Pierre Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften

5. Dezember | Es gibt Romane, die Leserinnen und Leser schockieren, faszinieren und moralisch herausfordern; und zwar über die Zeiten hinweg. Der bereits 1782 erschienene Briefroman Les Liaisons dangereuses, zu Deutsch Gefährliche Liebschaften von Pierre Choderlos de Laclos ist ein solches Werk. Der Roman gilt als eines der kühnsten und psychologisch raffiniertesten Werke der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Ich habe mir das Buch in der englischsprachigen Ausgabe nach dem Kinobesuch von Eiskalte Engel gekauft und war vor allem eines: ziemlich enttäuscht. Ich hatte die Filmstory erwartet und bekam einen Roman, der aus Briefen französischer Adliger bestand. Natürlich weiß ich es heute besser. Jedenfalls: Mit akribischer Präzision seziert Laclos die Mechanismen von Verführung, Macht und moralischem Verfall in der aristokratischen Gesellschaft kurz vor der Französischen Revolution. Was als gefährliches Spiel zweier gelangweilter Adliger beginnt, entwickelt sich zu einem literarischen Meisterwerk über Manipulation, Begehren und die zerstörerische Kraft der Libertinage.

Inhaltsverzeichnis

Gefährliche Liebschaften ist lesenswert, weil…

👉 der Roman eine psychologische Tiefe erreicht, die auch nach all den Jahren nichts von ihrer Aktualität verloren hat und uns die Abgründe menschlicher Manipulation vor Augen führt.

👉 Laclos die Kunst der Verführung und des strategischen Denkens so präzise analysiert, dass der Roman wie ein Lehrbuch der Machtspiele wirkt.

👉 die Briefform einen unmittelbaren Einblick in die Gedankenwelt der Figuren gewährt und verschiedene Perspektiven eröffnet.

👉 das Werk die Doppelmoral und Scheinheiligkeit der aristokratischen Gesellschaft des Ancien Régime schonungslos entlarvt und damit zeitlose gesellschaftskritische Relevanz besitzt.

👉 die tragische Entwicklung der Geschichte verdeutlicht, dass selbst die cleversten Manipulatoren die Kontrolle verlieren können, wenn echte Gefühle ins Spiel kommen. (Einmal davon abgesehen, dass man lieber erst gar keine Manipulationen auf Kosten anderer, geschweige denn aus Rache, starten sollte.)

Zusammenfassung der Handlung Gefährliche Liebschaften

Der Roman ist als Briefroman verfasst. In insgesamt 175 Briefen wird so die die Geschichte einer perfiden Wette zwischen dem Vicomte de Valmont und der Marquise de Merteuil erzählt, zwei ehemaligen Liebhabern und zynischen Intriganten der Pariser Gesellschaft. Merteuil sinnt auf Rache an ihrem Ex-Geliebten, der sich mit der jüngeren und naiven Cécile de Volanges vermählen will. Sie beauftragt Valmont, das unschuldige Mädchen zu verführen und zu verderben.

Valmont hält Cécile für eine zu leichte Beute und schlägt stattdessen eine Frau vor, die eine wirkliche Herausforderung für seine Verführungskünste darstellt: die tugendhafte und verheiratete Madame de Tourvel. Als Belohnung, sofern er schriftliche Beweise liefern kann, verspricht ihm Merteuil eine Liebesnacht. Während Valmont mit eiskalter Berechnung Madame de Tourvel systematisch zermürbt und schließlich verführt (doch wider Erwarten echte Gefühle für sie entwickelt), verführt Merteuil den jungen Chevalier Danceny und manipuliert Cécile, die ihrerseits Danceny liebt, Valmont zu erliegen.

Das Spiel gerät außer Kontrolle, als Valmont auf Merteuils Befehl Tourvel fallen lässt, um seine Wette zu gewinnen. Merteuil bricht jedoch ihr Versprechen, es kommt zum offenen Konflikt und zur Veröffentlichung der kompromittierenden Briefe. Das Verführungsspiel, das einst als intelligente Unterhaltung begann, endet mit Leid, Einsamkeit und persönlichem Scheitern. Insofern steckt im Werk die Moral, dass wirklich niemand unbeschadet aus intriganten Manipulationsspiegel hervorgeht und es bei derartig perfiden Machtspielchen keine Sieger gibt.

Ein Vorgeschmack auf Leselust von Gefährliche Liebschaften

Zweiundachtzigster Brief Les liaisons d’angereuses / Gefährliche Liebschaften
Die Marquise von Merteuil an den Vicomte von Valmont.

Was mir Ihre Angst leid tut! Sie beweist mir meine Überlegenheit über Sie, – und Sie wollen mich lehren, wie ich mich betragen soll? Ach, mein armer Valmont, was für ein Abstand ist noch zwischen Ihnen und mir! Der ganze Stolz Ihres Geschlechtes genügte nicht, ihn auszufüllen. Weil Sie meine Absichten nicht ausführen könnten, denken Sie sie unausführbar! Wer so hochmütig und so schwach ist, dem steht es wohl an, meine Pläne berechnen, meine Ressourcen beurteilen zu wollen! Wirklich, Vicomte, Ihre guten Ratschläge haben mich sehr amüsiert, ich kann es nicht anders sagen.

Daß Sie, um Ihre unglaubliche Ungeschicklichkeit bei Ihrer Präsidentin zu maskieren, mir es als einen Triumph hinstellen, die schöne Frau, die Sie, wie Sie zugeben, liebt, einen Moment in Verlegenheit gesetzt, von ihr einen Blick erhalten zu haben, einen einzigen Blick, darüber lächle ich nur, und laß es Ihnen hingehen. Und da Sie heimlich doch den geringen Wert Ihres »Triumphes« fühlen, hofften Sie meine Aufmerksamkeit davon abzulenken, indem Sie mir wegen meiner sublimen Kunst schmeicheln, zwei Kinder zueinander zu bringen, die beide danach brennen; welches starke Verlangen sie, nebenbei gesagt, mir allein zu danken haben, und worin ich ihnen auch weiter gut will. Daß Sie sich nun gar dieser außerordentlichen Taten Urheber und Vollender halten, um mir im dozierenden Ton zu sagen, »daß es besser ist, seine Zeit mit der Ausübung seiner Absichten zu verbringen, als damit, sie zu erzählen« – diese Eitelkeit tut mir nicht weh und sei Ihnen verziehen. Aber daß Sie glauben, ich brauchte Ihre Klugheit, glauben, daß ich vom rechten Wege abkäme, befolgte ich nicht Ihre höchst weisen Ermahnungen, daß ich Ihrer Klugheit gar ein Vergnügen, eine Laune opfern sollte – das, Vicomte, das heißt doch gar zu eingebildet sein auf das Vertrauen, das ich ja sonst ganz gern zu Ihnen haben will!

Was haben Sie denn geleistet, was ich nicht tausendmal besser gemacht hätte? Sie haben viele Frauen verführt, meinetwegen sogar zugrunde gerichtet – aber, was für Schwierigkeiten gab es denn da zu überwinden? Welche Hindernisse zu nehmen? Wo ist Ihr wirkliches Verdienst dabei? Eine gute Figur – ein bloßer Zufall; Manieren – lernt man; Geist – ersetzt der geistreiche Jargon nach Bedarf; eine recht lobenswerte Kühnheit – verdanken Sie vielleicht nur der Leichtigkeit Ihrer ersten Erfolge: das sind, wenn ich nicht irre, alle Ihre Talente. Denn, was Ihre Zelebrität betrifft, werden Sie, wie ich glaube, nicht von mir verlangen, daß ich diese Kunst, die Gelegenheit zu einem Skandal zu geben oder eine solche Gelegenheit zu schaffen, nicht besonders hoch einschätze. Was nun Klugheit und Raffinement betrifft, will ich von mir gar nicht sprechen, aber welche Frau hätte nicht mehr davon als Sie? Ihre Präsidentin führt Sie ja wie ein Kind.

Glauben Sie mir, Vicomte, man erwirbt selten die Qualitäten, die man entbehren kann. Da Sie, ohne irgendwas zu riskieren, kämpfen, brauchen Sie auch keine besondere Vorsicht dabei. Für euch Männer ist eine Niederlage nur ein Erfolg weniger. In dieser höchst ungleichen Partie ist es unser Glück, nicht zu verlieren, euer Unglück, nicht zu gewinnen. Wenn ich Ihnen ebensoviel Talent zuerkannte wie uns Frauen, um wie viel würden wir Sie nicht doch noch übertreffen durch die Notwendigkeit, daß wir immer alle unsere Talente gebrauchen müssen!

Nehmen Sie an, Sie wendeten ebensoviel Geschicklichkeit darauf, uns zu besiegen, als wir, uns zu verteidigen oder besiegen zu lassen, so werden Sie doch zugeben, daß Ihnen diese Geschicklichkeit nach dem Erfolg unnütz wird. Ganz mit Ihrer neuen Eroberung beschäftigt, ergeben Sie sich ihr ohne Furcht, ohne Rückhalt: die Dauer kümmert Sie nicht.

Gewiß: diese Fesseln –um im gewöhnlichen Liebesjargon zu reden –diese Fesseln gegenseitig gegeben und genommen, Sie allein können sie nach Lust und Laune fester machen oder brechen –ein Glück, wenn Sie Ihrem Leichtsinn entsprechend das Schweigen dem Skandal vorziehen und Sie sich mit dem demütigenden Verlassen begnügen, und nicht das Idol des einen Tages am nächsten als Opfer schlachten!

Wenn aber eine Frau das Unglück hat, als erste das Gewicht ihrer Kette zu fühlen, was riskiert sie nicht alles, wenn sie es wagt, sie zu zerbrechen oder bloß sie ein bißchen zu lockern! Nur mit Zittern versucht sie den Mann von sich fern zu halten, den ihr Herz mit aller Kraft von sich stößt. Ist er hartnäckig und bleibt, so muß sie das, was sie früher der Liebe gewährte, nun der Furcht hingeben. Die Arme öffnen sich noch, wenn das Herz bereits geschlossen ist. Die weibliche Schlauheit muß nun dieselben Fesseln mit Geschicklichkeit lösen, die Sie brutal zerrissen hätten. Der Gnade ihres Feindes ausgeliefert, ist sie hilflos, wenn er Großmut nicht kennt. Wie soll man aber die von ihm erwarten, wenn man ihn wohl manchmal lobt, wenn er Großmut zeigt, niemals aber tadelt, wenn sie ihm fehlt?

Sie werden wohl diese Wahrheiten nicht leugnen, deren Evidenz sie schon trivial gemacht hat. Wenn Sie mich aber gesehen haben, wie ich über Ereignisse und Meinungen disponiere, diese so sehr gefürchteten Männer zum Spielzeug meiner Launen mache, dem einen den Willen, dem andern die Macht, mir zu schaden, nehme, wie ich sie mir einen nach dem andern und nach meinem wechselnden Geschmack erobere oder fernhalte, und doch inmitten dieser fortwährenden Revolutionen mein guter Ruf sich rein erhalten hat – haben Sie daraus nicht geschlossen, daß ich geboren bin, um mein Geschlecht zu rächen und das Eure zu beherrschen, und daß ich mir dazu Mittel schuf, unbekannt bis auf mich?

Heben Sie Ihre Ratschläge und Ihre Ängste für die bewußtlos wollüstigen Frauen auf und für die andern, die mit den »Gefühlen«, deren exaltierte Phantasie glauben macht, die Natur habe ihnen die Sinne im Kopfe angebracht, die niemals dachten und deshalb immer die Liebe mit dem Geliebten verwechseln, die in ihrer verrückten Illusion glauben, daß der allein, mit dem sie das Vergnügen suchten, der einzige Besitzer desselben wäre und abergläubig für den Priester Glauben und Respekt haben, die nur der Gottheit gebühren!

Fürchten Sie auch für die Frauen, die mehr stolz als klug nicht wissen, wann sie einwilligen sollen, daß man sie verläßt.

Und fürchten Sie ganz besonders für jene in Müßigkeit tätigen Frauen, die Sie die Sensiblen nennen, und über welche die Liebe so leicht und mit solcher Macht kommt; die das Bedürfnis haben, sich auch dann noch mit der Liebe zu beschäftigen, wenn sie sie nicht mehr unmittelbar genießen, die sich ganz den Erregtheiten ihrer Phantasie hingeben und damit zärtliche Briefe füllen, die zu schreiben so gefährlich ist, und die sich nicht davor fürchten, diese Zeichen ihrer Schwäche dem Geliebten zu zeigen, der davon Ursache ist. Das sind unkluge Frauen, die in ihrem gegenwärtigen Geliebten nicht den zukünftigen Feind erkennen.

Aber was habe ich mit solchen unüberlegten Frauen zu schaffen? Wann haben Sie gesehen, daß ich von den Regeln abweiche, die ich mir vorgeschrieben habe, und daß ich meine Prinzipien verleugne? Ich sage meine Prinzipien, und ich sage es so mit Absicht, – denn sie sind nicht wie jene anderer Frauen aus dem Zufall geworden, ohne Prüfung hingenommen und aus Gewohnheit befolgt; sie sind Ergebnisse meines letzten Denkens; ich habe sie geschaffen und kann sagen, daß ich mein eigenes Werk bin.

Als ich in die Welt trat, war ich noch ein Mädchen und dadurch zur Untätigkeit und zum Schweigen verurteilt, was ich dafür zu nutzen verstand, daß ich beobachtete und nachdachte. Man hielt mich für zerstreut und gedankenlos und wenig achtsam auf die schönen Reden und Lehren, die man mir gab, aber ich hörte aufmerksam auf die Reden und Lehren, die man mir zu verbergen suchte.

Diese nutzbringende Neugierde war mein Unterricht und lehrte mich auch rechten Ortes zu schweigen; oft war ich gezwungen, den Gegenstand meiner Aufmerksamkeit den Augen meiner Umgebung zu verbergen, und so versuchte ich, meine Augen nach meinem Gefallen zu leiten; da lernte ich diesen scheinbar zerstreuten wie abwesenden Blick, den Sie so oft an mir bewunderten. Der erste Erfolg gab mir Mut, und ich versuchte den Ausdruck meines Gesichts in meine Gewalt zu bekommen.

War es mir schlecht zumute, so bemühte ich mich um den Ausdruck der Zufriedenheit, ja selbst großer Freude –ich ging im Eifer so weit, mir absichtlich Schmerzen zu bereiten, um während dieser Zeit den Ausdruck der Freude zu studieren. Und mit derselben Sorgfalt habe ich an mir gearbeitet, den Ausdruck der Überraschung über eine unerwartete Freude zu bekämpfen. Ich war noch sehr jung und ziemlich uninteressiert – aber mein Denken hatte ich und ganz für mich, und alles sträubte sich in mir dagegen, daß man mir es nehmen könnte oder mich gegen meinen Willen dabei überraschen. Ich versuchte diese ersten Waffen zu gebrauchen: mich nicht durchschauen zu lassen, war mir zu wenig, und so belustigte ich mich damit, mich unter verschiedenen Masken zu zeigen. Meiner Bewegungen war ich sicher, so studierte ich meine Worte: ich änderte und veränderte das eine, das andere – je nach den Umständen, oder auch je nach meiner Xraune: meine Art zu denken gehörte mir allein und ließ nicht mehr davon sehen, als was mir gerade nützlich war.

Diese Arbeit an mir selber lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Ausdruck und den Charakter der Physiognomie, und ich gewann dabei diesen Scharfblick, von dem mich die Erfahrung wohl lehrte, sich nicht ganz darauf zu verlassen, der mich aber doch selten täuschte.

Sie können sich denken, daß ich wie alle jungen Mädchen hinter die Geheimnisse der Liebe und ihrer Freuden zu kommen suchte. Aber da ich nie im Kloster war, auch keine gute Freundin hatte, und mich eine wohlaufmerkende Mutter überwachte, hatte ich nur ganz vage Vorstellungen von der Sache, und selbst die Natur, über die ich mich seitdem nur höchst lobend aussprechen kann, gab mir noch keinen Schlüssel zu der verschlossenen Tür. Man hätte sagen können, daß sie im stillen an der Vollendung ihres Werkes arbeitete. Nur mein Kopf war tätig: ich wollte nicht genießen, ich wollte wissen, und der Wunsch, mich zu unterrichten, gab mir auch die Mittel dazu.

Ich dachte, der einzige Mensch, mit dem ich über diese Sache sprechen konnte, ohne mich bloßzustellen, wäre mein Beichtvater. So faßte ich meinen Entschluß. Ich überwandt meine kleine Scheu und indem ich mich einer Sünde rühmte, die ich gar nicht begangen hatte, beichtete ich, das getan zu haben, was die Frauen machen! – Das waren meine Worte. Als ich sie sagte, wußte ich wirklich nicht, was ich gesagt hatte. Meine Hoffnung ward nicht ganz enttäuscht, und doch auch nicht ganz erfüllt; die Angst, mich zu verraten, hinderte mich, mich besser auszudrücken, aber der gute Priester machte aus dieser Sünde eine so große Sache, daß ich daraus schloß, das Vergnügen müsse ganz außerordentlich sein, – dem Wunsche, es kennen zu lernen, folgte die Begierde, davon zu kosten.

Ich weiß nicht, wohin mich diese Begierde geführt hätte, und ohne jede Erfahrung, wie ich war, wer weiß, ob ich nicht die erste beste Gelegenheit vielleicht töricht benutzt hätte. Glücklicherweise teilte mir meine Mutter wenige Tage nachher mit, daß ich mich verheiraten würde, und sofort wurde meine Neugier vor dieser Aussicht gestillt, und ich kam jungfräulich in die Arme des Herrn von Merteuil.

Ich erwartete ruhig den Moment, der mich instruieren sollte, und ich brauchte alle meine Kunst, um mich verwirrt und ängstlich zu zeigen. Die erste Nacht, von der man sich gewöhnlich eine so grausame oder so angenehme Vorstellung macht, gab mir nur die Gelegenheit einer Erfahrung: Schmerz und Lust, ich studierte beides, und sah in diesen verschiedenen Sensationen nur Tatsachen, mit denen zu rechnen ist.

Dieses Studium machte mir bald viel Vergnügen. Aber meinen Prinzipien treu und vielleicht aus Instinkt, daß keiner meinem Vertrauen ferner stehen sollte als mein Mann, beschloß ich, gerade weil ich wollüstig war, mich vor ihm unempfindlich und kalt zu zeigen. Und diese scheinbare Kälte hätte zur Folge, daß er mir blind vertraute. Dazu fügte ich noch so etwas wie kindliche Unbesonnenheit, die mir meine Jugend ganz gut erlaubte, und der gute Merteuil fand mich nie kindlicher, als gerade dann, wo ich mit der größten Frechheit Komödie spielte. Das war ja nicht gleich von Anfang an so, wie ich bekennen muß. In der ersten Zeit ließ ich mich von dem Trubel der Welt fortreißen und vergaß mich ganz darin. Aber als mich nach einigen Monaten Herr von Merteuil auf sein trauriges Landgut führte, da brachte mich die Langeweile wieder zu mir selbst zurück. Da ich mich hier nur von Leuten umgeben sah, deren Stellung so tief unter der meinen war, daß kein Verdacht an mich heran konnte, so profitierte ich davon, indem ich meinen Experimenten ein weiteres Feld gab. Es war gerade hier auf dem Lande, wo ich die Gewißheit bekam, daß die Liebe, die man uns als Quelle unserer Freuden preist, nichts weiter als ein Vorwand ist.

Die Krankheit Herrn von Merteuils unterbrach mich in meinen angenehmen Studien – er mußte wieder in die Stadt, zu den Ärzten. Er starb, wie Sie wissen, bald darauf, und obschon ich mich im großen ganzen über ihn nicht beklagen konnte, fühlte ich doch die Freiheit, die mir mein Witwentum gab, nicht unangenehm, und ich nahm mir vor, davon zu profitieren.

Meine Mutter meinte allerdings, ich würde nun ins Kloster gehen, oder wenigstens wieder bei ihr wohnen. Ich tat weder das eine noch das andere, und alles, was ich des Dekorum wegen tat, war, daß ich wieder aufs Land ging, wo ich noch einiges zu studieren hatte.

Ich half mir dabei mit Lektüre, – aber glauben Sie ja nicht, daß sie alle von der Art war, die Sie meinen. Ich studierte, was wir tun in den Romanen, was wir meinen bei den Philosophen, ich suchte sogar bei den ganz strengen Moralisten, was sie von uns verlangen, und so unterrichtete ich mich genau darüber, was man tun kann, was man denken soll, und was scheinen. Bloß machte das in der Praxis einige Schwierigkeiten, die rustikalen Freuden begannen mich zu langweilen, – es war da zu wenig Abwechslung für meine lebhafte Aktivität. Ich empfand das Bedürfnis nach Koketterie, die mich zu der Liebe wieder in ein gutes Verhältnis bringen sollte – nicht um sie selber zu erleben, sondern um sie einzuflößen, um sie zu mimen. Was man mir da gesagt und was ich da gelesen hatte, daß man die Liebe nicht mimen könne, das glaubte ich nicht. Ich sah, daß es dazu nur nötig sei, den Esprit eines Autors mit dem Talent eines Schauspielers geschickt zu verbinden. Ich übte mich in beidem und vielleicht mit einigem Erfolg. Aber ich suchte nicht den Applaus des Theaters damit, es lag mir daran, das in den Dienst meines Glückes zu stellen, was andere dem Wahn opfern.

Damit verging ein Jahr. Die Trauerzeit war vorüber und ich ging nach Paris zurück, mit all meinen großen Plänen. Die erste Schwierigkeit, auf die ich stieß, erwartete ich allerdings nicht.

Die lange Einsamkeit und Zurückgezogenheit hatte mich mit einer Prüderie patiniert, die unsere nettesten jungen Leute so erschreckte, daß sie sich von mir fern hielten, und mich einer Gesellschaft höchst langweiliger Leute überließen, die mich alle heiraten wollten. Die Schwierigkeit war nicht, die angetragenen Hände zu refüsieren, aber einige dieser Körbe mißfielen meiner Familie, und ich verlor mit diesen Umständlichkeiten viel Zeit, von der ich mir einen angenehmern Gebrauch versprochen hatte. So war ich gezwungen, um die einen zu mir zu bringen, die andern von mir zu entfernen, einige Dummheiten zu machen und dafür zu sorgen, meinem Ruf etwas zu schaden, wo ich so viel Sorge darauf verwandt hatte, ihn mir gut zu erhalten. Aber, da keine Leidenschaft mit mir dabei durchging, tat ich nur, was ich für notwendig hielt, und dosierte meine kleinen Streiche sehr vorsichtig.

Nachdem ich meinen Zweck erreicht hatte, kam ich wieder auf meinen rechten Weg und gab einigen jener Frauen die Ehre meines Amendements, die sich auf Würde und Tugend werfen, – weil ihnen das andere versagt ist. Dieser Verkehr nützte mir mehr als ich dachte. Die dankbaren Duennas wurden zu Verkünderinnen meiner Tugend und ihr blinder Eifer für das, was sie ihr Werk nannten, ging so weit, daß sie beim geringsten Wort, das man gegen mich sagte, sofort über Infamie und Beleidigung schrien. Das gleiche Mittel nützte mir auch bei den andern Frauen, jenen mit dem nicht ganz guten Ruf. Die waren überzeugt, daß meine Karriere nicht die ihre sei, und so sangen sie mein Lob in allen Tonarten immer dann, wenn sie zeigen wollten, daß sie nicht bloß Médisancen zu sagen wüßten.

So brachte meine geschickte Lebensführung die Liebhaber wieder hübsch zu mir zurück, und um mich zwischen ihnen und meinen tugendsamen Beschützerinnen einzurichten, gab ich mich für eine zwar zugängliche, aber schwierige Frau, die in einer übertriebenen Delikatesse Waffen gegen die Liebe findet.

Nun zeigte ich meine mir erworbenen Talente auf der großen Bühne. Vor allem lag mir daran, in den Ruf der Unbesiegbarkeit zu kommen, und ich machte das so: Mit den Männern, die mir gar nicht gefielen, tat ich so, als ob sie etwas von mir erwarten könnten, was sie natürlich nie bekamen – so hatte ich in ihnen die lautesten Verkünder meiner Uneinnehmbarkeit, während ich mich sorglos meinem erwählten Geliebten hingab. Den aber hatte ich mit meiner vorgeblichen Ängstlichkeit so weit gebrächt, daß er sich nie in der Gesellschaft, in der ich verkehrte, oder in meiner zeigen durfte, und so sahen und kannten alle nur den schmachtenden, unglücklichen Verehrer.

Sie wissen, daß ich mich immer rasch entscheide, und dies, weil ich beobachtet habe, daß die lang vorbereitenden Mühen fast immer die Frau verraten. Was man auch tun mag, der Ton vor und nach dem Erfolg ist nicht der gleiche. Und der Unterschied entgeht einem aufmerksamen Beobachter nie. Ich habe es weniger gefährlich gefunden, mich in der Wahl zu irren, als das irgendwie durchblicken zu lassen. Ich gewinne dabei auch noch, Ähnlichkeiten zu vermeiden, auf welche hin allein man uns beurteilen kann.

Diese und die andere Vorsicht, nie einen Brief zu schreiben, nie den kleinsten Beweis einer Niederlage zu geben, könnte man für übertrieben halten und doch schienen sie mir noch nie genügend. Ich studierte mich und damit die andern. Ich sah, daß es keinen Menschen gibt, der nicht ein Geheimnis hat, an dem ihm liegt, daß er es für sich bewahrt. Das wußte man in den alten Zeiten besser, wofür die Geschichte von Simson wohl ein geniales Symbol ist. Eine neue Dalila, habe ich, wie die der Bibel meine ganze Macht in diesen Dienst gestellt, auf dieses eine Geheimnis eines jeden zu kommen. Von wie vielen unserer Simsone halte ich nicht das Haar unter meiner Schere! Und die habe ich zu fürchten aufgehört und sie sind die einzigen, die ich mir manchmal zu demütigen erlaubte. Mit den andern war ich gütiger, übte die Kunst, sie mir untreu zu machen, wenn ich genug von ihnen hatte, und daß sie mich nicht unbeständig nennen, spielte die Freundin, affektierte tiefes Vertrauen, machte gnädige Zugeständnisse, gab jedem die schmeichelnde Meinung, er sei mein einziger Geliebter gewesen – mit all dem verpflichtete ich sie mir zur Diskretion. Und wenn diese Mittel versagten und ich den Bruch voraussah, so kam ich dem schlimmen Reden dieser gefährlichen Herren damit zuvor, daß ich sie lächerlich machte oder verleumdete.

Was ich Ihnen hier sage, praktiziere ich seit Jahren – und Sie zweifeln an meiner Weisheit? Erinnern Sie sich doch der Zeit, da Sie mir zuerst den Hof machten – es war sehr schmeichelhaft für mich, denn meine Lust stand nach Ihnen, schon bevor ich Sie sah. Ihr Ruf lockte mich, und es kam mir vor, als fehlten Sie meiner Glorie. Es verlangte mich, Brust an Brust mit Ihnen zu ringen, und dies war das einzige Mal, daß für einen Augenblick die Begierde Herrschaft über mich bekam. Aber, um mich zu bekommen, was hätten Sie getan? Sie hätten geredet, leere Worte ohne Spur und Folge, Worte, die Ihr Ruf schon verdächtig gemacht hätte, und hätten unwahrscheinliche Geschichten erzählt, deren aufrichtige Erzählung wie ein schlechter Roman geklungen hätte. Inzwischen habe ich Ihnen nun allerdings alle meine Geheimnisse verraten – aber Sie wissen, was uns verbindet, und ob von uns beiden ich es bin, der man Unvorsichtigkeit vorwerfen kann. Da ich dabei bin, Ihnen Rechenschaft abzulegen, will ich es genau nehmen. Ich höre Sie von hier aus sagen, daß ich der Gnade meines Kammermädchens ausgeliefert bin, und es ist wahr, wenn sie auch nicht das Geheimnis meiner Gedanken besitzt, so doch das meiner Handlungen. Als Sie mir seinerzeit davon sprachen, sagte ich Ihnen bloß, daß ich ihrer sicher sei; und die Probe dafür, daß diese Probe Ihrer Ruhe genügen könnte, war, daß Sie dem Mädchen inzwischen auf Ihre eigene Rechnung und Gefahr ziemlich gefährliche Geheimnisse anvertraut haben. Aber, da nun Prévan seinen Schatten auf Sie wirft, und Ihnen davon der Kopf nicht ganz klar ist, bin ich gar nicht im Zweifel, daß Sie mir auf mein bloßes Wort nicht mehr glauben. Also ausführlicher.

Einmal ist dieses Mädchen meine Milchschwester, das bedeutet uns natürlich nichts, aber noch viel Leuten ihres Standes. Ich weiß das Geheimnis des Mädchens und habe noch besseres: sie ist das Opfer einer Liebestorheit und wäre ohne meine Hilfe verloren gewesen. Ihre Familie, totanständige Leute, mit Ehrgefühlen nur so gespickt, wollte nichts Geringeres als sie einsperren lassen. Sie wandten sich an mich, und mir war sofort klar, daß mir hier etwas sehr gut zustatten kommen konnte. Ich half den Eltern, rief die Behörden an, und der Befehl erging, das Mädchen festzusetzen. Da schlug ich mich auf die Seite der milden Güte, wozu ich auch die Eltern bewog. Ich profitierte von meinen Beziehungen zum alten Minister, und ließ mir den Haftbefehl geben und mit Zustimmung aller Beteiligten das Recht, ihn vollstrecken oder aufhalten zu lassen, je nach dem Betragen des Mädchens, das ich so völlig in der Hand habe, was sie weiß. Und hilft auch das nicht, – was mir kaum möglich scheint – so nimmt doch die authentische Bestrafung und deren Ursache ihrem Worte jede Glaubwürdigkeit. Zu all diesen Vorsichtsmaßregeln, die ich fundamentale nennen möchte, kommen noch tausend andere, örtliche oder gelegentliche, die Überlegung und Gewohnheit finden, wenn es nötig ist, die vielleicht an sich kleinlich, in der Praxis aber oft sehr wichtig sind. Die aber zu suchen, müssen Sie sich schon die Mühe nehmen – das Ganze meines Lebens zu studieren, wenn Sie auf diese Kenntnis Wert legen.

Aber, daß ich mir alle die Mühe gemacht haben soll, um keine Früchte davon zu genießen, daß ich nun, nachdem ich mich so über die anderen Frauen hinausgearbeitet habe, einwilligen sollte, so wie sie auf meinem Wege zwischen Unvorsichtigkeit und Schüchternheit hin und her zu stolpern, daß ich mich endlich vor einem Manne so fürchten sollte, daß ich nur mehr in der Flucht mein Heil finden könnte, nein, Vicomte, das niemals, das können Sie nicht von mir verlangen. Für mich heißt es: Siegen oder untergehen. Was Prévan betrifft, so will ich ihn eben haben, und ich werde ihn haben; er will es sagen, und er wird es nicht sagen – das ist in zwei Worten unser Roman. Adieu!
Paris, den 20. September 17..

Gefährliche Liebschaften ist in zwei Bände geteilt auf Projekt Gutenberg erhältlich.

Zum 82. Brief der Marquise de Merteuil aus Gefährliche Liebschaften

Der zitierte Brief der Marquise de Merteuil ist deshalb so interessant, weil er uns in den Kopf dieser komplexen literarischen Figur blicken lässt: einer Frau, die brillant, grausam, tragisch und erschreckend modern ist. Doch laufen einem in der Weltgeschichte der Literatur immer wieder solche weiblichen Figuren über den Weg. Man findet sie zum Beispiel in Giovanni Boccaccios Dekameron oder in Geoffrey Chaucers Canterbury Tales mit der Frau von Bath. Nicht unerwähnt lassen will ich die Tatsache, dass alle diese Werke von Männern verfasst wurden, die über das Innenleben einer Frau schreiben! Das darf nicht vergessen werden, wenn man sich solche Texte aus einer feministischen Perspektive ansehen möchte. Doch nun folgt ein genauerer Blick auf den erwähnten 82. Brief der Marquise de Merteuil.

1. Die Selbsterschaffung als Kunstwerk

Die Marquise beschreibt, wie sie sich systematisch zur Manipulatorin erschaffen hat. Das ist eine radikal moderne Idee von Selbstkonstruktion, die ihrer Zeit weit voraus ist. Sie hat sich selbst erschaffen.

2. Feministische Analyse der patriarchalen Gesellschaft

Die Marquise erkennt mit bestechender Klarheit die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Ihre berühmte Passage über den „ungleichen Kampf“ ist brillant: Sie erklärt, dass Männer ohne Risiko „kämpfen“, während Frauen alles verlieren können. Ein Mann kann hundert Frauen verführen und wird bewundert – eine Frau, die sich einmal „verführen lässt“, ist ruiniert.

Fair?

3. Die Methodik der Selbstbeherrschung

Die Beschreibung ihrer Selbstschulung ist sehr detailliert:

  • Als Mädchen lernt sie, ihre Mimik zu kontrollieren
  • Sie fügt sich absichtlich Schmerzen zu, um dabei zu lächeln
  • Sie studiert, wie man Freude verbirgt und Überraschung unterdrückt
  • Sie trainiert sich wie eine Schauspielerin, unterschiedliche Masken zu tragen

Das ist eine Anleitung zur totalen Selbstkontrolle – erschreckend und faszinierend zugleich.

4. Subversive weibliche Macht

Die Marquise nutzt die Waffen des Patriarchats gegen sich selbst. Sie spielt die tugendhafte Frau in der Öffentlichkeit, während sie privat ihre Freiheit auslebt. Sie manipuliert „tugendhafte“ Frauen, damit diese ihre Reputation verteidigen. Sie macht sich Liebhaber gefügig, indem sie ihre Geheimnisse sammelt (die Simson-Dalila-Metapher!).

5. Die Entlarvung von „Liebe“ als Konstrukt

Die Marquise erkennt bereits früh, dass Liebe, wie man von ihr spricht und über die liest nur ein Konstrukt, eine romantisierte Vorstellung ist, eine Ideologie, der sich Frauen unterwerfen, während Männer damit spielen.

6. Die wissenschaftliche Methode

Ihr Ansatz ist quasi empirisch-wissenschaftlich:

  • Sie beobachtet und experimentiert
  • Sie studiert Romane, Philosophen und Moralisten
  • Sie testet Theorien in der Praxis
  • Sie analysiert Muster und optimiert ihre Strategien

7. Die Hybris und der tragische Fehler

Der Brief zeigt ihre Überlegenheit, doch letztlich wird ihr genau diese Hybris zum Verhängnis. Sie glaubt, alle Variablen kontrollieren zu können, auch ihre eigenen Gefühle. Das ist ihre Hamartia, ihr tragischer Fehler, um auf einen Begriff der antiken Literatur zurückzukommen. Hamartia bezeichnet in der antiken Tragödientheorie – vor allem bei Aristoteles – den verhängnisvollen Fehler oder die innere Schwäche einer Figur, die unabsichtlich zu ihrem eigenen Untergang führt.

8. Historische Brisanz

Gefährliche Liebschaften erschien im Jahr 1782, also sieben Jahre vor der Revolution. Man erkennt anhand der Briefe, wie eine Aristokratin sich ein System von Täuschung, Doppelmoral und strategischer Manipulation aufgebaut hat. Die Marquise ist ein Symbol für die moralische Fäulnis des Ancien Régime, doch zugleich ist sie ein Opfer dessen sowie ein Produkt seiner Ungerechtigkeit.

9. Literarische Qualität

Der Brief ist stilistisch brillant: ironisch, präzise, intellektuell, manchmal bitter, manchmal triumphierend. Er zeigt Laclos‘ meisterhafte Schreibkunst, weil eine unsympathische Figur spricht und wir sie verstehen können, sowohl hinsichtlich ihrer Genialität aber auch ihrer Monstrostät.

10. Zeitlose Relevanz

Die im Brief behandelten Themen sind immer noch aktuell und das nicht nur in Bezug auf Frauen:

  • Wie konstruieren wir unsere Identität?
  • Wie funktionieren Machtspiele in Beziehungen?
  • Wie können Unterdrückte Macht erlangen – und zu welchem Preis?
  • Was passiert, wenn man alle Emotionen kontrollieren will?

Der ungleiche Kampf der Geschlechter

Die Marquise de Merteuil entlarvt mit scharfem Blick die fundamentale Asymmetrie in den Geschlechterbeziehungen ihrer Zeit. „Für euch Männer ist eine Niederlage nur ein Erfolg weniger. In dieser höchst ungleichen Partie ist es unser Glück, nicht zu verlieren, euer Unglück, nicht zu gewinnen“, schreibt sie an Valmont. „Wenn ich Ihnen ebensoviel Talent zuerkannte wie uns Frauen, um wie viel würden wir Sie nicht doch noch übertreffen durch die Notwendigkeit, daß wir immer alle unsere Talente gebrauchen müssen!“ (Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften. Deutsch von Franz Blei. Mit einem Nachwort von Renate Briesenmeister. Zürich 1985, S. 183-184.)

Sie macht deutlich: Während ein Mann ohne echte Konsequenzen von Eroberung zu Eroberung ziehen kann, riskiert eine Frau bei jedem Fehltritt ihre gesamte gesellschaftliche Existenz. Die Marquise beschreibt eindrücklich, wie eine Frau, die sich einmal auf eine Affäre einlässt, in die totale Abhängigkeit gerät. Was für den Mann ein Spiel ist, wird für die Frau existenziell – sie kann verlieren, was sie nie zurückgewinnen wird: ihren Ruf. Diese strukturelle Ungerechtigkeit ist der Ausgangspunkt für die Strategie der Marquise, das System der Libertinage zu ihren Gunsten umzukehren.

Die Selbsterschaffung als bewusstes Projekt

Mit bemerkenswerter Selbstreflexion beschreibt die Marquise ihre bewusste Konstruktion als Meisterin der Manipulation. „Aber was habe ich mit solchen unüberlegten Frauen zu schaffen? Wann haben Sie gesehen, daß ich von den Regeln abweiche, die ich mir vorgeschrieben habe, und daß ich meine Prinzipien verleugne? Ich sage meine Prinzipien, und ich sage es so mit Absicht“, erklärt sie, „denn sie sind nicht wie jene anderer Frauen aus dem Zufall geworden, ohne Prüfung hingenommen und aus Gewohnheit befolgt; sie sind Ergebnisse meines letzten Denkens; ich habe sie geschaffen und kann sagen, daß ich mein eigenes Werk bin.“ (Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften. Deutsch von Franz Blei. Mit einem Nachwort von Renate Briesenmeister. Zürich 1985, S. 185.)

Diese Aussage ist für das 18. Jahrhundert radikal: Sie präsentiert sich nicht als Opfer der Umstände oder als von Natur aus verdorbene Frau, sondern als bewusste Architektin ihrer selbst. Ihre Prinzipien sind das Ergebnis systematischer Analyse, methodischer Selbstschulung und strategischer Planung. Sie hat sich selbst erschaffen wie ein Künstler sein Meisterwerk – vollständig, absichtlich und mit äußerster Präzision. Diese Selbsterschaffung ist zugleich ihre größte Leistung und ihre tiefste Tragik: Sie hat ein perfektes, aber letztlich unmenschliches Kunstwerk aus sich gemacht. Man könnte aber auch einfach sagen: Sie hat sich vollkommen vom aristokratischen System absorbieren lassen und ist so geworden, wie sie sein muss, um dort zu bestehen.

Die Simson-Dalila-Metapher: Macht durch Geheimnisse

Samson oder Simson und Delila sind Figuren aus dem Alten Testament, wobei der übermenschlich starke Richter Samson von der verführerischen Delila im Auftrag der Philister durch das Abschneiden seiner Haare verraten und entmachtet wird. Die Marquise nutzt diese biblische Metapher zur Erklärung ihrer Machtstrategie. Sie erkennt bereits früh: „Ich studierte mich und damit die andern. Ich sah, daß es keinen Menschen gibt, der nicht ein Geheimnis hat, an dem ihm liegt, daß er es für sich bewahrt. Das wußte man in den alten Zeiten besser, wofür die Geschichte von Simson wohl ein geniales Symbol ist.“ (Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften. Deutsch von Franz Blei. Mit einem Nachwort von Renate Briesenmeister. Zürich 1985, S. 191.)

Wie die biblische Dalila, die Simsons Kraft durch das Abschneiden seiner Haare brach, sammelt die Marquise systematisch die Geheimnisse ihrer Liebhaber. „Eine neue Dalila, habe ich, wie die der Bibel meine ganze Macht in diesen Dienst gestellt, auf dieses eine Geheimnis eines jeden zu kommen. Von wie vielen unserer Simsone halte ich nicht das Haar unter meiner Schere! Und die habe ich zu fürchten aufgehört und sie sind die einzigen, die ich mir manchmal zu demütigen erlaubte!“ (Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften. Deutsch von Franz Blei. Mit einem Nachwort von Renate Briesenmeister. Zürich 1985, S. 191.) Diese Metapher ist doppelt bedeutsam: Einerseits zeigt sie, wie die Marquise Schwachstellen aufspürt und ausnutzt; Geheimnisse stellen bei ihr verborgene Schwächen anderer dar, die sie sich zunutze macht. Andererseits verweist sie auf eine weibliche Strategie der Machterlangung durch Wissen statt durch direkte Gewalt. Die Marquise kann Männer nicht physisch besiegen, aber sie kann sie durch ihr Wissen über sie kontrollieren und bei Bedarf vernichten. Das ist ein Attribut, was es seit Menschengedenken gibt und was immer wieder den Frauen zulasten gelegt wird.

Die männlichen Privilegien und ihre Banalität

Mit beißendem Spott listet die Marquise auf, worauf Valmonts Erfolge als Verführer basieren, und entlarvt dabei die Banalität männlicher Privilegien. „Eine gute Figur – ein bloßer Zufall; Manieren – lernt man; Geist – ersetzt der geistreiche Jargon nach Bedarf; eine recht lobenswerte Kühnheit – verdanken Sie vielleicht nur der Leichtigkeit Ihrer ersten Erfolge: das sind, wenn ich nicht irre, alle Ihre Talente.“ (Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften. Deutsch von Franz Blei. Mit einem Nachwort von Renate Briesenmeister. Zürich 1985, S. 183.)

Was Valmont als seine besonderen Fähigkeiten betrachtet, sind für die Marquise oberflächliche Vorzüge, die ihm die Gesellschaft geschenkt hat. Während ein Mann mit guten Manieren und etwas Charme reüssieren kann, muss eine Frau, die dasselbe erreichen will, ungleich raffinierter vorgehen. Die Marquise muss ihre Mimik trainieren, ihre Worte abwägen, ihre Liebhaber geheim halten, ihr Netzwerk pflegen, ihre Reputation verteidigen – und das alles gleichzeitig. Sie fragt rhetorisch: „Wenn ich Ihnen ebensoviel Talent zuerkannte wie uns Frauen, um wie viel würden wir Sie nicht doch noch übertreffen durch die Notwendigkeit, daß wir immer alle unsere Talente gebrauchen müssen!“ (Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften. Deutsch von Franz Blei. Mit einem Nachwort von Renate Briesenmeister. Zürich 1985, S. 183.)  Der Mann kann sich Nachlässigkeit leisten, die Frau nicht einen einzigen Fehler.

Fazit: Die Marquise im Pantheon der Frauenfiguren der Weltliteratur in Gefährliche Liebschaften

Die Marquise de Merteuil steht in einer langen Tradition literarischer Frauenfiguren, die durch ihre Intelligenz, ihre Macht und ihre Ambivalenz faszinieren. Dennoch unterscheidet sie sich von ihren Vorgängerinnen.

Die antike Helena von Troja, deren „Kidnapping“ aufgrund ihrer Schönheit den Trojanischen Krieg auslöste, war letztlich ein passives Objekt männlicher Begierde. Ihre Macht lag in ihrer äußeren Erscheinung, nicht in ihrem Willen – und man kann durchaus darüber streiten, ob man hier den Begriff „Macht“ verwenden sollte.

Eva, die biblische Urmutter, wurde über Jahrhunderte als Verführerin dämonisiert. Doch auch sie handelte aus Unwissenheit und wurde zum Sündenbock männlicher Schuldzuschreibung. Selbst Kriemhild aus dem Nibelungenlied, die nach dem Mord an Siegfried zur rachsüchtigen Furie wird, agiert aus emotionaler Verzweiflung und verletzter Ehre, allerdings kann man ihr als machtbewusster Königin auch Kalkulation unterstellen. Was ist mit Medea, die aus Liebe zu Jason ihre Heimat verrät und doch von ihm für eine jüngere verlassen wird – auch sie rächt sich fürchterlich und tötet die eigenen Kinder. Berechnung oder eine Verzweiflungstat im Kurzschluss? Sicher spielt die Zeit, in der diese Werke entstanden sind, eine Rolle hinsichtlich der Bewertung der Frauenfiguren.

Die Marquise de Merteuil ist eine selbstreflexive, strategisch handelnde Frauenfigur der neueren Literaturgeschichte. Anders als Helena, die verführte, ohne es zu wollen, oder Eva, die aus Neugier handelte, verfolgt die Marquise ihre Ziele bewusst und mit Kalkül. Auch wenn sie gelegentlich aus Rache agiert, die durchaus ein leidenschaftliches Motiv ist, bleibt sie in ihren Methoden und ihrer Planung berechnend und kontrolliert. Ihre Strategie unterscheidet sich von klassisch emotionalen Rachefiguren wie Kriemhild (obwohl wir eine Innenperspektive hier nicht sehen): Die Marquise verbindet emotionale Beweggründe mit rationaler Steuerung, was sie besonders komplex und modern macht.

Die zeitlose Aktualität von Laclos‘ Gefährliche Liebschaften

Was die Marquise de Merteuil so außergewöhnlich macht, ist ihre radikale Modernität. Sie erkennt strukturelle Ungerechtigkeit und entwickelt subversive Strategien dagegen; allerdings auf moralisch verwerfliche Weise. Sie ist Proto-Feministin und Monster zugleich. Sie zeigt, dass Emanzipation durch die Übernahme männlicher Machtstrukturen letztlich zur Selbstzerstörung führt. Dies könnte ein Indikator für eine männliche Lesart sein und verweist für mich jetzt auf die männliche Perspektive des Autors. Ihre Tragik liegt darin, dass sie das System nicht überwindet, sondern sich darin perfektioniert, doch zugleich daran zugrunde geht – vielleicht sogar an ihrer eigenen Hybris bezüglich ihrer vermeintlich geglaubten Überlegenheit.

Die Marquise ist weder Heldin noch bloße Bösewichtin. Sie ist das literarische Monument einer Frau, die in einer ungerechten Welt nach Macht griff und dabei ihre Menschlichkeit verlor. In ihrer erschreckenden Brillanz bleibt sie bis heute unerreicht: eine Figur, die uns fasziniert und abstößt, die wir bewundern und fürchten müssen: ein Spiegel der Abgründe, zu denen Unterdrückung und der Wille zur Macht führen können.

Über den Autor von Gefährliche Liebschaften: Choderlos de Laclos

Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos (1741-1803) war ein französischer Offizier und Schriftsteller, dessen literarischer Ruhm fast ausschließlich auf seinem Roman Les Liaisons Dangereuses beruht. Als Artillerieoffizier führte Laclos ein Leben zwischen Militärdienst und literarischen Ambitionen. Gefährliche Liebschaften war sein einziger Roman, doch dieser genügte, um ihm einen Platz in der Weltliteratur zu sichern. Das Werk löste bei seiner Veröffentlichung einen Skandal aus und wurde als unmoralisch gebrandmarkt. Dies steigerte seinen Erfolgt jedoch nur noch mehr – man kennt dieses Phänomen von Weltliteratur wie Nabokovs Lolita oder Salingers Der Fänger im Roggen. Laclos selbst war keineswegs der Libertin, als den man ihn aufgrund seines Romans hätte halten können: Er führte eine glückliche Ehe und blieb seiner Frau zeit seines Lebens treu. Nach der Französischen Revolution diente er unter Napoleon und starb 1803 in Tarent, Italien. Sein Roman überlebte ihn um Jahrhunderte und inspiriert bis heute Kulturschaffende weltweit.

Gefährliche Liebschaften: der Briefroman als Form

Gefährliche Liebschaften bzw. Roman Les Liaisons Dangereuses ist in der Form des Briefromans (roman épistolaire) verfasst, einer literarischen Gattung, die besonders im 18. Jahrhundert äußerst modern war. Das Werk besteht aus 175 Briefen, die zwischen verschiedenen Figuren ausgetauscht werden, und den ungleichen Informationsfluss verdeutlichen: das Streuen von Gerüchten, Geheimnissen und strategischen Intrigenspielen. Diese Form ermöglicht mehrere narrative und psychologische Raffinessen.

Multiperspektivität: Jeder Brief bietet die subjektive Sichtweise der jeweiligen Absenderin bzw. des jeweiligen Absenders. Dies erlaubt uns als Lesenden, unterschiedliche Interpretationen derselben Ereignisse miteinander zu vergleichen. Wir sehen, wie Valmont gegenüber der Marquise über seine Eroberungen prahlt, während er bei Madame de Tourvel den sensiblen Liebhaber mimt. Das Ganze verleiht dem Werk neben der psychologischen Raffinesse auch Spannung.

Unmittelbarkeit: Die Briefe suggerieren Authentizität und direkte Teilhabe am Geschehen. Man liest nicht über die Figuren, sondern ihre eigenen Worte: ihre Strategien, Zweifel, Triumphe und Verzweiflung.

Maskierung und Entlarvung: Zentral ist die Diskrepanz zwischen verschiedenen Briefen derselben Person. Valmont und die Marquise schreiben, je nachdem, an wen sie sich richten, völlig verschiedene Dinge. Diese Vielschichtigkeit entlarvt ihre Manipulationstechniken und zeigt die Konstruktion verschiedener Identitäten. Das sind aber keine zeitgenössischen Taktiken, sondern politische Kommunikationsmittel.

Zeitliche Struktur: Briefe brauchen Zeit, um anzukommen. Diese Zeitverzögerung erzeugt Spannung, Missverständnisse und verhängnisvolle Entwicklungen, die bei sofortiger Kommunikation vermeidbar gewesen wären.

Literaturwissenschaftliches und historisches Interesse

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist Gefährliche Liebschaften in mehrfacher Hinsicht sehr interessant und ein Schlüsseltext der französischen Aufklärung. Zugleich steckt in ihm viel Kritik am damaligen Regime. Auf einer weiteren Ebene nutzt Laclos nutzt mit der durch die Figuren dargestellten Intellekt, ihre Vernunft und Rationalität, welche die Aufklärung propagierte, zur Darstellung des Missbrauchs dieser Werkzeuge für unmoralische Zwecke. Die Libertins sind Meister der Aufklärung, sie handeln rational, strategisch und frei von religiösen Dogmen. Und doch setzen sie alle ihre Macht und ihr Wissen für die Zerstörung der Freiheit ein.

Moralische Ambiguität: Der Roman verzichtet auf eindeutige moralische Urteile. Laclos selbst fügte zwar ein Vorwort hinzu, das die Leserinnen und Leser vor den Gefahren der Libertinage warnen soll. Doch ist die Geschichte selbst an sich spannend und die Figuren – allen voran die Marquise und Valmont – so komplex angelegt, dass man sich einer gewissen Faszination nicht ganz entziehen kann, was möglicher Nachahmer animiert hat.

Geschlechterpolitik: Besonders bemerkenswert ist die Figur der Marquise de Merteuil, die in einer patriarchalen Gesellschaft nur durch Manipulation und Täuschung Macht erlangen kann. In ihrem berühmten Brief (der ja weiter oben aufgeführt ist) erklärt sie, wie sie sich systematisch zur perfekten Manipulatorin ausgebildet hat. Das ist ein erschreckend modernes Zeugnis weiblicher Emanzipation durch subversive Strategien.

Historischer Kontext: Der Roman erschien 1782, nur sieben Jahre vor der Französischen Revolution. Er gilt als literarische Darstellung der moralischen Dekadenz und Innerlichkeit des Ancien Régime. Die Figuren leben in einer Welt absoluter Privilegien, völliger Langeweile und moralischer Leere. Man erhält ein umfassendes Bild von dem Mikrokosmos der aristokratischen Gesellschaft, die kurz vor ihrem Zusammenbruch stand.

Psychologische Modernität: Laclos‘ Analyse von Manipulation, Machtdynamiken und psychologischer Kriegsführung ist erstaunlich modern. Gefährliche Liebschaften könnte als frühes Studium von Narzissmus, Psychopathie und toxischen Beziehungen gelesen werden.

Die Figuren in Gefährliche Liebschaften / Figuren in Les Liaisons Dangereuses

Marquise de Merteuil

Eine junge, schöne und intelligente Witwe, die nach außen hin ein tadelloses gesellschaftliches Leben führt, während sie im Geheimen als Meisterin der Manipulation Intrigen spinnt. Nach dem Tod ihres Mannes nutzt sie ihre neu gewonnene Freiheit, um ein Doppelleben zu führen: öffentlich respektabel, privat eine Libertine. Die Marquise ist die eigentliche Hauptfigur des Romans, wobei ich persönlich sie nicht als Heldin bezeichnen würde. Sie hat sich systematisch in Selbstbeherrschung, Schauspielkunst und psychologischer Menschenkenntnis geschult. Ihre Intelligenz und strategische Brillanz sind beeindruckend, doch ihre emotionale Kälte und Grausamkeit machen sie zu einer zutiefst destruktiven Figur. Interessant ist ihre feministische Dimension: In einer Gesellschaft, die Frauen systematisch entmachtet, erringt sie durch Manipulation Kontrolle, dies allerdings auf moralisch verwerfliche Weise.

Vicomte de Valmont

Ein charmanter, gutaussehender Adliger, berühmt-berüchtigt für seine Eroberungen und seinen ausschweifenden Lebensstil. Valmont ist ein Stratege der Verführung, für den Liebe ein Kriegsspiel ist und es weniger um Liebe, denn um Macht und Kontrolle geht. Seine Beziehung zur Marquise ist kompliziert: ehemalige Liebende, jetzt Komplizen und Rivalen. Valmont ist zunächst kühl, kalkulierend und bringt keine Gefühle in Beziehungen ein – bis er Madame de Tourvel begegnet: Er verliebt sich tatsächlich in sie, was seinen Untergang bedeutet. Sein tragischer Fehler ist, dass er die Kontrolle über seine Gefühle verliert und sich damit verwundbar macht. Valmont verkörpert die Unmöglichkeit, gleichzeitig authentisch zu lieben und das Spiel der Libertinage zu spielen.

Madame de Tourvel (Présidente de Tourvel)

Eine junge, verheiratete Frau von makelloser Tugend und tiefer Religiosität. Sie ist die Hauptzielperson von Valmonts Verführungskampagne und wird zur tragischsten Figur des Romans. Tourvel repräsentiert Unschuld, Moral und echte Gefühle in einer Welt der Täuschung. Ihre langsame Kapitulation vor Valmont ist psychologisch meisterhaft dargestellt: Sie kämpft verzweifelt gegen ihre Gefühle an, weiß um Valmonts Ruf, versucht ihn zu meiden und verliert dennoch. Nachdem Valmont sie auf Befehl der Marquise fallen lässt, bricht sie völlig zusammen und stirbt. Ihre Geschichte ist die eigentliche Tragödie des Romans: eine gute, liebevolle Frau wird Opfer eines grausamen Spiels.

Cécile de Volanges

Ein naives, gerade aus dem Kloster entlassenes Mädchen von etwa 15 Jahren, das in die Welt der Erwachsenen eintritt und zum Spielball der Intrigen wird. Cécile ist mit dem Comte de Gercourt verlobt (der nie persönlich auftritt), verliebt sich aber in den jungen Chevalier Danceny. Ihre Unschuld und Unerfahrenheit machen sie zum perfekten Opfer: Die Marquise will sie benutzen, um Gercourt zu demütigen, und Valmont verführt sie systematisch, während er gleichzeitig vorgibt, ihr bei der Beziehung zu Danceny zu helfen. Céciles Entwicklung vom unschuldigen Mädchen zur Komplizin zeigt, wie zerstörerisch die Welt der Libertinage ist. Am Ende zieht sie sich ins Kloster zurück – traumatisiert und desillusioniert.

Chevalier Danceny

Ein junger, idealistischer Adliger und Musiklehrer, der sich aufrichtig in Cécile verliebt. Danceny ist die einzige durchweg positive männliche Figur, weil er ehrlich, romantisch, veranlagt und tugendhaft ist. Doch gerade seine Naivität und seine Gutgläubigkeit machen ihn manipulierbar. Valmont gibt vor, sein Freund zu sein und ihm bei seiner Liebe zu Cécile zu helfen, während er gleichzeitig Cécile verführt. Danceny wird schließlich zum Rächer: Als er die Wahrheit über die Intrigen erfährt, fordert er Valmont zum Duell und tötet ihn. Er ist das Instrument der Nemesis, das die Libertins zu Fall bringt.

Madame de Volanges

Céciles Mutter, eine respektable Witwe und Freundin der Madame de Tourvel. Sie durchschaut Valmonts Charakter und versucht vergeblich, ihre Tochter und ihre Freundin vor ihm zu warnen. Sie repräsentiert die konventionelle Moral und gesellschaftliche Ordnung, ist aber letztlich machtlos gegen die Manipulationen der Libertins. Ihre Warnungen kommen entweder zu spät oder werden ignoriert, was ihre tragische Hilflosigkeit unterstreicht.

Madame de Rosemonde

Valmonts alte, weise Tante, bei der Madame de Tourvel zu Gast ist. Sie liebt ihren Neffen trotz seiner Fehler und versucht sanft, ihn zur Tugend zu bekehren. Sie ist eine Stimme der Weisheit und des Mitgefühls, erkennt aber auch die Gefahr, die von Valmont ausgeht. Nach dem Tod von Tourvel und Valmont bleibt sie als trauernde Zeugin der Zerstörung zurück.

Rezeption von Gefährliche Liebschaften in der Popkultur

Laclos‘ Gefährliche Liebschaften hat die Popkultur nachhaltig geprägt und wurde vielfach adaptiert – zuletzt sogar in einer Serie – vielfach reinterpretiert und zitiert

Filmadaptionen

Die berühmteste Verfilmung ist Stephen Frears‘ Gefährliche Liebschaften von 1988 mit Glenn Close als Marquise de Merteuil und John Malkovich als Valmont. Der Film war ein kritischer und kommerzieller Erfolg, gewann drei Oscars und machte die Geschichte einem breiten Publikum zugänglich. Die eiskalte Performance von Glenn Close prägte die Vorstellung der Marquise für eine ganze Generation.

Roger Vadims Verfilmung aus dem Jahr 1959 mit Jeanne Moreau verlegte die Handlung ins zeitgenössische Paris und betonte die erotischen Elemente. Miloš Formans Valmont von 1989 mit Annette Bening und Colin Firth bot eine weniger zynische, romantischere Interpretation.

Moderne Adaptionen:

Der Film Eiskalte Engel aus dem Jahr 1999, im Original Cruel Intentions, verlegte die Geschichte ins zeitgenössische Manhattan und machte aus den Protagonisten wohlhabende Teenager. Mit Sarah Michelle Gellar, Ryan Phillippe und Reese Witherspoon wurde der Film ein Kultklassiker der späten 1990er Jahre und bewies, dass Laclos‘ Themen auch in der modernen Zeit funktionieren. Die Serie Valmont von 2023 bietet eine weitere zeitgenössische Interpretation mit Fokus auf die Jugendkultur.

Die neue Serie Eiskalte Engel adaptiert den Kultfilmklassiker von 1999 als moderne, vielschichtige Dramaserie und bringt die Themen Macht, Verführung und manipulative Intrigenspiele ins zeitgenössische Setting.

Theater und Oper

Christopher Hamptons Theaterstück Les Liaisons Dangereuses aus dem Jahr 1985 wurde international gefeiert und diente als Vorlage für die Verfilmung von 1988. Das Stück wird bis heute regelmäßig aufgeführt. Es gibt auch Opern-Adaptionen, darunter eine von Conrad Susa (1994).

Literarische Referenzen

Zahlreiche Romane beziehen sich auf Laclos‘ Werk oder nutzen ähnliche Strukturen. Die Themen toxische Beziehungen, Manipulation und gesellschaftliche Doppelmoral finden sich in unzähligen modernen Erzählungen wieder. Allerdings glaube ich, dass es sich hier nicht unbedingt um etwas Neues handelt, das sind universelle Themen, die in neue Gewänder dem Zeitgeist angepasst worden sind.

FAQ: Gefährliche Liebschaften von Pierre Choderlos de Laclos

Wann wurde Les Liaisons dangereuses veröffentlicht?

Der Roman erschien 1782 in Paris, kurz vor der Französischen Revolution. Er wurde sofort ein Skandalerfolg und galt als unmoralisch und anstößig. Der französische Originaltitel lautet Les Liaisons dangereuses, was wörtlich „Die gefährlichen Verbindungen“ bedeutet.

Zu welcher literarischen Epoche gehört das Werk?

Das Buch gehört zur Spätaufklärung und wird oft als Höhepunkt des französischen Briefromans betrachtet. Es steht in der Tradition der libertinären Literatur des 18. Jahrhunderts, übertrifft diese aber durch psychologische Tiefe und moralische Komplexität.

Warum gilt das Buch als skandalös?

Der Roman schildert offen sexuelle Verführungen, Untreue, Manipulation und moralische Korruption in der aristokratischen Gesellschaft. Er zeigt die Heuchelei der adeligen Gesellschaft, in der unter der Oberfläche von Tugend und Religion skrupellose Libertinage herrscht. Die explizite Darstellung und die intelligenten, unsympathischen Protagonisten waren schockierend.

Was ist ein Briefroman?

Ein Briefroman erzählt die Geschichte ausschließlich durch fiktive Briefe zwischen den Figuren. Es gibt keinen auktorialen Erzähler. Der Leser muss selbst aus den verschiedenen Perspektiven die Wahrheit rekonstruieren und zwischen Selbstdarstellung, Lüge und Realität unterscheiden.

Warum wählte Laclos diese Form?

Die Briefform erlaubt es, verschiedene Wahrheiten gleichzeitig zu zeigen. Wir sehen, wie Valmont sich gegenüber Tourvel als reuiger Sünder präsentiert, während er gleichzeitig Merteuil von seinen Eroberungsplänen berichtet. Die Form enthüllt die Diskrepanz zwischen öffentlicher Maske und privater Wahrheit. Sie macht den Leser zum Komplizen und Voyeur.

Wer sind die Hauptopfer?

Die beiden Hauptopfer sind die junge, naive Cécile Volanges, die gerade aus dem Kloster gekommen ist und in die Welt eingeführt werden soll, und die fromme, verheiratete Présidente de Tourvel, die für ihre Tugend und ihren starken moralischen Charakter bekannt ist. Beide werden durch raffinierte psychologische Manipulation gebrochen.

Ist das Ende eine moralische Bestrafung?

Das Ende kann als moralische Gerechtigkeit gelesen werden – die Schurken werden bestraft. Aber Laclos macht es komplizierter: Die Unschuldigen leiden ebenfalls schrecklich, und die Bestrafung scheint eher durch Zufall und menschliche Schwäche zu geschehen als durch göttliche Vorsehung. Die Frage, ob das Buch moralisch oder amoralisch ist, bleibt bewusst offen.

Was ist die Beziehung zwischen Merteuil und Valmont?

Sie sind ehemalige Liebhaber, jetzt Komplizen und Rivalen. Sie bewundern einander als ebenbürtige Intelligenzen und genießen es, ihre Intrigen gemeinsam zu planen. Gleichzeitig konkurrieren sie um Macht und Kontrolle. Ihre Korrespondenz ist geprägt von Witz, gegenseitiger Herausforderung und wachsender Spannung. Am Ende wird aus Komplizenschaft tödliche Feindschaft.

Was bedeutet "Libertinage"?

Libertinage bezeichnet im 18. Jahrhundert eine Lebenseinstellung, die sich über moralische und religiöse Konventionen hinwegsetzt und sexuelle Freiheit, Genuss und intellektuelle Unabhängigkeit betont. Für Merteuil und Valmont ist es eine Philosophie der Macht: Sie sehen durch die Heuchelei der Gesellschaft hindurch und nutzen diese Erkenntnis zur Manipulation.

Wie wird Macht dargestellt?

Macht bedeutet im Roman vor allem Kontrolle – über andere und über sich selbst. Merteuil verkörpert perfekte Selbstkontrolle, Valmont verliert diese Kontrolle durch echte Gefühle. Macht wird durch Wissen ausgeübt: Wissen über Schwächen, Geheimnisse, Wünsche. Die Mächtigen sind die, die durchschauen ohne durchschaut zu werden.

Welche Rolle spielen Gender und Geschlechterverhältnisse?

Der Roman ist eine scharfe Kritik an der patriarchalen Gesellschaft. Merteuil erklärt explizit, wie Frauen anders als Männer ihre Sexualität verbergen müssen und nur durch Täuschung Macht erlangen können. Sie ist das Produkt einer Gesellschaft, die Frauen alle direkten Wege zur Macht versperrt. Gleichzeitig ist sie eine Kritik dieser Verhältnisse und ihre Bestätigung.

Was sagt der Roman über Liebe?

Der Roman zeigt verschiedene Formen von Liebe: romantische Liebe (Danceny und Cécile), leidenschaftliche Liebe (Tourvel zu Valmont), berechnende Verführung (Valmont zu Tourvel, zunächst), unerwartete echte Liebe (Valmont zu Tourvel, später). Die zentrale Frage ist: Kann echte Liebe in einer Welt der Täuschung existieren? Valmonts echte Liebe wird zu seiner Schwäche und seinem Untergang.

Ist der Roman eine Moralsatire?

Ja und nein. Laclos zeigt die Korruption der aristokratischen Gesellschaft und ihre Heuchelei. Aber er tut dies so brilliant und macht seine Schurken so faszinierend intelligent, dass unklar bleibt, ob er sie verurteilt oder bewundert. Der moralische Standpunkt des Autors bleibt bewusst ambivalent.

Was symbolisiert der Fall Merteuils?

Merteuils Untergang – entstellt durch Pocken, gesellschaftlich geächtet, finanziell ruiniert – kann als Strafe für ihre Unmoral gelesen werden. Aber es ist auch der Fall einer Frau, die es wagte, in einer Männerwelt nach Macht zu streben. Die Gesellschaft, die ihre Heuchelei tolerierte, solange sie verborgen blieb, vernichtet sie, sobald die Wahrheit ans Licht kommt.

Warum ist das Werk ein Meisterwerk?

Gefährliche Liebschaften vereint psychologische Tiefe, formale Innovation, moralische Komplexität und sprachliche Brillanz. Die Briefform ist perfekt beherrscht, die Charaktere sind komplex und mehrdimensig, die Intrigen sind raffiniert konstruiert. Der Roman ist gleichzeitig eine Gesellschaftskritik, eine psychologische Studie und ein spannendes Drama.

Welchen Einfluss hatte das Buch?

Der Roman beeinflusste die gesamte weitere Literatur über Verführung, Manipulation und gesellschaftliche Heuchelei. Von Balzac über Flaubert bis zu zeitgenössischen Autoren finden sich Spuren von Laclos‘ Werk. Die Figur der intelligenten, manipulativen Femme fatale wurde zum literarischen Archetyp.

Wie unterscheiden sich die Adaptionen vom Original?

Die meisten Verfilmungen müssen die Komplexität der Briefform aufgeben und eine lineare Erzählung schaffen. Dabei geht oft die Ambiguität verloren – wir sehen die „Wahrheit“, statt zwischen verschiedenen Darstellungen unterscheiden zu müssen. Manche Adaptionen vereinfachen auch die moralische Komplexität und machen klarer, wer „gut“ und

In welcher Reihenfolge sollte ich die Briefe lesen?

In der Reihenfolge, wie sie im Buch stehen. Die Anordnung ist sorgfältig komponiert und schafft Spannung durch zeitliche Überschneidungen – manchmal wissen wir mehr als eine Figur, manchmal erfahren wir Dinge später. Die Chronologie ist bewusst kunstvoll gestört.

Wen sollte ich als Sympathieträger sehen?

Das ist die Frage, die Laclos bewusst offenlässt. Merteuil und Valmont sind faszinierend intelligent, aber moralisch abstoßend. Tourvel ist sympathisch, aber ihre Tugend wirkt manchmal naiv. Cécile ist liebenswert, aber irritierend unreif. Die moralische Ambiguität ist Teil der Kunst des Werks.

Was lerne ich aus dem Buch?

Der Roman ist eine Meisterklasse in Psychologie, Manipulation und gesellschaftlicher Dynamik. Er zeigt, wie Menschen sich selbst und andere täuschen, wie Macht funktioniert, wie gefährlich unkontrollierte Intelligenz ohne Moral sein kann. Er lehrt Misstrauen gegenüber Oberflächen und schult den Blick für versteckte Motive.

Welche anderen Werke sollte ich lesen?

Andere große libertinäre Romane sind Marquis de Sades Werke (extremer und philosophischer), „Manon Lescaut“ von Prévost, „Die Bekenntnisse“ von Rousseau. Spätere Werke, die Laclos‘ Einfluss zeigen: Balzacs Gesellschaftsromane, Flauberts „Madame Bovary“, Patricia Highsmiths psychologische Thriller.

Ist das Gefährliche Liebschaften noch aktuell?

Absolut. Die Mechanismen von Manipulation, die Diskrepanz zwischen öffentlichem Image und privater Wahrheit, die Frage nach authentischen Gefühlen in einer Welt der Täuschung – all das ist zeitlos. In einer Zeit von Social Media und sorgfältig kuratierten Selbstdarstellungen wirkt der Roman aktueller denn je.

Katrin Beißner
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