippe sowie andere Krankheiten in das Land der Ureinwohner einführte. Dazu hier ein gut verständlicher Beitrag zur Einführung über die Kolonien Europas und über Kolumbus und die Eroberung Amerikas sowie die Rolle der Niederlande.

Genauer hinsehen, hinterfragen lernen

Und auch wenn Voltaire mit seinen satirischen Ausführungen Kritik übte an der Behandlung der Sklaven und der Unmenschlichkeit, die ihnen entgegengebracht wurde, so war er selbst auch nur ein Teil des kolonialistischen Getriebes. Wie Arno Widmann erwähnt, hat er selbst in den Sklavenhandel investiert und viel Geld damit gemacht.[4] Candide macht diesbezüglich deutliche Ansagen, doch wenn man die Hintergründe eingehender betrachtet, dann tun sich Abgründe auf, die ich an dieser Stelle nicht weiter erörtern kann. Mit Sicherheit gibt es bereits etliches an Literatur dazu. Es bleibt zu sagen, dass man sich immer ein umfassendes Bild machen sollte, dass der Schein auch nur ein Anschein sein kann und eine ganzheitliche Betrachtung aller Aspekte nur durch umfassende Recherche, Informationen über die Person des Autors sowie seines Umfeldes, des zeitgenössischen Kontextes und anderen Aspekten erreicht werden kann. Das gilt auch für revolutionäre Aufklärer wie Voltaire.

Zu guter Letzt – Was glauben Sie?

Und zu guter Letzt noch ein Dialog zwischen Candide und dem Gelehrten Martin, der den Zustand der in Candide beschriebenen Conditio humana sehr gut beschreibt und keinen weiteren Kommentar mehr notwendig macht.

»Glauben Sie,« fragte Candide, »dass die Menschen sich von jeher niedergemetzelt haben, wie jetzt? Dass von jeher Lug und Trug, Treuebruch und Undankbarkeit, Räuberei, Schwäche, Wankelmut, Feigheit, Missgunst, Schwelgerei, Trunksucht, Habgier, Ehrgeiz, Blutdurst, Verleumdung, Unzucht, Fanatismus, Heuchelei und Dummheit herrschten
»Glauben Sie,« entgegnete Martin, »dass die Sperber von jeher die Tauben fraßen, wenn sie ihrer habhaft werden konnten?«
»Ohne allen Zweifel,« war Candides Antwort.
»Nun dann!« sprach Martin, »wenn die Sperber immer denselben Charakter zeigten, warum sollten denn die Menschen den ihrigen geändert haben?« (Candide, S. 86)

Weiterführende Fragen an den Text

  • Wie ist Voltaires Werk sprachlich aufbereitet und welche Stilfiguren sind erkennbar?
  • Wie sind die Figuren konzipiert und welche jeweilige Funktion erfüllt sie im Text?
  • Inwiefern können die Figuren sozialen und gesellschaftlichen Stereotypen zugeordnet werden?
  • Ließe sich sogar ein Alter Ego Voltaires in einer der Figuren wiedererkennen und wenn ja, warum?
  • Welche zeitgenössischen Menschenbilder und Weltanschauungen sind in das Werk auf welche Weise eingeflossen?
  • Welche Passagen waren es wohl, die der katholischen Kirche derart ein Splitter im eigenen Auge waren, dass sie das Buch auf den Index setzen ließen?
  • Welche Darstellungen können (möglicherweise auch in variierter Form) noch heute Gültigkeit beanspruchen.
  • Ist der Vergleich zwischen dem Verhalten von Menschen und Tieren im zuletzt präsentierten Dialog zwischen Candide und Martin gerechtfertigt? Wenn ja, warum?

Verwendete Literatur

Zitiert aus: Dichter beschimpfen Dichter. Ein Alphabet harter Urteile. Zusammengesucht von Jörg Drews & Co. Drankfurt am Main 2006, S. 241.

Leibniz, G. W.: Die Theodizee I. Philosophische Schriften Band 2.1. Französisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Herbert Herring. Frankfurt am Main 1996, S. 51-53.

Stuchtey, Benedikt: Kolonialismus. In: Staatslexikon8. Version vom 07.12.2022, 10:00 Uhr, online: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kolonialismus (zuletzt abgerufen: 01.06.2024)

Voltaire: Candide oder die beste aller Welten. Mit Illustrationen von Paul Klee. [Französischer Originaltitel Candide ou l’optimisme]. Wroclaw 2018. [Anmerkung: Es handelt sich bei meinem gebraucht gekauften Exemplar allem Anschein nach um eine Druckausgabe einer Kindle-Version, weswegen auch der Titel nicht Candide und der Optimismus, sondern Candide und die beste aller Welten lautet.

Widmann, Arno: Von weißen Kosmopoliten und frommen Mördern. In: Frankfurt Rundschau vom 19.07.2020, online unter: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/kulturgeschichte-rassismus-weissen-kosmopoliten-frommen-moerdern-13827423.html (zuletzt abgerufen am 1. Juni 2024).


[1] [Bei meiner Ausgabe scheint es sich um den Nachdruck einer Kindle-Ausgabe zu handeln, die ich gebraucht erworben habe. Das tut der Lust am Text jedoch keinen Abbruch]. [2] Leibniz, G. W.: Die Theodizee I. Philosophische Schriften Band 2.1. Französisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Herbert Herring. Frankfurt am Main 1996, S. 51-53. [3] Stuchtey, Benedikt: Kolonialismus, Version 07.12.2022, 10:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Kolonialismus (abgerufen: 01.06.2024). [4] Widmann, Arno: Von weißen Kosmopoliten und frommen Mördern. In: Frankfurt Rundschau vom 19.07.2020, online unter: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/kulturgeschichte-rassismus-weissen-kosmopoliten-frommen-moerdern-13827423.html (zuletzt aufgerufen am 1. Juni 2024).

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