Heimkehr von Gerrit Engelke – Gedichte des Expressionismus

Es wird hier um das Gedicht Heimkehr von Gerrit Engelke aus dem Jahr 1917 gehen. Mit dem Wort ‘Heim’ hatte ich mich bereits in der Auseinandersetzung mit Heimweh von Else Lasker-Schüler befasst. Es ist interessant, wie das Wort in unterschiedlichen Kontexten entweder in zeitlich geringer Distanz oder aber über weite Epochen hinweg verwendet wird, welche Gemeinsamkeiten es gibt und welche Differenzen, wie sich dies einreiht in bestimmte literarische Begriffsbestimmungen und epochale Strömungen und vor allem, was ausgesagt wird über den Zeitgeist und möglicherweise auch über die Autorin bzw. den Autor selbst und damit allgemein über das Verhältnis von Individuum zur Gesellschaft. Beiträge mit ähnlichen Themen auf dieser Seite ist beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Kurt Tucholskys Masse Mensch oder auch meine Perspektive die Türhüterparabel von Kafka.

Zu Gerrit Engelke

Gerrit Ernst Manilius Engelke war ein deutscher Dichter, der mit seinen Werken viel von dem Geist der mäandernden literarischen Strömungen der Jahrhundertwende um 1900 in die Welt trug. Am 21. Oktober 1890 in Hannover geboren verstarb er im Ersten Weltkrieg nach einer schweren Verwundung in einem englischen Lazarett am 13. Oktober 1918.

Mehr Gedichte von Gerrit Engelke und zusätzliche Infos sind hier zu finden:

https://www.zgedichte.de/gedichte/gerrit-engelke.html

https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/engelke.html

https://vahrenwaldstories.podigee.io/2-gerrit-engelke

Heimkehr (1917)

Den fremden Ackerländern abgewandt,
Dem Dorf ein mürrisch »Gute Nacht« hinsagend:
Lenkst du zurück zur Stadt.
Es hinkt und stolpert dein beschwerter Schritt.
Horch hoch:
Die Telegraphendrähte brummen, summen mit!
Ein Licht blüht auf im Straßenkot,
Ein zweites, ein drittes im Dämmerrot;
Und plötzlich:
Lichterkreisend, lichterdunstig loht
Gehäufter Himmel über Mauern schwer!
Die Luft durchschüttert Atemstoß-Geschnauf;
Dich fassend schwillt herauf:
Der große Qualm- und Räderton!

Nun hat die Stadt dich angerührt,
Du hast der pauselosen Pulse Hieb gespürt,
Und alle Wucht, die dort bezwungen noch gewittert,
Macht, daß dein Blut in neuem Rhythmus zittert!
Es klopft an deines Leibes Wandung
Die monotone Brandung:
Dampf
der von Flüssen zehrt,
Dampf
der die Kraft vermehrt,
Kraft
die um Achsen saust,
Kraft
die den Rhythmus braust,
Von befahrnen Doppelschienen hallt,
Und mit muskelwilder Taktgewalt
Glut in deine Glut verschweißt,
Dich ins übervolle Leben reißt. –

Du kamst aus Einsamkeit –
Hier ist Gemeinsamkeit!
Hier rast die Stundenzeit
Durch aller Menschen Werk-Verbundenheit.
Tritt ein!

Aus: Engelke, Gerrit: Gesammelte Werke. 2014, online unter:  

https://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&AN=2291316 (zuletzt aufgerufen am 23.3.2024).

Interpretation zu Heimkehr von Gerrit Engelke

In Heimkehr wird die zur damaligen Zeit zunehmende Industrialisierung und Mechanisierung in den Städten angesprochen. Die daraus resultierenden schlechten Bedingungen für Arbeiter werden transformiert in ein Gemeinschafts- und Verbundenheitsgefühl, das mit zunehmender Beschleunigung und Vereinnahmung einhergeht. In der ersten Strophe wird mürrisch (V. 2) Abschied vom Dorfleben genommen. Man begibt sich zurück zur Stadt hin und kann sie von weitem hören, riechen und sehen. Die Stadt nimmt die Sinne ein, die gesamte Wahrnehmung des lyrischen Ich bzw. vom Menschen allgemein wird von der Stadt in Anspruch genommen. Telegraphendrähte brummen, summen (V.6) und Licht blüht auf im Straßenkot (V. 7) bzw. Dämmerrot (V. 8) Hier schwingt aber auch eine gewisse Negativität mit, rümpfen wir bei dem Gedanken an Kot die Nase, mag das Dämmerrot wie eine ferne Warnung in der Signalfarbe erscheinen. Am Horizont sind die Gebäude zu erkennen und auch der durch die Fabriken entstandenen Qualm ist zu riechen, der Lärm hörbar und lauter, je näher man der Stadt kommt.

Mechanisierung des Menschen

Ich erkenne im Atem-Geschnauf (V. 12) sowie dem Qualm- und Räderton (V. 14) eine Vermischung des Menschen mit den Maschinen bzw. eine Überblendung, welche den Menschen zur arbeitenden Maschine werden lässt, jedoch auch die Maschine zu einem Lebewesen macht. Zugleich aber hallen die Wörter nach, klingen an und formen das Bild, der sich immerzu bewegenden, schnaufenden, qualmenden, atmenden, rädernden und lebenden Maschine, die mit und von und durch Menschen ernährt wird. Was ebenfalls mitschwingt sind Möglichkeiten, Optionen von Kraft und Macht und Verbund – Schöpfung. Der Mensch war es, der die Maschine erschaffen hat wie ein Gott. Im Zusammenklang mit der Maschine wiederum erlangt der Mensch etwas von dieser mechanischen Kraft, dieser gewaltigen Stärke, die er sich zu Eigen macht und daraus wiederum Neues erschaffen kann. Im Zustreben auf die Stadt schwebt die Hoffnung des Arbeiters auf Potenz im Schaffen und auf eine neue Macht, die auf dem Land nicht vorhanden war. Worin könnte sie liegen?

Heimkehr – In der Stadt angekommen

In der zweiten Strophe ist man angekommen und ordnet sich als Arbeiter dem Arbeiterleben in der Stadt unter. Man bekommt die Arbeit in den Fabriken zu spüren, die monotonen Arbeitshandlungen, die in gleichbleibenden Schritten vollzogen werden. Die Arbeit kostet Kraft, ist anstrengend, muss schnell und gleichmäßig erledigt werden. Auch die Maschinen arbeiten mit großer Kraft im Gleichtakt, sind jedoch niemals erschöpft. Bilder aus dem Film Metropolis steigen auf.

Allerdings wird auch klar, es handelt sich um eine Macht (V. 18), die Einfluss hat auf den Rhythmus (V. 18) des Menschen, ihn beeinflusst, eine Symbiose eingeht, positiv wie negativ.

Es klopft an deines Leibes Wandung

Die monotone Brandung:
Dampf
der von Flüssen zehrt,
Dampf
der die Kraft vermehrt,
Kraft
die um Achsen saust,
Kraft
die den Rhythmus braust, (V. 19-28)

Wenn Glut die Lebensader der Industrie, der Maschinen beschreibt, dann ist das in neuem Rhythmus erzitternde Blut (V. 18) nach der Begegnung mit der Maschinen-Industriewelt gleichfalls Glut (V. 31) geworden, die Dich ins übervolle Leben reißt. – (V. 32)

Ich vermeine hier Begeisterung zu spüren, eine ekstatische Begeisterung für dieses neue, pulsierende Leben abseits der Dorf-öden Einsamkeit (V. 33). Der Arbeiter verspürt durch die Arbeit mit und an der Maschine Macht, die er vormals nicht gekannt hat.

Heimkehr – Die Heimkehr aus der Einsamkeit in die Gemeinsamkeit

In der letzten Strophe wird klar: wer als städtischer Arbeiter in einer Fabrik arbeitet, wird zu einem kleinen Rädchen im großen Getriebe der Industrialisierung.

Du kamst aus Einsamkeit –
Hier ist Gemeinsamkeit!
Hier rast die Stundenzeit
Durch aller Menschen Werk-Verbundenheit. (V. 33-36)

Die Zeit vergeht schnell aufgrund der unermüdlichen Arbeit, welche von Menschen in ihrem Maschinen-Dasein in einer Werk-Verbundenheit (V. 36) wahrgenommen wird.

Es findet die bereits angesprochene Auflösung oder Transformation des Menschen zur Maschine statt und umgekehrt. Der Mensch wird ein Rad im Maschinengetriebe, wird getrieben von der Maschine ist zugleich Treiber – vielleicht Treiber auch anderer Menschen, vielleicht der Maschine oder Stoffe – und wird zum Werk in mehrfacher Hinsicht, ist zum bearbeitbaren Stoff geworden. Er wird in die maschinelle Verbundenheit eingeschweißt, wird zusammengelötet mit anderen Menschen in einem Verbund aus Stahl, Drähten und Leitungen, Fleisch und Haar – es wird alles zur Werk-Verbundenheit (V. 36). Die rasende Stundenzeit (V. 35) zeigt den immer schneller werdenden Verschleiß der menschlichen Lebenszeit an, hier jedoch nicht anklagend oder kritisierend, sondern elektrisierend, pulsierend, vereinnahmend und gemeinschaftlich verbunden. Die Gefahr der Vereinnahmung ist da, doch die Bewunderung, fast schon Ehrfurcht vor den kraftstrotzenden und mächtigen Maschinen und ihrem Potenzial, die von Menschen gebaut und von Menschen bedient in ihrem strotzenden Gleichklang so viel erreichen können – überwiegt.

Die zwei Seiten der Industrialisierung

Engelke hat also die zunehmende Industrialisierung in den Großstädten beschrieben und den Maschinenklängen im Rahmen der Vereinnahmung des Individuums in seinem Gedicht Ausdruck verliehen. Das revolutionäre Potenzial einer Arbeitergemeinschaft ist implizit, die Schlagkraft einer Masse von Arbeitern, die im Gleichtakt arbeiten wie es die Maschinen tun, kann Veränderungen forcieren. Gerade der historische Hintergrund vor dem Ersten Weltkrieg, die herrschenden Diskurse und politischen Strömungen werden hier sichtbar, doch ist hier explizit die Perspektive des Proletariats angesprochen. Meiner Ansicht nach wird an einigen Stellen bewundernd und ehrfurchtsvoll die Kraft und die Stärke der Industrie festgestellt, etwa wenn Engelke die Ausdrücke Kraft (V. 25, 27) und Dampf (V. 21, 23) benutzt. Wiederholung und Parallelisierung verstärken die Worte und sie stehen schließlich auch jeweils allein. Kraft. Dampf. UMPF! Damit könnte aber auch die Gewaltigkeit, die Gewalt der Maschinen unterstrichen werden, die zur damaligen Zeit wie stählerne Höllenungeheuer erscheinen mussten mit ihrem Getöse, ihrer Größe und unmenschlichen Kraft.

Kraftvolle und energetische Bildsprache

Auch verwendet Engelke viele ausdrucksstarke Begriffe, die sehr präzise sind hinsichtlich ihrer bildhaften Sprache. Die vertraute und direkte Ansprache der Rezipienten mit du vermittelt verschiedene Sinneseindrücke, die ebenfalls der Bildhaftigkeit dienen und die Vorstellungskraft beflügeln. Zum Beispiel heißt es in der zweiten Strophe:

Dampf
der von Flüssen zehrt,
Dampf
der die Kraft vermehrt,
Kraft
die um Achsen saust,
Kraft
die den Rhythmus braust, (V. 21-28)

Außerdem geht in dem persönlichen du die benannte Menschen Werk-Verbundenheit (V. 36) auf, in der sich alle verbunden fühlen, vertraut sind miteinander, nicht mehr einsam wie auf dem Dorfe. Die erwähnte Bildhaftigkeit greift dabei auch die menschliche Wahrnehmung, die Sinneseindrücke auf, wenn die Luft durchschüttert [wird von] Atemstoß-Geschnauf (V. 12) oder daß dein Blut in neuem Rhythmus zittert! (V. 18) oder die Glut maschineller muskelwilder Taktgewalt (V. 30) sich mit menschlicher Glut verbindet (V. 31).

Werk-Verbundenheit oder Ich-Zerstörung?

Ein vielfach im literarischen Expressionismus aufgegriffenes Thema ist die Ich-Zerstörung oder Auflösung, Entgrenzung des Individuellen in der Masse oder in grenzüberschreitenden Erfahrungen, welche die Modernisierungen der Welt mit sich bringen. Häufig wird in diesem Kontext zudem das Ohnmachtsgefühl der damaligen Zeit angesprochen, das Leiden an Sinnleere und Beziehungslosigkeit, die Korruptheit von Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. In Heimkehr wird diese Ich-Auflösung zwar aufgegriffen, jedoch ins Positive verkehrt, sie wird zur Verbundenheit, zu einer Gemeinschaftlichkeit im Einklang des Maschinentaktes, der durch die Industrialisierung vorgegeben wird. Die Verbundenheit in der Maschinen-Masse stellt die Macht des Proletariats dar, hier wird der Mensch Maschine, wird zur schlagkräftigen Einheit. Wer sich in einen Verbund begibt, der lässt Anteile seiner Individualität fahren. Zum Beispiel verheißt der Titel doch schon hinsichtlich seiner Semantik ein wohliges Verbundenheitsgefühl im Heim, im Zuhause, im Wiederfinden der vermeintlich verlorengegangen Heimat mit der Heimkehr, deren gefühlte Verbundenheit am Ende der dritten Strophe erlangt wird.

Das durch Gewalt geformte Individuum

Dabei wird keine direkte Kritik an der Industrie und ihren menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen geübt, sondern die Einzelerfahrung des Arbeiters mit maschineller Arbeit in Einklang gebracht und der Verbund sowie die daraus resultierende Stärke betont. Dann erscheint diese Integration in den maschinellen Gleichklang durch die pauselosen Pulse Hiebe (V. 16), die gespürt werden und die Macht, die das Blut in neuen Rhythmus zittern lässt (V. 18) und an den Leib klopft (V. 19) als Gewaltanwendungen, die das Individuum bearbeiten, ähnlich wie eine Maschine den harten Stahl bearbeitet und ihn unter Hitze und Druck passend presst und formt. Die zweite Strophe dient insofern dem Übergang aus der Einsamkeit in den Maschinenverbund, der aber nicht ohne die benannten externen Gewalteinwirkungen vonstattengeht, unter denen der Mensch, das Individuum wie ein Stück Stahl gebeugt wird. Und ähnlich wie ein Stück Metall mit Werkzeugen solange bearbeitet wird, bis es die richtigen Maße für die Maschine besitzt, in der es eingesetzt wird, so ist auch der Mensch zuletzt durch die Erfahrung und die Wahrnehmung in der städtischen Industrie geformt und verwandelt worden und kann eintreten in den Menschen Werk-Verbund (V. 36-37).

Subjektive Lesart möglich?

Das Fazit in der dritten Strophe kann ich auch als eine Provokation erkennen, da hier Hintergründe aufgedeckt und das innere Wesen der Industrialisierung indirekt kritisiert sowie die Auflösung des Individuums im Industrieprozess dargestellt wird. In diesem Sinne lese ich aus der letzten Strophe eine ironische Aufforderung und Provokation, die den Arbeiter ‘lockt’, sein Leben der Maschinenwelt unterzuordnen, sich also sozusagen selbst aufzugeben. Die hoffnungsvolle Selbstaufgabe, die allerdings an das hier positiv konnotierte Motiv der Heimkehr geknüpft ist, gelingt im Aufgehen und Eintreten in den Verbund zuletzt. Es kommt also auf die Lesart an und natürlich auf den historischen Kontext sowie den jeweiligen Autor. Doch diesbezüglich ist Vorsicht hinsichtlich solcher determinierenden Aussagen geboten. Literatur ist derart gestaltet, dass sie viele Blickwinkel und Perspektiven auf ihre Form zulässt. Und gerade die Betrachtung aus unterschiedlichen Sichtweisen und Wissensständen heraus bringt Optionen und Erkenntnisse, die nicht opponieren müssen, sondern sich gegenseitig ergänzen und bereichern.

Insofern – ein Fazit

Auch wenn Heimkehr alles in allem dem Arbeiterleben im Gleichklang der Maschinen positiv gegenübersteht, so kann ich darin auch die provokative Darstellung der Selbstzerstörung durch die Industrialisierung sehen. Denn wer gerne einsam ist, wer seine Individualität behalten will und wer das Opfer der Transformation nicht bringen will, um einzutreten in die Menschen Werk-Verbundenheit, der folgt eben nicht dem letztendlichen Tritt ein! (V. 37). Denn wohl überlegt sei der Schritt in die Stadt. Als Arbeiter gibt es Pflichten zu vertreten, wird eine Lebensart verkörpert, von der einiges mehr verlangt wird, also nur die körperliche Anstrengung. Es geht eben auch um die im Stand enthaltene Sprengkraft für einen gesellschaftlichen und allesumgreifenden Wandel, wie er gerade in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg umging und auch die Arbeiter erreichte, die sich in Gemeinschaften zusammenschlossen. Und eine Gemeinschaft kann neben Kraft auch Schutz bieten. Und auch Hoffnung. Denn die der Armut des Dorflebens oder anderen Lebensumständen entfliehen wollten, für die war die Integration, die Anpassung an die Industrialisierung der Städte möglicherweise die einzige Chance auf ein besseres Leben.

Und insofern sind auch in dem vordergründig die industriellen Bedingungen der Städte und damit einhergenden Potenziale bejahenden Verse und Aussagen des lyrischen Ichs ambivalent zu betrachten, mindestens aber doch dichotomisch – weil sie eine Wahl aufzeigen zwischen zwei Polen, die doch zu guter Letzt auch wieder der eigenen Wahrnehmung unterliegen.

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