Zuletzt bearbeitet am 3. Dezember 2025
3. Dezember | Heinrich Manns satirischer Roman Der Untertan (1914/1918) ist nicht nur ein bedeutendes Werk der deutschen Literatur, sondern auch ein sehr lustig zu lesendes. Wenngleich nicht so lustig wie Catch 22, aber jedem das seine. Mit ironischem Spott zeichnet Heinrich Mann das Porträt eines opportunistischen Emporkömmlings im wilhelminischen Deutschland und entlarvt dabei die autoritären Strukturen einer ganzen Gesellschaft. Alle bekommen ihr Fett weg. „Ich brauchte sechs Jahre immer stärkerer Erlebnisse, dann war ich reif für den »Untertan«, meinen Roman des Bürgertums im Zeitalter Wilhelms des Zweiten“[1], so Heinrich Mann über seinen Roman. 1906 begann er bereits mit dem Werk und beendete es 1914 kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch erst 1916 wurde es in einem Privatdruck von nur 10 Exemplaren ediert, erschienen ist Der Untertan erst 1918. Einzelne Episoden hatte Heinrich Mann allerdings bereits zwischen 1911 und 1913 im Simplicissimus[2] veröffentlicht.[3] (Es scheint momentan eine Störung vorzuliegen)
Der Untertan ist ein Roman gefüllt mit scharfzüngiger Zeitkritik, die bis heute erschreckend aktuell ist. Manns Roman gehört zum Kanon der Schulliteratur – Schülerinnen und Schülern wird traurigerweise oftmals der Spaß an dieser bissigen Lektüre vermurkst – ironischerweise durch bürokratisches Autoritätsgehabe. Ich empfehle die Lektüre gerne weiter, weil sie absolut unterhaltsam ist.
Der Untertan ist lesenswert, weil…
👉 er das Verhältnis zwischen Macht und kriecherischer Unterordnung in all seiner moralischen Komplexität sichtbar macht.
👉 Mann uns vor Augen führt, wie ein Mensch ohne eigenes moralisches Rückgrat sich nach oben buckelt und nach unten tritt – ein zeitloser Mechanismus mit universeller Gültigkeit.
👉 beweist, dass Satire nicht nur Spott und Lachen auslöst, sondern Erkenntnis stiften kann.
👉 der Roman ein zeitloses Lehrstück über die Gefährdung des Individuums durch Konformität bleibt.
👉 das Werk einen unschätzbaren Einblick in die Mentalität des Kaiserreichs bietet, die den Weg in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs ebnete.
👉 die Figuren nicht bloß Karikaturen sind, sondern psychologisch ausgefeilte Abziehbilder bestimmter Menschentypen, die mit ihrem Denken und Handeln bis in die Gegenwart reichen.
Zitiert: Heinrich Manns Der Untertan
Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu seinem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.
Im Lauf der Jahre berührten zwei über Machthaber hereingebrochene Katastrophen ihn mit heiligem und süßem Schauder. Ein Hilfslehrer ward vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen. Ein Oberlehrer ward wahnsinnig. Noch höhere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier gräßlich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen.
Die Macht, die ihn in ihrem Räderwerk hatte, vor seinen jüngeren Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mußten nach seinem Diktat schreiben und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte. Sie waren grausam. Die Kleinen schrien – und dann war es an Diederich, sich zu demütigen, um nicht verraten zu werden.
Er hatte, den Machthabern nachzuahmen, keinen Menschen nötig; ihm genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holländers und sah die Trommel die Lumpen ausschlagen. »Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!« murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es. Plötzlich duckte er sich; fast fiel er in das Chlorbad. Der Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgestört aus seinem lästerlichen Genuß.
Denn recht geheuer und seiner Sache gewiß fühlte er sich nur, wenn er selbst die Prügel bekam. Kaum je widerstand er dem Übel. Höchstens bat er den Kameraden: „Nicht auf den Rücken, das ist ungesund.“
Nicht daß es ihm am Sinn für sein Recht und an Liebe zum eigenen Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafür, daß Prügel, die er bekam, dem Schlagenden keinen praktischen Gewinn, ihm selbst keinen reellen Verlust zufügten. Ernster als diese bloß idealen Werte nahm er die Schaumrolle, die der Oberkellner vom Netziger Hof ihm schon längst versprochen hatte und mit der er nie herausrückte. Diederich machte unzählige Male ernsten Schrittes den Geschäftsweg die Meisestraße hinauf zum Markt, um seinen befrackten Freund zu mahnen. Als der aber eines Tages von seiner Verpflichtung überhaupt nichts mehr wissen wollte, erklärte Diederich und stampfte ehrlich entrüstet auf: »Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich herausrücken, sag’ ich’s Ihrem Herrn!« Darauf lachte Schorsch und brachte die Schaumrolle.
Das war ein greifbarer Erfolg. Leider konnte Diederich ihn nur hastig und in Sorge genießen, denn es war zu fürchten, daß Wolfgang Buck, der draußen wartete, darüber zukam und den Anteil verlangte, der ihm versprochen war. Indes fand er Zeit, sich sauber den Mund zu wischen, und vor der Tür brach er in heftige Schimpfreden auf Schorsch aus, der ein Schwindler sei und gar keine Schaumrolle habe. Diederichs Gerechtigkeitsgefühl, das sich zu seinen Gunsten noch eben so kräftig geäußert hatte, schwieg vor den Ansprüchen des anderen – die man freilich nicht einfach außer acht lassen durfte, dafür war Wolfgangs Vater eine viel zu achtunggebietende Persönlichkeit. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis, von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: »Das gehört dem Herrn Buck.« Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch Herr Heßling, entblößten vor ihm lange den Kopf. Seinem Sohn mit Gewalt etwas abzunehmen, wäre eine Tat voll unabsehbarer Gefahren gewesen. Um von den großen Mächten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, mußte Diederich leise und listig zu Werk gehen.
Einmal nur, in Untertertia, geschah es, daß Diederich jede Rücksicht vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnlichen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewußtsein, das kollektiv war!
Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich lächelte mit demütigem Einverständnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besaß. Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstellen behauptete er auch später. Er war gut Freund mit allen, lachte, wenn sie ihre Streiche ausplauderten, ein ungetrübtes, aber herzliches Lachen, als ernster junger Mensch, der Nachsicht hat mit dem Leichtsinn – und dann in der Pause, wenn er dem Professor das Klassenbuch vorlegte, berichtete er. Auch hinterbrachte er die Spitznamen der Lehrer und die aufrührerischen Reden, die gegen sie geführt worden waren. In seiner Stimme bebte, nun er sie wiederholte, noch etwas von dem wollüstigen Erschrecken, womit er sie, hinter gesenkten Lidern, angehört hatte. Denn er spürte, ward irgendwie an den Herrschenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung, etwas ganz unter sich Bewegendes, fast wie ein Haß, der zu seiner Sättigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung.
Andererseits empfand er gegen die Mitschüler, deren Fortkommen seine Tätigkeit in Frage stellte, zumeist keine persönliche Abneigung. Er benahm sich als pflichtmäßiger Vollstrecker einer harten Notwendigkeit. Nachher konnte er zu dem Getroffenen hintreten und ihn, fast ganz aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefaßt, der schon längst verdächtig war, alles abzuschreiben. Diederich überließ ihm, mit Wissen des Lehrers, eine mathematische Aufgabe, die in der Mitte absichtlich gefälscht und deren Endergebnis dennoch richtig war. Am Abend nach dem Zusammenbruch des Betrügers saßen einige Primaner vor dem Tor in einer Gartenwirtschaft, was zum Schluß der Turnspiele erlaubt war, und sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als ausgetrunken war, ließ er die Rechte vom Krug herab auf die des anderen gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Baßtönen, die von Gemüt schleppten, ganz allein an:
»Ich hatt’ einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit …«
Übrigens genügte er bei zunehmender Schulpraxis in allen Fächern, ohne in einem das Maß des Geforderten zu überschreiten, oder auf der Welt irgend etwas zu wissen, was [14] nicht im Pensum vorkam. Der deutsche Aufsatz war ihm das Fremdeste, und wer sich darin auszeichnete, gab ihm ein ungeklärtes Mißtrauen ein.
Aus: Heinrich Mann: Der Untertan. 10. Auflage. Frankfurt am Main 2001, S. 13-17.
Zusammenfassung der Handlung von Der Untertan
Heinrich Mann erzählt in seinem satirischen Roman die Lebensgeschichte von Diederich Heßling, Sohn eines Papierfabrikanten in der fiktiven Stadt Netzig. Diederich lernt früh, dass es Vorteile bringen kann, sich der Autorität zu unterwerfen – erst dem tyrannischen Vater, später Lehrern und der eigenen Ehefrau (allerdings nur in bestimmten Situationen) und natürlich dem „blitz-zackigen“ Kaiser.
Als Berliner Student tritt Diederich Heßling einer schlagenden Verbindung bei – einer studentischen Korporation, in der das Fechten mit scharfen Waffen praktiziert wird und strenge hierarchische Strukturen herrschen. In diesem Umfeld entwickelt er ein übersteigertes nationales Bewusstsein und verinnerlicht die autoritären Werte des Kaiserreichs: bedingungsloser Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und Härte gegenüber Untergebenen.
Später übernimmt Diederich die Papierfabrik seines Vaters und wird ein „Musteruntertan“ des wilhelminischen Systems. Er buckelt vor Obrigkeiten, engagiert sich schwungvoll für Kaiser, „Vaterland“ und konservative Werte, verfolgt aber nur seinen eigenen Vorteil. Die Redewendung „Nach oben buckeln, nach unten treten“ beschreibt somit präzise Diederichs Lebensmaxime, die er als skrupelloser Unternehmer lebt. Nicht aus Liebe, sondern aus rein strategischen Gründen heiratet er die vermögende Guste Daimchen, um sein soziales Ansehen zu steigern und seine Position in der bürgerlichen Gesellschaft zu festigen.
Parteipolitisch setzt er sich scheinheilig für Ordnung, Moral und „deutsche Tugenden“ ein, intrigiert hintenrum gegen Konkurrenten und instrumentalisiert die Provinzgesellschaft zu seinen Gunsten.
Er nutzt jede Gelegenheit zum Ausbau seiner Machtposition und scheut weder vor Denunziation noch vor moralischer Skrupellosigkeit zurück. Diederichs Privatleben ist gleichfalls von Feigheit, Heuchelei und Selbstgerechtigkeit geprägt. Sein gesamtes Handeln ist geprägt von blindem Autoritätsdenken, Mitläufertum und Opportunismus im deutschen Kaiserreich.
Manns Der Untertan endet mit dem Triumph des Untertanengeistes: Diederich wird als Held gefeiert, obwohl (oder gerade, weil) er keinerlei Eigenständigkeit besitzt, sich dafür aber mit Egoismus und Duckmäusertum blitzend hervorgetan hat.
Zum Autor: Heinrich Mann – Leben und Werk
Heinrich Mann (1871-1950) ist einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts. Er wurde in Lübeck als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren, die Familie zog jedoch nach dem Tod des Vaters 1891 nach München. Dort begann Heinrich Mann seine schriftstellerische Karriere und wurde zu einem engagierten Gesellschaftskritiker und Demokraten. Er lebte längere Zeit in Italien und Frankreich, was seinen Blick auf Deutschland prägte. Im Gegensatz zu seinem Bruder Thomas, der unter anderem Mario und der Zauberer verfasste, positionierte sich Heinrich Mann früh als politischer Autor und Republikaner. Heinrich Mann (1871-1950) war einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, dessen Werk sich durch scharfe Gesellschaftskritik und politisches Engagement auszeichnete.
Sein literarischer Durchbruch gelang ihm mit Professor Unrat von 1905. Die Geschichte erzählt von einem tyrannischen Gymnasialprofessor, der sich in eine Varietésängerin verliebt und dabei gesellschaftlich absteigt. Der Roman wurde die Vorlage für den berühmten Film Der blaue Engel mit Marlene Dietrich von 1930.
Der Untertan gehört zu Manns Triologie über das Kaiserreich und wird mit Die Armen von 1917 und Der Kopf aus dem Jahr 1925 vervollständigt.
In der Novellensammlung Die Göttinnen (1903) und dem Roman Die kleine Stadt (1909) zeigt sich Manns Bewunderung für die italienische Kultur und Lebensart. Ein ernstes Leben (1932) und die historischen Romane über Henri IV., Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938), entstanden im Exil und setzen sich mit Fragen von Macht, Humanismus und politischer Verantwortung auseinander.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 musste Heinrich Mann ins Exil fliehen, zunächst nach Frankreich, später in die USA. Er starb 1950 in Santa Monica, kurz bevor er in die DDR übersiedeln wollte.
Heinrich Mann zur Entstehung von Der Untertan
Heinrich Mann schildert in Ein Zeitalter wird besichtigt rückblickend sein Leben sowie politische und kulturelle Entwicklungen seiner Zeit. Es handelt sich also um eine literarische Autobiografie, in der er rückblickend sein Leben sowie literarischen Zeugnisse kommentiert. So erwähnt Mann unter anderem auch den Entstehungsprozess von Der Untertan in diesem Rückblick, wie langwierig und gründlich der Weg zum fertigen Roman war.
„Auch die Romane, in denen ich das Zeitalter besichtigte, brauchten viel Weile, ein hartnäckiges Verweilen. Den Roman des bürgerlichen Deutschen unter der Regierung Wilhelms II. dokumentierte ich seit 1906. Beendet habe ich die Handschrift 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Krieges – der in dem Buch nahe und unausweichlich erscheint. Auch die deutsche Niederlage. Der Faschismus gleichfalls schon: wenn man die Gestalt des »Untertan« nachträglich betrachtet. Als ich sie aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht. Mit dem Roman »Der Untertan« kam ich früher, als erlaubt. Er mußte die vier Kriegsjahre abwarten. Erst Ende 1918 konnte er gelesen werden, und wurde es wirklich: mit großem äußerem Erfolg bei allen Deutschen, denen der verlorene Krieg zuerst Bedenken über ihren Zustand aufdrängte. Sie sind bald mit ihnen fertig geworden und haben fortgefahren, wie wenn nichts wäre. Wahrhaftig gäbe ich die Schuld lieber den Fehlern des »Untertan« als ihren.“[4]
Mann spielt in seinem Zitat auf die mangelnde gesellschaftliche und politische Aufarbeitung an, die das Erstarken des autoritären Denkens in Deutschland begünstigte. Tatsächlich kann man auch heute noch behaupten, dass immer noch keine ausreichende oder umfassende Aufarbeitung stattgefunden hat. Natürlich sind mittlerweile viele Aspekte der Erinnerungskultur aufgearbeitet worden, doch gibt es immer noch viele blinde Flecken wie beispielsweise Asal Dardan in Traumaland zeigt. Jedenfalls – abschließend distanziert Heinrich Mann sich sogar ironisch von seinem eigenen Buch – lieber würde er die Schuld am mangelnden Lernerfolg den „Fehlern des »Untertan«“[5] geben als den Deutschen selbst. Das Zitat verdeutlicht Heinrich Manns kritische Haltung gegenüber seinem Heimatland, seine Weitsicht und seine Frustration über die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland.
„Nach dem Kaiserreich betrachtete ich die Republik und hielt von ihr ziemlich genausoviel, wie sie wert war. Der Zustand, der sie abgelöst hat, das durchaus grauenhafte Fazit der früher durchlaufenen Zustände, dieses Hitler-Deutschland, mußte mich anwidern wie jedes andere Individuum von Geschmack. Selbstachtung und Mitgefühl. Erduldet habe ich, dank Hitler, seiner Herrschaft, seinem Krieg, Ängste, Schmerzen, die tiefste Erniedrigung meines Daseins.“[6]
Seine Analyse des „Untertanengeistes“ wie er sie an den Figuren in Der Untertan literarisch darstellt, gewinnt vor dem Hintergrund der Weimarer Republik und des aufkommenden Faschismus noch mehr an prophetischer Schärfe. Sein Bruder Thomas hat mit Mario und der Zauberer dieses Stadium literarisch prophetisch inszeniert.
Informationen zum historischen Kontext
Der Untertan entstand zwischen 1912 und 1914, wurde aber erst 1918 vollständig in Deutschland veröffentlicht. Die Buchausgabe erschien während des Ersten Weltkriegs zunächst nur in russischer Übersetzung (1915), da eine Veröffentlichung in Deutschland als staatsfeindlich galt.
Der Roman ist der erste Teil der Trilogie Das Kaiserreich und bildet ein umfassendes Panorama der wilhelminischen Gesellschaft. Mann schrieb das Werk als bewusste Warnung vor den autoritären und militaristischen Tendenzen des Kaiserreichs, die er für gefährlich hielt. Die weitere Geschichte sollte ihm recht geben.
Das wilhelminische Deutschland (1888-1918) war geprägt von Obrigkeitsdenken, Militarismus, rascher Industrialisierung und einem aggressiven Nationalismus. Kaiser Wilhelm II. verkörperte diese Ära mit seinem pompösen Auftreten und seiner Machtpolitik. Der Roman kritisiert nicht nur einzelne Personen, sondern ein ganzes System, das auf Autoritätshörigkeit und Heuchelei basierte.
Literarisch steht der Roman in der Tradition des satirischen Gesellschaftsromans. Mann nutzt realistische Darstellung und satirische Überspitzung, um die Widersprüche seiner Zeit bloßzulegen. Der Naturalismus und die Sozialkritik des Expressionismus beeinflussten seinen Stil.
Wichtige Themen in Heinrich Manns Der Untertan
Autoritätshörigkeit und Untertanengeist
Das zentrale Thema ist die Kritik am deutschen Obrigkeitsdenken. Diederich verkörpert den Typus des Menschen, der sich blind der Macht unterwirft und gleichzeitig selbst tyrannisch auftritt.
Opportunismus und Anpassung
Der Roman zeigt, wie moralische Flexibilität und Prinzipienlosigkeit zum sozialen Aufstieg führen können. Diederich hat keine festen Überzeugungen, sondern passt sich immer der mächtigeren Seite an.
Nationalismus und Militarismus
Die übertriebene Verehrung des Kaisers und die Glorifizierung des Militärischen werden als gefährliche Ideologien entlarvt, die kritisches Denken verhindern.
Doppelmoral und Heuchelei
Die Bürger von Netzig predigen Moral und Anstand, handeln aber nach Eigeninteresse und Machtstreben. Diederich selbst ist das beste Beispiel für diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein.
Klassengesellschaft
Der Roman thematisiert die starren Klassenschranken und den Kampf um sozialen Aufstieg. Diederich definiert sich über Abgrenzung nach unten und Anbiederei nach oben.
Geschlechterverhältnisse: Die patriarchale Gesellschaft zeigt sich in der Behandlung der weiblichen Figuren, die als Objekte männlicher Ambitionen erscheinen.
Möglicher Zeitbezug von Manns Der Untertan zu heute
In Zeiten des wiedererstarkenden Populismus und Nationalismus in Europa und weltweit erscheint Manns Analyse hochaktuell. Die Aktualität des Untertans ist auch heute gegeben – und das mag einigen vielleicht unvorstellbar erscheinen, für andere mag es erschreckend sein und wieder andere werden es wohl als absurd abtun. Autoritäre Charaktere, wie sie Mann beschreibt, finden sich aber in jeder Epoche und in jeder Gesellschaft. Insofern ist Der Untertan eine Warnung davor, Verantwortung an vermeintlich starke und charismatische Führungspersönlichkeiten abzugeben, ja überhaupt sein kritisches Denken aufzugeben.
Die Mechanismen der Manipulation, der Sündenbocksuche und der Ausgrenzung von Minderheiten, wie sie im Roman dargestellt sind, finden sich auch in aktuellen politischen Bewegungen, überhaupt in hierarchischen und bürokratischen Strukturen.
Die Rolle der Medien spielt heute eine noch größere Rolle als zu Manns Zeit, denn im digitalen Zeitalter können wirklich alle Menschen gleichermaßen erreicht werden. Zudem sind Falschmeldungen, Fake News überall vorhanden, Quellen – vor allem in sozialen Netzwerken – werden nicht mehr geprüft und viele glauben, was sie lesen. Dabei geht auch heute noch von den Medien eine gewisse Macht aus. Weiß Diederich sich die Medien und die öffentliche Meinung zunutze zu machen, so gilt eine derartige Form der Beeinflussung und Manipulation heute noch stärker. Die Frage, wie Demokratien sich gegen autoritäre Tendenzen wehren können, ist so relevant wie zu Manns Zeiten.
Der Untertan mahnt somit zur Wachsamkeit gegenüber jenen, die sich durch blinde Gefolgschaft auszeichnen und gleichzeitig Macht über andere ausüben wollen. Solche Persönlichkeiten gibt es heute wie damals, ist das Verhalten, das Diederich auszeichnet und das Mann satirisch überzeichnet auch heute noch eine Eigenschaft, die in vielen Institutionen gern gesehen ist. Heinrich Manns Roman zeigt, dass die Wurzeln des Autoritarismus oft in persönlicher Charakterschwäche, Angst und Kompensationsbedürfnissen liegen – und das scheint momentan noch leider ein zeitloses Problem zu sein.
Hauptfiguren in Heinrich Manns Der Untertan
Die folgende Figurenauflistung verdeutlicht Heinrich Manns satirische Analyse der wilhelminischen Gesellschaft: Der Triumph der Untertanen über Liberale, Sozialdemokraten und Humanisten weist prophetisch auf die kommenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts hin.
Diederich Heßling
- Funktion: Protagonist und Titelfigur, Antiheld
- Charakterisierung: Opportunistisch, feige, autoritätshörig, brutal gegenüber Schwächeren, unterwürfig gegenüber Mächtigen; geprägt von Angst und Machtgier
- Rolle im Werk: Verkörpert den typischen „Untertan“ des Kaiserreichs und den opportunistischen Bürger, seine Entwicklung vom ängstlichen Kind zum skrupellosen Machtmenschen bildet die zentrale Handlung
- Historischer Kontext: Repräsentiert das wilhelminische Bürgertum mit seiner Untertanenmentalität, dem blinden Nationalismus und der Kaisertreue; Vorläufer der NS-Mentalität
Guste Daimchen (später Heßling)
- Funktion: Diederichs Ehefrau
- Charakterisierung: Wohlhabend, angepasst, oberflächlich, ohne eigene politische oder moralische Überzeugungen
- Rolle im Werk: Objekt von Diederichs Karrierestreben; ihre Mitgift ermöglicht seinen sozialen Aufstieg
- Historischer Kontext: Symbolisiert die passive, unpolitische Frau des wohlhabenden Bürgertums, deren Rolle auf Repräsentation und Statuserhalt beschränkt ist
Der alte Buck
- Funktion: Antagonist und liberaler Gegenspieler
- Charakterisierung: Humanistisch gebildet, liberal, prinzipientreu, altmodisch
- Rolle im Werk: Repräsentiert die schwindenden liberalen Kräfte; wird von Diederich systematisch bekämpft und gesellschaftlich isoliert
- Historischer Kontext: Steht für das aufgeklärte Bildungsbürgertum und die liberale Opposition gegen den autoritären Obrigkeitsstaat; Symbol für das Scheitern des Liberalismus im Kaiserreich
Wolfgang Buck
- Funktion: Sohn des alten Buck, Jugendfreund Diederichs, liberaler Anwalt und Politiker
- Charakterisierung: Idealistisch, künstlerisch veranlagt, schwach im Durchsetzungsvermögen
- Rolle im Werk: Kontrastfigur zu Diederich; zeigt, wie Idealismus in der wilhelminischen Gesellschaft scheitert, vertritt humanistische Werte
- Historischer Kontext: Verkörpert die wirkungslose intellektuelle Opposition, die keine politische Macht entwickeln kann
Nebenfiguren in Der Untertan
Agnes Göppel
- Funktion: Diederichs Geliebte
- Charakterisierung: Schauspielerisch begabt, emotional, letztlich machtlos
- Rolle im Werk: Wird von Diederich ausgenutzt und fallengelassen, als sie ihm nicht mehr nützt
- Historischer Kontext: Zeigt die doppelte Moral der bürgerlichen Gesellschaft und die Rechtlosigkeit unverheirateter Frauen
Herr Heßling (Vater)
- Funktion: Diederichs Vater, Fabrikbesitzer
- Charakterisierung: Autoritätsfigur, streng, autoritär, brutal
- Rolle im Werk: Prägt Diederich durch Angst und Gewalt; sein Tod ermöglicht Diederichs Aufstieg, steht für patriarchale Gewalt
- Historischer Kontext: Repräsentiert die patriarchalische Erziehung im Kaiserreich, die Gehorsam durch Furcht erzwingt
Frau Heßling (Mutter)
- Funktion: Diederichs Mutter
- Charakterisierung: Unterwürfig, schwach, dem Mann hörig
- Rolle im Werk: Zeigt die totale Unterordnung der Frau im patriarchalischen System
- Historischer Kontext: Verkörpert das traditionelle Frauenbild des Kaiserreichs ohne eigene Handlungsmacht
Jadassohn
- Funktion: Geschäftspartner und Opportunist
- Charakterisierung: Jüdisch, geschäftstüchtig, anpassungsfähig, wird dennoch antisemitisch behandelt
- Rolle im Werk: Zeigt den latenten Antisemitismus auch in „freundschaftlichen“ Beziehungen
- Historischer Kontext: Repräsentiert die prekäre Situation assimilierter Juden im Kaiserreich, die trotz Anpassung diskriminiert wurden
Napoleon Fischer
- Funktion: Sozialdemokratischer Arbeiterführer, Gegenpol zur bürgerlichen Welt Diederichs
- Charakterisierung: Kämpferisch, prinzipientreu, letztlich machtlos
- Rolle im Werk: Verkörpert die Arbeiterbewegung, wird von Diederich bekämpft und denunziert
- Historischer Kontext: Steht für die unterdrückte Sozialdemokratie unter den Sozialistengesetzen und die Klassenkämpfe im Kaiserreich
Wulckow
- Funktion: Militärischer Vertreter
- Charakterisierung: Arrogant, standesbewusst, autoritär
- Rolle im Werk: Verkörpert die Macht des Militärs; Diederich kriechen vor ihm
- Historischer Kontext: Symbolisiert die überragende Stellung des Militärs in der wilhelminischen Gesellschaft
Kühnchen
- Funktion: Journalist und Diederichs Sprachrohr
- Charakterisierung: Opportunistisch, käuflich, zynisch
- Rolle im Werk: Vertritt Diederichs Interessen in der Presse und betreibt Hetzkampagnen
- Historischer Kontext: Zeigt die Instrumentalisierung der Presse für politische Propaganda und persönliche Interessen
Kaiser Wilhelm II.
- Funktion im Roman: Objekt der Verehrung, Symbol der Autorität
- Charakterisierung: Historische Figur, Personifikation der wilhelminischen Epoche, Leitbild für Macht, Militarismus und nationale Selbstüberschätzung. Seine Person wird verklärt, stilisiert und verherrlicht, oft karikierend und ironisch gebrochen.
- Rolle im Werk: Ist allgegenwärtig; seine Porträts hängen in Behörden, Privathäusern und öffentlichen Gebäuden; bestimmt Verhalten, Sprache und Denkweise der Bürger. Er ist Diederichs Idol, dieser will dessen „Tugenden“ – Unterwürfigkeit, Loyalität, Überhöhung des Autoritätsgedankens – nachahmen und übersteigern.
- Historischer Kontext:
Regierte das Deutsche Kaiserreich von 1888 bis 1918. Militarismus, imperialistische Ambitionen und einer Selbstinszenierung als „Oberster Kriegsherr“, setzte auf nationale Stärke, nach innen auf patriarchale Strukturen, Obrigkeitsdenken und demonstrative Volksnähe.
Literarische Funktion: Bleibt meist im Hintergrund, ist aber immer präsent, bestimmt Handlung, Denken und Fühlen aller. Verkörpert ein System, das Individualität und Kritik unterdrückt, Anpassung wird belohnt
Die Rolle der Kunst in Heinrich Manns Der Untertan
Kunst spielt in Der Untertan eine ambivalente Rolle. Sie wird einerseits zur Selbstdarstellung und Machtdemonstration des Kaiserreichs und insbesondere Wilhelms instrumentalisiert, andererseits gibt es Ansätze einer kritischen, emanzipatorischen Kunstrezeption.
Kunst als Machtinstrument: Das wilhelminische Bürgertum nutzt Kunst zur Repräsentation. Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal, für dessen Errichtung Diederich sich einsetzt, ist kein künstlerisches Werk, sondern ein Monument der Macht und Unterwerfung. Die pompöse Einweihungsfeier demonstriert, wie Kunst zum politischen Instrument wird. Und auch heute noch stehen in ganz Deutschland diese Denkmäler als Zeugnisse jener Zeit.
Theater und Oper: Der Roman zeigt mehrfach Theaterbesuche, bei denen das Publikum nicht die Kunst genießt, sondern sich selbst inszeniert. Das Theater wird zum gesellschaftlichen Treffpunkt, bei dem es um Statusdemonstration geht, nicht um ästhetische Erfahrung.
Literatur: Diederich selbst hat kein echtes Verhältnis zur Literatur. Seine studentischen Verbindungslieder und patriotischen Gedichte sind keine Kunst, sondern ideologische Versatzstücke. Die wahre kritische Literatur, die gesellschaftliche Missstände benennt, lehnt er ab.
Architektur: Die Beschreibungen der bürgerlichen Villen und öffentlichen Gebäude zeigen den Wunsch nach Größe und Imponiergehabe. Architektur dient der Machtdemonstration, nicht der Schönheit oder Funktionalität.
Der Roman selbst ist natürlich ein Kunstwerk, in dem aufgrund des gewählten satirischen Stils eine bestimmte Position bezogen wird. Insofern könnte man sagen: Heinrich Mann versteht Literatur als Mittel der Aufklärung und Gesellschaftskritik. Seine satirische Kunst entlarvt die Instrumentalisierung von Kultur durch die Macht und zeigt, wie wahre Kunst kritisch und widerständig sein muss.
Die Kunst wird im Untertan also entweder missbraucht oder fehlt ganz – eine weitere Anklage gegen die geistige Leere des wilhelminischen Bürgertums.
Heinrich Mann konstruiert den Roman als moralisches Spiegelkabinett: Jede Figur spiegelt einen Aspekt gesellschaftlicher Struktur. Diederich spiegelt die Macht, Buck das untergehende Ideal, der Kaiser die kollektive Sehnsucht nach Führung. Diese urkomische Spiegelarchitektur ist zugleich ein ästhetisches Prinzip, weil die Leserinnen und Leser zum Lachen über sich selbst angehalten werden. Ein Vorgehen, das bereits Sebastian Brant 1494 mit seinem Narrenschiff zu inszenieren wusste. Indem Heinrich Mann also die ihm aus seiner Zeit bekannten Menschentypen überzeichnet, verzerrt und karikiert, erreicht er die Menschen auf einer anderen Ebene als mit bloßer Kritik. Er hält ihnen quasi den literarischen Spiegel vor. Die Satire dient ihm als Kunst der Enthüllung. Der Roman ist deshalb auch eine Verteidigung des kritischen Denkens gegen den politischen Kitsch der Macht.
In der grotesken Überhöhung entlarvt Mann das Pathos des wilhelminischen Zeitalters als Schauspiel. Die Leserinnen und Leser lachen – und erschrecken zugleich über sich selbst.
FAQ: Der Untertan von Heinrich Mann
Zu welcher literarischen Epoche gehört Heinrich Manns Der Untertan?
Der Untertan gehört zur Epoche des Expressionismus und gilt als Gesellschaftsroman. Es ist zugleich ein satirischer Zeitroman und wird oft als einer der wichtigsten politischen Romane der deutschen Literatur bezeichnet.
Warum ist das Buch heute noch relevant?
Der Roman ist eine zeitlose Analyse von Autoritätshörigkeit, Opportunismus und dem Phänomen, wie Menschen Macht anbeten und nach unten treten. Die Mechanismen, die Heinrich Mann beschreibt – blinder Gehorsam, Nationalismus, Machtgier – sind universell und in verschiedenen Formen bis heute aktuell.
Wie ist der Roman strukturiert?
Der Roman ist in drei Teile gegliedert, die Diederichs Entwicklung zeigen: seine Kindheit und Studentenzeit, sein beruflicher Aufstieg und die Übernahme der väterlichen Fabrik, sowie sein politischer und gesellschaftlicher Triumph in Netzig. Die Handlung erstreckt sich über etwa 20 Jahre.
Was passiert am Ende von Der Untertan?
Der Roman endet mit der pompösen Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals in Netzig, bei der Diederich eine nationalistische Rede hält. Während der Feier zieht ein Gewitter auf, und ein Blitz schlägt in das Denkmal ein – ein symbolisches Vorzeichen für den kommenden Zusammenbruch des Kaiserreichs. Diederich bleibt jedoch unbelehrbar in seiner Verblendung.
Welche Charaktereigenschaften definieren Diederich?
Diederich ist feige, opportunistisch, autoritätshörig, nationalistisch, antisemitisch, frauenfeindlich und heuchlerisch. Er hat keine eigenen Überzeugungen, sondern übernimmt die Meinungen derjenigen, die ihm nützen können. Seine einzige Konstante ist sein Streben nach Macht und gesellschaftlichem Ansehen.
Wie wird Diederich zum "Untertanen"?
Seine Entwicklung beginnt mit einer brutalen, angstbasierten Erziehung durch seinen Vater. An der Universität tritt er einer schlagenden Studentenverbindung bei und lernt dort die Werte von Gehorsam, Hierarchie und Nationalismus. Jede Station seines Lebens verstärkt seine Unterwürfigkeit nach oben und seine Brutalität nach unten, bis er zur Karikatur des wilhelminischen Bürgers wird.
Ist Diederich psychologisch glaubwürdig?
Obwohl der Roman satirisch überzeichnet ist, bleibt Diederich psychologisch nachvollziehbar. Heinrich Mann zeigt präzise, wie aus Angst Aggression wird, wie Schwäche sich in Herrschsucht verwandelt und wie autoritäre Persönlichkeiten entstehen. Diederich ist keine Karikatur im Sinne von unrealistisch, sondern eine pointierte Darstellung realer Mechanismen.
Welche Rolle spielen die Frauen im Roman?
Die Frauen in Diederichs Leben – seine Schwester Emmi, seine Geliebte Agnes Göppel und seine Ehefrau Guste – sind weitgehend Objekte seiner Machtspiele. Guste heiratet er aus Berechnung, Agnes missbraucht er emotional. Die Darstellung zeigt die extreme Frauenfeindlichkeit der wilhelminischen Gesellschaft. Einzig Agnes zeigt zeitweise eigenen Willen, wird aber am Ende gebrochen.
Welche Rolle spielt der alte Buck?
Der alte Buck, Wolfgangs Vater, ist ein liberaler Altdemokrat aus der 1848er-Generation. Er repräsentiert die gescheiterten Ideale der demokratischen Revolution und wird zum Symbol einer vergangenen, hoffnungsvolleren Epoche, die von der wilhelminischen Reaktion erstickt wurde.
Was ist ein "Untertan"?
Ein Untertan ist jemand, der sich bedingungslos einer Autorität unterwirft und sein Selbstwertgefühl aus dieser Unterwerfung bezieht. Der Begriff beschreibt nicht nur rechtliche Abhängigkeit, sondern vor allem eine Mentalität: nach oben buckeln, nach unten treten. Der Untertan hat keine eigene moralische Instanz, sondern richtet sich nach der Macht.
Was kritisiert Heinrich Mann?
Mann kritisiert das gesamte wilhelminische System: den Militarismus, den übertriebenen Nationalismus, die Klassengesellschaft, die Verachtung der Demokratie, den Antisemitismus, die Heuchelei der Bourgeoisie und vor allem die autoritäre Mentalität. Er zeigt, wie dieses System charakterschwache Opportunisten hervorbringt und belohnt.
Welche Rolle spielt Gewalt?
Gewalt durchzieht den gesamten Roman – von der brutalen Erziehung über die sadistischen Rituale der Studentenverbindungen bis zu Diederichs psychischer und physischer Brutalität. Mann zeigt, wie eine Gesellschaft, die auf Gewalt, Einschüchterung und Hierarchie basiert, brutale Menschen hervorbringt.
Was symbolisiert das Kaiser-Wilhelm-Denkmal?
Das Denkmal, für das Diederich als treibende Kraft wirkt, symbolisiert die Selbstverherrlichung und hohle Monumentalität des Kaiserreichs. Der Blitzschlag am Ende ist eine prophetische Warnung vor dem kommenden Untergang. Die Denkmalsenthüllung ist der Höhepunkt von Diederichs Karriere und zugleich der satirische Höhepunkt des Romans.
Welcher Erzählstil wird verwendet?
Heinrich Mann nutzt einen auktorialen Erzähler mit stark satirischen, ironischen Kommentaren. Die Sprache wechselt zwischen nüchternen Beschreibungen und grotesker Überzeichnung. Der Erzähler nimmt keine neutrale Position ein, sondern kommentiert und verurteilt das Geschehen offen.
Wie funktioniert die Satire?
Mann übertreibt charakteristische Züge der wilhelminischen Gesellschaft bis zur Groteske, ohne dabei unrealistisch zu werden. Die Satire liegt in der Zuspitzung: Diederich ist nicht einfach autoritätshörig, er ist es bis zur Selbstverleugnung. Die Figuren sind Typen, die gesellschaftliche Phänomene verkörpern.
Welche sprachlichen Besonderheiten gibt es?
Mann verwendet bewusst die bombastische, pathetische Sprache der Wilhelminer, besonders in Diederichs Reden. Die Diskrepanz zwischen hochtrabender Rhetorik und niedrigen Motiven erzeugt komische und entlarvende Effekte. Auch die Körpersprache Diederichs – sein Schnurrbartdrehen, seine wechselnde Haltung – ist charakteristisch.
Wie wurde das Buch bei Erscheinen aufgenommen?
Das Buch sorgte für einen Skandal. Konservative Kreise waren empört über die Kritik am Kaiserreich, während progressive Leser es als brillante Analyse feierten. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Monarchie wurde deutlich, wie prophetisch Manns Kritik gewesen war.
Warum wurde das Buch im Nationalsozialismus verboten?
Der Untertan wurde 1933 sofort verboten und bei der Bücherverbrennung vernichtet. Die Nazis erkannten in dem Buch eine gefährliche Analyse ihrer eigenen autoritären Strukturen. Heinrich Mann selbst musste 1933 ins Exil fliehen.
Muss ich das ganze Kaiserreich-Trilogy lesen?
Der Untertan ist der erste Teil der Kaiserreich-Trilogie, gefolgt von Die Armen (1917) und Der Kopf (1925). Jeder Roman ist eigenständig lesbar. „Der Untertan“ ist der bekannteste und zugänglichste Teil, aber die anderen beiden vertiefen die Gesellschaftskritik.
Welche anderen Werke behandeln ähnliche Themen?
Ähnliche Kritik am Autoritarismus findet sich in Carl Zuckmayers „Der Hauptmann von Köpenick“, Erich Kästners Satiren, Kurt Tucholskys Essays und natürlich in den Analysen des Faschismus von Hannah Arendt oder Theodor W. Adornos Studien zur autoritären Persönlichkeit.
Was kann ich aus dem Buch für heute lernen?
Der Untertan ist ein Lehrstück über die Gefahren von Autoritätshörigkeit, Opportunismus und dem Verzicht auf eigenes Denken. Es zeigt, wie autoritäre Systeme funktionieren und wie sie Menschen deformieren. Die psychologischen Mechanismen, die Mann beschreibt – die Verbindung von Unterwürfigkeit und Aggression, die Suche nach Sündenböcken, der Führerkult – sind zeitlos und helfen, auch heutige Phänomene zu verstehen.
Hat der Roman einen hoffnungsvollen Aspekt?
Der Roman selbst endet nicht hoffnungsvoll – Diederich triumphiert scheinbar. Aber die Tatsache, dass Mann dieses System so scharf kritisiert und analysiert, enthält einen Appell: Erkenne diese Mechanismen und werde nicht selbst zum Untertanen. Die Hoffnung liegt in der Aufklärung des Lesers, nicht in der Handlung.
Verwendete Literatur
Mann, Heinrich: Der Untertan. 10. Auflage. Frankfurt am Main 2001.
Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt. Mit Anmerkungen und Erläuterungen von Gotthard Erler. Düsseldorf 1973.
Schoeller, Wilfried F.: Mann, Heinrich: Der Untertan. In: KLL © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020. H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur Lexikon (KLL), https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_12442-1 (zuletzt aufgerufen am 4.11.2025).
Simplicissimus. Jg. 17/4 (1912), S. 55-47 und S. 63. Online unter: http://www.simplicissimus.info/index.php?id=6&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Bvolume%5D=17&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Baction%5D=showVolume&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Bcontroller%5D=YearRegister&cHash=9cc95d55c2318909c438831c7eb76002 (zuletzt aufgerufen am 4.11.2025).
- Heinrich Mann: Der Untertan – 3. Dezember 2025
- Maria Höck und Juliana Kralik: Ein Einhorn namens Oktober – 2. Dezember 2025
- Michael Ende: Die unendliche Geschichte – 1. Dezember 2025
[1] Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt. Mit Anmerkungen und Erläuterungen von Gotthard Erler. Düsseldorf 1973, S. 223. [2] Simplicissimus. Jg 17/4 (1912), S. 55-47 und S. 63. Online unter: http://www.simplicissimus.info/index.php?id=6&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Bvolume%5D=17&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Baction%5D=showVolume&tx_lombkswjournaldb_pi1%5Bcontroller%5D=YearRegister&cHash=9cc95d55c2318909c438831c7eb76002 (zuletzt aufgerufen am 4.11.2025). [3] Vgl. Schoeller, Wilfried F.: Mann, Heinrich: Der Untertan. In: KLL © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020. H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur Lexikon (KLL), https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_12442-1. [4] Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt. Mit Anmerkungen und Erläuterungen von Gotthard Erler. Düsseldorf 1973, S. 187-188. [5] Ebd., S. 188. [6] Ebd., S. 223-224.