Hey guten Morgen, wie geht es dir? – Alter, Ausbeutung, Depression, Sehnsucht

Der Planet Melancholia fegt die Erde weg.

Zuletzt bearbeitet am 15. Februar 2025

Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? wird oft zunächst mit dem Phänomen des Love-Scamming verbunden. Tatsächlich habe ich das auch in meinem Einführungsbeitrag zum Buch getan. Doch aufmerksame Leserinnen und Leser werden bei der Lektüre schnell bemerken, dass es um sehr viel mehr geht. Mich interessieren insofern diesmal neben den offensichtlichen Aspekten der kolonialen Strukturen (die ich auch in dem alten Beitrag angesprochen habe) im Roman die Themen Depression, Sehnsucht, Alter, Frauen, Wagners Vorspiel aus Tristan und Isolde, Lars von Triers Film Melancholia von 2011 im Zusammenhang mit Martina Hefters Hey guten Morgen, wie geht es dir? und einigen Ansichten der bereits verstorbenen US-Autorin Susan Sontag.

Eine kurze Inhaltsangabe von Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Juno Isabella Flock ist Künstlerin, tanzt und spielt Theater. Sie lebt zusammen mit ihrem an Multiple Sklerose erkrankten Mann Jupiter in Leipzig und kümmert sich um ihn. Nachts leidet sie an Schlaglosigkeit und chattet mit Love-Scammern. Wo andere Frauen Opfer der Manipulationstaktiken werden, lügt Juno dreist zurück und erlebt neben den Pflichten und Sorgen des Alltags eine Art eskapistische Euphorie. Doch dann begegnet sie dem Scammer Benu, mit dem sie sich allem Anschein nach authentisch und tiefgründig unterhalten kann. Doch wie echt und wahrhaftig kann ein solcher interkultureller Austausch überhaupt sein, wenn Juno doch weiß, dass Benu einer dieser Liebeslügner ist? Es geht in Hey guten Morgen, wie geht es dir? daher gerade im Zusammenhang mit dem Thema Love-Scamming um Sehnsüchte, um das Altern, um Euphorie und Melancholie, um Liebe und um die Kunst der Wahrheit und der Fiktion, das Lügen und daraus hervorgehende Erkenntnisse und es geht auch um die Bewältigung und/oder das Ausleben einer Depression im Angesicht des Lebens mit dem Wissen um den Tod, der irgendwann kommt. Autofiktionale Elemente sind ebenfalls vorhanden, immerhin der Vergleich von Jan Kuhlbrodt, dem ebenfalls an Multiple Sklerose erkannten Ehemann von Martina Hefter gefiel laut Nachwort der Vergleich mit dem fiktiven Ehemann Jupiter. (siehe: Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 221.)

Informationen zur Autorin Martina Hefter

Martina Hefter (geboren 1965 in Pfronten) ist eine deutsche Autorin, Dichterin und Performance-Künstlerin. Sie lebt in Leipzig und arbeitet als ausgebildete Tanzlehrerin als Performancekünstlerin und Autorin. Sie studierte am Literaturinstitut in Leipzig, wo sie seit 1997 wohnt. Ihren Debütroman Junge Hunde hat sie bereits 2001 veröffentlicht. Neben anderen Roman hat sie viele Gedichtbände bei kooksbooks veröffentlicht, darunter Vom Gehen und Stehen (2013) und Es könnte auch schön werden (2018). Das „Ihr Werk gilt als intermedial und stellt Bezüge zu anderen Kunstgattungen, Medien, Diskursen sowie ihrer eigenen Biographie her. Viele ihrer Figuren sind Tänzerinnen oder Choreografinnen; die Namen ihrer Figuren kommen meist aus der Mythologie. Häufig thematisiert sie „den Zusammenhang von Körper, Bewegung und Sprache“ (KLG, 1.1.2022) in ihren Romanen, Gedichten und Performances.“[1] Martina Hefter hat mehrere Gedichtbände und Romane veröffentlicht, die durch ihren innovativen und experimentellen Umgang mit Sprache und Form auffallen. Laut dem Munzinger Personenlexikon sprengt sie in ihren lyrischen Texten immer wieder Gattungsgrenzen. In ihren Arbeiten setzt sie sich häufig mit alltäglichen Themen auseinander, die sie in poetische und performative Kontexte bringt. Dabei spielt die Verbindung von Sprache, Körper und Emotionen eine zentrale Rolle. Hefters Texte zeichnen sich durch eine moderne, oft körperlich und emotional geprägte Ausdrucksweise aus, die das Alltägliche auf neue, künstlerische Weise interpretiert. Sie hat viele Preise erhalten und zuletzt mit Hey guten Morgen, wie geht es dir? neben dem Deutschen Buchpreis auch den Literaturpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden, den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds, und den Prix Grand Continent gewonnen.

Die Verbindung von Lars von Triers Film Melancholia und Martina Hefters Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Wie bereits erwähnt, belügt Juno die Lügner, die Love-Scammer, indem sie sich fiktive Identitäten ausdenkt und nicht auf deren Fragen nach einer Ehe und Kindern antwortet, sondern einfach drauflosschreibt. Und in einem solchen digitalen Dialog, der eigentlich ein Monolog zum Dampfablassen ist, denn Juno hat gar nicht vor, sich auszutauschen, erwähnt sie den Film Melancholia:

Gestern sah ich einen Film, Melancholia,
kennst du den? Ein Planet kracht in die
Erde, es geht nicht gut aus. Es gibt zwei
Schwestern, Claire und Justine. Einmal sagt
Justine, es ist gut, wenn die Welt untergeht,
und Claire ist fassungslos deswegen.
Wie kannst du so kalt sein, Justine, ey,
wir sterben hier, und du sagst, ist doch in
Ordnung?
Oder als Claire merkt, sie kann John nicht
Vertrauen. John ist Claires Mann, ein Hobby-
Astronom. John sagt, Melancholia wird an
Der Erde vorbeiziehn, keine Angst. John irrt,
der Planet kommt zurück, dreht um. Claires
Panik, Justines Ruhe kurz vor dem Aufprall
des Planeten, Claire drückt im Garten
schützend ihren Jungen an sich.


Melancholia, ist das nicht ein schöner
Name für einen verirrten Planeten? Ich hör
die Filmmusik oft zum Spazierengehen.
Manchmal denke ich wie Justine, so eine
Kollision mit einem Planeten oder Kometen,
das wär’s.
Aus: Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 12.

Der Planet Melancholia fegt die Erde weg.
Trier, Lars von: Melancholia [Film]. Denmark, Sweden, France, Germany 2011. Zentropa Entertainments, Memfis Film, Slot Machine, Liberator Productions, Film i Väst, Danmarks Radio, Arte France Cinema, Sveriges Television, Canal+, Centre national du cinéma et de l’image animée, CinéCinéma, Edition Video, Nordisk Film, Det Danske Filminstitut, Eurimages, Swedish Film Institute, Filmstiftung Nordrhein-Westfalen

Was hat es mit Melancholia auf sich?

Melancholisch, das ist jeder irgendwann einmal. Melancholie ist insofern eine Emotion, ein Seinszustand. Melancholia ist auch ein Film (2011) von Lars von Trier. Der Däne beschwört das Ende der Menschheit herauf, indem er den Planeten Melancholia mit der Erde kollidieren und sie auslöschen lässt. Ich persönlich kann nicht nachempfinden, wie sich eine Depression anfühlt. Ich denke, die Phasen an Liebeskummer oder Trauer, die ich erlebt habe, sind nicht vergleichbar mit einer Depression, einer alles durchdringende Hoffnungslosigkeit – so fasse ich das in Worte. Chat GPT erklärt es mal wieder besser: „Eine Depression ist eine ernsthafte psychische Erkrankung, die durch anhaltende Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und ein allgemeines Verlustgefühl von Freude und Energie gekennzeichnet ist.“ Jedenfalls, um einfach eine These vorwegzuschießen, geht es neben der Auseinandersetzung mit Wechselphänomenen kolonialer Strukturen in Hey guten Morgen, wie geht es dir? auch um die Auseinandersetzung mit sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen. Juno stellt Gemeinsamkeiten zur Protagonistin Justine aus Melancholia fest, die an einer ausgeprägten Depression leidet. Bei Justine basiert die Depression auf einer Sinnkrise und ihren traumatischen familiären Beziehungen, bei Juno kommt das Altern hinzu, die Situation zuhause, die Reflexion über das vergangene Leben und wieviel da noch kommt. Das Alter einer Frau über fünfzig, die nicht mehr ganz so privilegiert ist und laut Statistik noch ungefähr dreiundzwanzig Jahre zu leben vor sich hat, wenn alles gut geht. (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 43)

Depression im Film Melancholia

Vielleicht ist es von Vorteil, wenn ich kurz auf die Dynamiken zwischen dem Roman und dem Film eingehe. Melancholia erzählt die Geschichte zweier Schwestern, Justine und Claire, die auf unterschiedliche Weise mit einer bevorstehenden Zerstörung der Erde durch den Planeten Melancholia umgehen. Während die unter Depressionen leidende Justine mit einer fatalistischen Ruhe reagiert, versucht die pragmatischere Claire verzweifelt, sich und ihre Familie zu retten. Für den Filmmaker interviewte Sophie Monks Kaufman Manuel Alberto Claro, der als Kameramann für Lars von Trier bei Melancholia arbeitete. Sie stellt fest, dass Melancholia der wirkmächtigste Film über Depressionen sei, den sie gesehen habe.[2] Laut Claro ist der Film das Porträt einer Depression, es sei ins Material eingeschrieben. Lars von Trier habe über depressive Menschen gesprochen, die in kritischen Situationen ganz rational sein könnten, während andere Leute in Panik gerieten. „This is a portrayal of how depressed people know that the world is going down, so they react much more rationally when it happens.“[3] Diese Dynamik wird zum einen an der Zweiteilung des Films offenbar zum anderen diametral an den Figuren, den Schwestern Justine und Claire, dargestellt. Im ersten Teil weist Claire Justine ständig auf ihrer eigenen Hochzeit zurecht, sie solle sich zusammenreißen, keine Szene machen und dergleichen, wobei die Hochzeit letztlich in der Katastrophe endet. Mitunter wird Justines Zustand hier bereits deutlich. Im zweiten Teil, bewahrt Claire ihre Hoffnung, wohingegen Justine weiß, die Erde ist verloren. Und während sie dem Ende ruhig und gelassen entgegensieht – fast schon entgegenstrebt – hat Claire einfach nur Angst. Claire will nicht sterben, Justine weiß – das ist unausweichlich. Und damit wären wir bei der Thematik der Sehnsucht, der Unausweichlichkeit und Wagners Vorspiel aus Tristan und Isolde.

Der narrative Sound in Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Juno stellt fest:

Auch in Melancholia schneite es plötzlich, begann ein Winter kurz vor dem Einschlag. Das Prelude zu Tristan und Isolde von Richard Wagner wurde für den Melancholia-Soundtrack stark bearbeitet, zum Beispiel kam das Cello im Original nicht vor. Noch immer musste sie das Prelude hören, draußen auf der Straße, wenn sie auf ihr spazierte.
Aus: Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 122.

Juno schämt sich übrigens dafür, dass sie Wagner hört, kann es aber nicht stoppen. Angeblich soll Hitler Wagners Stück ganze vierzigmal gesehen haben. Dafür kann Wagner aber nichts, ebenso wenig für die Instrumentalisierung seiner Musik. Er hat’s halt voll draufgehabt – das hört jeder. Auch nationalsozialistische Deppen. Wie auch immer, ein Hörbeispiel aus Melancholia soll dem Erkenntnisgewinn der hier behandelten Thematik zuträglich sein:

Relevant sind meines Erachtens nach Junos Emotionen, die bei ihren nächtlichen Straßenspaziergängen aufkommen. Dann hört sie Musik mit den In-Ears und weint dabei:

Ab und zu machte sie das ganz gern, auf der Straße weinen. Oft hemmungslos, wenn wirklich niemand zu sehen war, dann ließ sie die Tränen einfach laufen. Kamen ihr Leute entgegen, war’s ein guter Sport, das Weinen rechtzeitig zu stoppen.
Aus: Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 38.

Es wird in Hey guten Morgen, wie geht es dir? durch Junos musikalische Präferenz und ihren emotionalen Ausbrüchen, ihrem Seinszustand – wenn man so will – eine Verbindung zwischen der Musik von Wagners aus Tristan und Isolde und dem Film Melancholia aufgemacht. Das Vorspiel ist insofern als musikalisches Hintergrundrauschen nicht nur im Roman als narratives Hintergrundrauschen vorhanden, sondern auch im erwähnten Film akustisch präsent. „Im gesamten Film erklingt immer wieder das Orchestervorspiel zu Richard Wagners Tristan und Isolde. In 29 Minuten des 130-minütigen Films ist die Musik Wagners zu hören und begleitet dementsprechend fast 23 % des gesamten Films. Noch einmaliger erscheint die Adaption, wenn man bedenkt, dass (nahezu) das gesamte Tristan-Vorspiel in der Eingangssequenz erklingt und die Tristan-Musik die einzige nicht-diegetische Musik darstellt.“[4]

Zu Tristan und Isolde – Sehnsucht

Wir erinnern uns: Tristan, da wird beim mittelalterlichen Dichter Gottfried von Straßburg um 1200 neben den Heldentaten des musisch begabten und kampferprobten Wunderkindes Tristan eine durch einen ‘versehentlich’ verabreichten Liebestrank (als ob man Liebe jemals planen könnte, ts) ausgelöste heftige Ehebruchsliebe dargestellt – Tristan und Isolde müssen sich lieben, entgegen Isoldes Ehe mit König Marke. Ja, die Fallhöhe ist aufgrund der adeligen Abstammung deutlich höher als heute. Mit dem Liebestrank wird die heftige Leidenschaft erklärt, die Schuld also verschoben, weil sich die Ehebrecher wegen diesem magischen Gebräu lieben müssen. Bei Wagner und seiner Neuauflage von Tristan und Isolde gibt es noch einen Todestrank, mit dem eine Opposition geschaffen wird zwischen Liebe und Tod bzw. der Erfüllung der Liebe erst im Tod als eine Art Befreiung, weil Tristan und Isolde ihre Liebe in der Welt nur entgegen der gesellschaftlichen Normen ausleben dürfen. Das tun sie bei Gottfried ja auch – erst heimlich, und nach der Entdeckung dann abseits der höfischen Gesellschaft im Wald, allerdings in einer wunderschönen Lustgrotte (ja, ich nenne es nicht einfach nur Höhle). Interessanterweise haben wir in Melancholia im ersten Teil auch eine Hochzeit – Justines Hochzeitsfeier, die sich als Desaster herausstellen wird, noch bevor der Abend vorbei ist. Sie versucht, trotz ihrer Depression an ihrer Hochzeit teilzunehmen. Das gelingt ihr nicht. Ihre Depression lässt sie die Welt als sinnlos wahrnehmen und sie erkennt, dass sie nicht in die Erwartungen der Gesellschaft passt. Das Schloss, die Limousine, der perfekte Mann, die vielen privilegierten Gästen, eine feine Hochzeitsgesellschaft; doch zerbricht alles um sie herum. Das Ende der Welt, das durch den Planeten Melancholia eingeleitet wird, spiegelt Justines innere Verzweiflung – ich meine, der Name spricht doch für sich. Sie sehnt das Ende herbei, denn es bedeutet für sie Erlösung von der Qual des Lebens, verursacht durch die Depression, die wohl auch mit sämtlichen gesellschaftlichen Zwängen zusammenhängen. Hier liegt neben der musikalischen Essenz, dem Herbeisehnen des Todes, der hinstrebenden Sehnsucht zum Ausgelöscht-werden die Gemeinsamkeit zwischen Tristan und Isolde und der Figur Justine. Es ist das Korsett des Lebens, das Sehnsucht auslöst, die sich nicht erfüllen kann. Das Bild auf dem Intro für den Soundtrack, das ich verlinkt habe, erinnert übrigens an eine bekannte Szene aus der Literatur. Wer weiß es?

Genau! Ophelias Tod aus Shakespeares Hamlet. Ophelia ertrinkt inmitten von Blumen in einem Bach. Jedenfalls gibt es eine ähnliche Szene in Melancholia. Justine gleitet in ihrem Hochzeitskleid, den Strauß Blumen in der Hand, auf dem Wasser dahin, den Blick direkt ins Publikum gerichtet. Die Referenz auf das Gemälde Ophelia von John Everett Millais ist deutlich. Doch weiter zunächst mit Wagners Prelude, dem Vorspiel aus Tristan und Isolde, das ja in Hey guten Morgen, wie geht es dir? indirekt immer wieder aufgegriffen wird.

John Everett Millais - Ophelia - Google Art Project.jpg
John Everett Millais – Ophelia – Google Art Project.jpg, https://artsandculture.google.com/asset/-wGU6cT4JixtPA

Der Tristan-Akkord und seine Rolle im Film Melancholia

Das Vorspiel von Wagners Tristan und Isolde ist ein Schlüsselstück der Oper und extrem bedeutend. Es ist rein instrumental und dient dazu, die emotionale Welt und die zentralen Themen der Oper einzuführen – vor allem Sehnsucht, Verlangen und die Unerfüllbarkeit der Liebe. Diese Spannungen werden durch Wagners Musik intensiv ausgedrückt, vor allem durch den sogenannten Tristan-Akkord, der immer wieder auftaucht und eine schwebende, nie aufgelöste Harmonie erzeugt. In der Oper steht dieser Akkord symbolisch für das Verlangen, das zwischen Tristan und Isolde niemals wirklich erfüllt werden kann, weil es von Konflikten und gesellschaftlichen Hindernissen überschattet wird. Das ist der Tristan-Akkord.

Uuuunnheilsschwanger – ist das Wort, das mir dazu einfällt. Das passt auch zu Justine in Melancholia: Sie empfindet eine tiefe innere Spannung, eine Art Sehnsucht, die sie weder ausleben noch auflösen kann, was sich in ihrer Depression spiegelt. Sie will ihre Hochzeit feiern, aber schnell wird klar – sie fühlt sich fehl am Platz. Sie will dazugehören, sich anpassen, glücklich sein, aber sie schafft es einfach nicht. Tristan und Isolde haben keine Depression, hier geht es um die Übertragung der Sehnsucht – sie wollen aus den gesellschaftlichen Zwängen ausbrechen und ihrer Sehnsucht, der Liebe, folgen. Weil das nicht geht, entsteht auch Hoffnungslosigkeit. Diese Spannungen können erst im Tod aufgelöst werden. Das Vorspiel ist also nicht nur eine musikalische Einführung, sondern ein musikalisches Abbild des zentralen Themas der unerfüllten Sehnsucht. Es ist quasi der emotionale Kern der Oper, analog zur inszenierten Darstellung – und durch seine Verwendung in Melancholia wird diese Stimmung auf den Film übertragen. Und weil Juno eben diese Musik bei ihren emotional aufgeladenen nächtlichen Spaziergängen hört, darf schlussgefolgert werden, dass sich in ihr ebenso eine entsprechende Spannung, eine Sehnsucht, eine Hoffnungslosigkeit aufgebaut hat. Die Musik untermalt in Hey guten Morgen, wie geht es dir? also indirekt das unterschwellige Thema des Romans, eine Depression, geboren aus Sehnsucht.

Sehnsucht, Euphorie und Depression in Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Jetzt endlich komme ich auch zu den Zusammenhängen mit dem im Roman so offensichtlichen Love-Scamming. Juno ruft sich im Vergleich mit dem Love-Scamming und ihren vertrauter werdenden Gesprächen mit Benu einen Dialog aus dem Film auf, der im Zusammenhang mit der Gewissheit um die Zerstörung des Planeten steht.

Claire, in Melancholia, ließ die Gewissheit nicht an sich ran, dass der Planet die Erde treffen würde.
Im Internet sah sie Berechnungen seiner Bahn. Es hieß, Rettung sei nicht mehr möglich.
Aber Claire wollte lieber John glauben, ihrem Mann. John hatte ein Teleskop gekauft und es freudig im Harten aufgebaut, ein Hobby-Teleskop, mittelgroß, ambitioniert, aber nicht unbedingt tauglich für Gewissheit.
John sagte, Melancholia befände sich auf dem Rückweg ins äußere All. Als er selbst nicht mehr glaubte, was er gesagt hatte, schluckte er Tabletten, ging schlafen für immer.
Claire fand ihn im Stall bei den Pferden.


Claire: Ich hab Angst vor diesem blöden Planeten.
John: Er wird uns nicht treffen.
Claire: Versprochen?

Ältere Frau: Du bist doch echt, Scammer?
Scammer: Ja natürlich.
Ältere Frau: Versprochen?
Aus: Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 84.

Ich sehe als Thema hinter diesem Dialog: Sehnsucht! Im Film handelt es sich um die Sehnsucht nach einer Welt, die nicht durch Melancholia bedroht wird (die übertragene große Depression), die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Ausleben der eigenen Bedürfnisse und einem Gesehenwerden, Normalität (sofern es das überhaupt gibt) und im Buch ist es die Sehnsucht nach einer wahrhaftigen Liebesbeziehung, die Scammer vorgaukeln. Nun sind ja vom Love-Scamming meist älteré Frauen betroffen und es geht in Hey guten Morgen, wie geht es dir? auch um das Altern. Explizit wird das Thema an der Figur Juno inszeniert und von ihr monologisch reflektiert. Wie darf ich sein, was darf ich tun, was geht, was geht nicht, wie geht es mir dabei und – aus irgendeinem Grund eine wohl verdammt wichtige Frage – wie sehen andere mich?!

Das Altern – Sehnsucht und Melancholie in Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Über fünfzig ist Juno Isabella Flock – und damit laut eigener Aussage nicht mehr ganz so privilegiert (S. 43). Und Juno vergleicht sich mit anderen, zum Beispiel mit ihren jüngeren Kollegen Tristan und Phoebus, beide Ende dreißig. Es tauchen allerhand Fragen auf. Was darf sie eigentlich in ihrem Alter noch tragen oder tun?
„Ob sie das alles noch konnte: sprechen, tanzen, ein Kostüm tragen. Eine mit blauen Pailletten bestickte Kapuzenjacke, die in den Lichtstrahlen leuchtete.
Ob sie das in ihrem Alter alles noch durfte, diese glitzernde Jacke tragen. Ein paar Moves machen, die sie selbst choreografiert hatte.
Vielleicht war es lächerlich.“
Aus: Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 48.

Sie macht sich in Gesprächen drei Jahre jünger, beschäftigt sich mit Make-up-Tipps und kosmetischen Eingriffen. Auch Madonnas Gesichts-OP wird thematisiert – eine Frau versucht, das Altern durch kosmetische Eingriffe aufzuhalten. (S. 148-149). Wann gelten Frauen als alt, was ist angemessen für das Alter, wie bewerten andere die jeweiligen Altersphasen und und und – Juno denkt für alle, Juno denkt, was im kulturellen Kanon vorkommt und sie chattet mit Love-Scammern und weiß, dass „[a]lle Frauen, zum Beispiel, die auf die Scammer reinfielen, wollten die Wahrheit nicht sehen, obwohl sie sie eigentlich längst kannten.“ (S. 113.)

Tatsächlich habe ich diesbezüglich wohl eine andere Wahrnehmung. Anscheinend muss man aber heutzutage bereits mit 25 Angst vor dem Älterwerden haben. Soll ich darüber lachen, oder es ernst nehmen? Das betrifft mich als Frau schließlich auch. Schauen wir, was Susan Sontag dazu zu sagen hat. Ich hatte vor einigen Wochen ihren Essay Zweierlei Maß. Altern ist nicht gleich Altern[5] gelesen. Susan Sontag ist schonungslos offen und sie trifft meines Erachtens nach ziemlich genau ins Schwarze. Wie alt ist der Essay? Von 1972. Das sind über 50 Jahre und was sie schreibt ist aktuell. Das erkennt man an der literarischen Aufbereitung von Martina Hefters erfolgreichen Roman.

Susan Sontag, das Altern und Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Susan Sontag (1933–2004) war eine US-amerikanische Schriftstellerin, Essayistin, Regisseurin und Kulturkritikerin, bekannt für ihre Auseinandersetzung mit Kunst, Literatur, Fotografie und politischen Themen. Sie thematisierte in ihrem Essay Zweierlei Maß von 1972, dass Frauen beim Älterwerden einem stärkeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind als Männer. Sie kritisierte, dass die Attraktivität von Frauen eng mit Jugendlichkeit verknüpft werde, während Männer auch im Alter als attraktiv und kompetent wahrgenommen würden, wodurch ein doppelter Standard entstünde. So spricht sie von einem „Demütigungspotenzial[6] (ein sehr schönes Wort), wenn Frauen nach ihrem Alter gefragt werden, wobei solche eine Frage von Männern stellt bedrohlicher ist als von einer Frau, da diese Leidensgenossinnen seien.

„Nach der Kindheit wird das Geburtsjahr einer Frau zu ihrem Geheimnis, ihrem Privatbesitz. Es ist eine Art schmutzige Geheimnis. Aufrichtig zu antworten ist immer indiskret.“[7]

Das ist hart.
Es geht weiter.

„Besonders Frauen erfüllt das Älterwerden (also alles, was von dem wahren Alter kommt) mit Abscheu, ja sogar Scham.“[8]

Neben Verweisen auf die verblassende Schönheit der Frauen (Juno erwähnt Kosmetika und Schönheits-OPs auch) und einem Rundumschlag auf die beruflichen Aussichten von Frauen geht es auch um das Leugnen des Alters, das immerhin Juno auch macht.

„Im Leugnen ihres wahren Alters drückt sich exemplarisch die Korrumpierung der Frauen aus. Sie stimmen damit symbolisch allen Mythen zu, die ihnen zu ihren einengenden Sicherheiten und Privilegien verhelfen, die ihre reale Unterdrückung begründen und ihre echte Unzufriedenheit verursachen. Jedes Mal, wenn eine Frau über ihr Alter lügt, wirkt sie aktiv daran mit, dass sie als Mensch unterentwickelt bleibt.“[9] BÄM!

Ich möchte jetzt aber wieder zum Thema Sehnsucht zurückkehren und auch den Bogen zum Love-Scamming schlagen.

Die Wahrheit und die blinde Sehnsucht nach Liebe

„All die Frauen, zum Beispiel, die auf die Scammer reinfielen, wollten die Wahrheit gar nicht sehen, obwohl sie sie eigentlich längst kannten.“ (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 113)

Warum? Nun, weil es ein Geben und Nehmen ist, ein Tauschgeschäft quasi mit Sehnsüchten und deren vermeintlicher Erfüllung. Die Frauen gewinnen etwas, weil sie die Wahrheit nicht erkennen wollen. Oder nennt man das etwa Ausbeutung für La Dolce Vita? Dazu später mehr. Juno dagegen ist viel zu aufgeweckt, viel zu intelligent, viel zu luzide, viel zu wahrheitsliebend, als dass sie die Augen verschließen würde, könnte, wollte. Sie kann Lügen benennen, Halbwahrheiten aufdecken, sich selbst erkennen. Das ist eine Bürde. Oder ist es eine Erlösung? Wir als Lesende werden das nicht wirklich feststellen können. Aber wir erfahren, dass sie schon zu Schulzeiten Probleme wegen ihrer Wissbegierde, ihrer Andersartigkeit hat. Sie wurde als komisch bezeichnet (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 190). Und wir lesen aus den Dialogen, die sie mit den Scammern und Benu führt heraus, dass sie zu klug ist, um ihnen auf den Leim zu gehen; besitzt sie doch eine gewisse Abgeklärtheit in Bezug auf die Realität und die Welt, in der sie lebt. In gewisser Weise leben wir auch in dieser Welt. Denn die Autorin lebt mit uns in der Realität, gemeinsam, in der alle von ihr im Roman beschriebenen Phänomene ebenfalls vorkommen. Dann ist wohl einiges auch wahr, oder? Also das Spiel mit der Sehnsucht, mit Hoffnung und Liebe.

Juno sieht eine Doku im Fernsehen, bei der eine Frau von einem Love-Scammer ausgenommen wurde. Nein! Sie hat ihn ja bezahlt! Die Frau hat sich Hoffnungen gemacht ob der Liebesbekundungen, nur um dann festzustellen, dass sie betrogen wurde. Sie nahm sich das Leben. Die Freundin erklärt, dass diese Frau sehr wohl alles seltsam gefunden habe. Oft sei kein gutes Bauchgefühl dagewesen. Aber sie habe „an das Gute geglaubt, auf das Gute gehofft. Hoffnung, diese böse Superkraft.“ (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 84) Es ist wie bei Claire aus Melancholia, die auch hoffen will, bis zuletzt, dass sie nicht sterben muss. Justine weiß aber, dass es vorbei ist. Sehnsucht und Hoffnung, das hängt nicht nur mit dem Love-Scamming zusammen, sondern überhaupt mit der Suche nach Liebe und Verbindung, mit dem Altern und gesellschaftlichen Themen und kommerziellen, kulturellen und kolonialen Strukturen. Und geht es nicht auch um ein Tauschgeschäft? Was bekommt wer, was wird genommen und was wird gegeben??? Das sind wichtige Fragen!!!

Ausbeutung, Dolce Vita, Euphorie – was die Welt wirklich zusammenhält

Exploitation. Das bedeutet Ausbeutung. Das Wort befindet sich schon im zweiten Satz auf der ersten Seite von Hey guten Morgen, wie geht es dir?, gefolgt von seiner Bedeutung, dem Wort »Ausbeutung« in der Mitte und dann »Euphoria« und »Dolce Vita«. Diese Begriffe leiten weitere grundlegende Themen des Romans ein. Jetzt könnte man fragen, warum habe ich dann nicht gleich mit diesem Absatz angefangen, das wäre doch schön chronologisch! Nun, wie die meisten Menschen wissen, verläuft das Leben an sich auch nicht immer gradlinig. Was hier also als abschweifend bezeichnet werden könnte, ist insofern also eine narrative Strategie, mit der ich mit weiterführenden Informationen auf diese grundlegenden Themen hingeführt habe – auch, wenn die Begriffe bereits am Anfang des Romans stehen, sich aber doch im Zusammenhang mit den vorherigen Abschnitten dieses Beitrags erklären. Kommen wir also zu des Pudels Kern. Der aus dem Italienischen stammende Begriff »Dolce Vita« beschreibt eine Lebensweise, die auf Vergnügen und den Genuss des Augenblicks fokussiert ist. »Euphorie« beschreibt einen Zustand intensiven Glücks oder Wohlergebens, der in Verbindung mit Dolce Vita das exzessive Streben nach dem maximalen Lebensgenuss sein könnte. Exploitation bezieht sich auf die Ausbeutung von Menschen, Ressourcen oder Ideen, oft im Kontext sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Ungleichgewichte. In Bezug auf gesellschaftliche Strukturen kann es die Ausnutzung von Arbeitskraft, Kapital oder Naturressourcen durch mächtige Akteure wie Unternehmen, Regierungen oder Einzelpersonen beschreiben.

Erfüllung und Genuss, wie sie mit den Begriffen Dolce Vita und Euphoria beschrieben werden, ist nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich. Der Luxus und die ekstatische Freude, die durch diese Konzepte verkörpert werden, können oft auf Ausbeutung beruhen. Zum Beispiel wird der glamouröse Lebensstil von reichen Eliten oft durch Ausbeutung von Arbeitskräften (z. B. in der Modeindustrie oder in der Dienstleistungsbranche) oder durch umweltschädliche Praktiken finanziert, die die Ungleichheit in der Gesellschaft verstärken. Exploitation tritt in diesem Zusammenhang als die dunkle Seite des Dolce Vita und Euphoria auf. Es ist für die Aufrechterhaltung des glamourösen Lebensstils notwendig. Eben darauf verweist der Roman.

Dolce Vita, Euphoria und Exploitation, das Love-Scamming und die Wahrheit

„Alles auf der Erde bestand aus Ausbeutungssystemen, es gab nichts, was einfach so, ohne einen Ausgleich getan wurde, ohne einen Zweck, der am Ende Geld abwarf.“ (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 149)

So urteilt Juno. Tatsächlich ließe sich das aus Marketingsicht positiver formulieren, also markttauglich:

Die Menschen schufen Systeme, die auf Austausch und gegenseitigem Nutzen beruhten. Diese dienen einem größeren Ziel, tragen zu wirtschaftlichem Fortschritt, kulturellem Wachstum, sozialer Entwicklung bei und dient einem ganzheitlich einem humanistischen Zweck.

Klingt schon ganz anders oder? Aber genau darum geht es ja in der Werbung und beim Kommerz, im Marketing und in der Welt. Es gibt immer unterschiedliche Ansichten und viele Wörter, mit denen sich Dinge anders ausdrücken lassen. Das haben die Nationalsozialisten mit dem Propagandaministerium sehr perfektioniert. Doch weiter.

Die Begriffe Dolce Vita, Euphoria und Exploitation verbinden sich zu einer komplexen, kritischen Darstellung eines Lebensstils, der auf Genuss und Vergnügen ausgerichtet ist, aber nur auf Kosten anderer existieren kann. Während das »süße Leben« und die »Euphorie« die Sehnsucht nach Freude und Sinnlichkeit widerspiegeln, verweist die »Exploitation« auf die unfairen und ungerechten Praktiken, die hinter den glänzenden Fassaden eines luxuriösen Lebensstils verborgen sind. Diese Verbindung eröffnet die Möglichkeit, über die Preisgabe von Werten für kurzfristige Freuden nachzudenken und die Kritik an einem konsumorientierten, egozentrischen Lebensstil zu schärfen, der die Lebensqualität der breiten Masse zugunsten einer elitären, privilegierten Gruppe gefährdet.

In literarischen oder gesellschaftlichen Erzählungen könnte dieser Dialog zwischen den Begriffen als Warnung vor der Oberflächlichkeit und den negativen Konsequenzen des »süßen Lebens« fungieren, das auf der Ausbeutung und Ungerechtigkeit anderer beruht. Im kolonialen Kontext ist »Dolce Vita« ebenfalls eng mit der Projektion einer exotisierten und romantisierten Welt verbunden. Weiße privilegierte Frauen werden in der globalen Dynamik oft als Trägerinnen von Wohlstand und Freiheiten gesehen, was sie für Love-Scammer zu attraktiven Zielen macht. Diese Frauen tragen zugleich oft unbewusst eine kulturell geprägte Erwartungshaltung an eine »exotische« und »leidenschaftliche« Liebe, die sich historisch aus kolonialen Vorstellungen speist. Entsprechende Szenarien werden auch in Hey guten Morgen, wie geht es dir? beispielhaft von Juno im Rahmen ihrer Recherchen reflektiert und benannt.

Die »Wahrheit« in Auseinandersetzung mit lang tradierten Narrativen

Wahrheit ist in diesem Kontext ein schwer fassbarer Begriff. Beim Love-Scamming wird die Wahrheit bewusst verschleiert, um Vertrauen zu erschleichen. Gleichzeitig werden jedoch auch die kolonialen »Wahrheiten« hinterfragt: die Vorstellungen von weißen Frauen als Symbole der Reinheit, des Wohlstands und der emotionalen Erfüllung. Diese Konstruktionen waren schon immer narrative Lügen, die den Status quo aufrechterhalten sollten. Aber wir leben in einer Welt, in der diese lange tradierten Narrative weiterhin existieren und im Rahmen von Dolce Vita und Euphoria für viele die Aufrechterhaltung weiterhin Sinn ergibt. Doch die Fassade beginnt zu bröckeln und eine neue Zeit wird langsam eingeläutet – so hoffe ich auch, dass ich mich diesem Blog ein wenig für Erkenntnis sorgen kann. Auch wenn mir bewusst ist, dass meine Beiträge für viele vielleicht nicht unbedingt verständlich sind oder auch für Widerstand sorgen, gerade weil eine Auseinandersetzung mit diesen Wahrheiten unangenehm sein kann, denn sie betreffen schließlich uns alle. Die Konfrontation mit Love-Scamming zwingt sowohl Opfer als auch Täter, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen – sei es durch die Erkenntnis persönlicher Verletzlichkeit oder durch das Bewusstsein über die Strukturen, die solche Manipulationen überhaupt erst ermöglichen. Und wir als Lesende werden durch die narrative Inszenierung aufmerksam gemacht und erlangen Erkenntnisse über diese Vorgänge, die uns vorher wahrscheinlich gar nicht bewusst gewesen sind.

Juno als Reflexionsinstanz für den Erkenntnisgewinn der Lesenden?!

Ist Hey guten Morgen, wie geht es dir? ein Roman, der den Erkenntnisgewinn und Wissen hinsichtlich verschiedener gesellschaftlicher und kultureller Wechselwirkungen forciert? Das würde ich schon sagen. Aber tun das nicht auf die eine und andere Art und Weise alle Romane, ja überhaupt alle Arten von Literatur, alle Bücher, sämtliche Schriftstücke? Ich habe es schon in der kurzen Buchvorstellung vor einiger Zeit erwähnt, in der ich auch etwas näher auf die erwähnten kolonialen Strukturen eingehe. Die aus dem Buch aufzuarbeiten, wäre ebenfalls einen eigenen Beitrag wert. Das kann ich hier aber im Rahmen des Themas nicht leisten. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass Juno sich stellvertretend mit eben diesen kolonialen Strukturen bewusst beschäftigt, darüber sinniert und reflektiert, uns sogar Romane und Fachbücher empfiehlt, Fakten über das Nigeria und aktuelle Entwicklungen bereitstellt – wodurch wir uns eben gezwungenermaßen über die Lektüre dasselbe Wissen aneignen und ihren Gedankengängen und Fragen folgen, diese Fragen dann beim Lesen indirekt zu unseren eigenen werden, weil wir sie in Gedanken hin und her wälzen oder vielleicht sogar laut aussprechen, etwa beim Vorlesen. Wir lernen zum Beispiel etwas über Voudou und die Verbindung dieses Glaubens zum Christentum und den Hexenglauben in Nigeria. Juno erfährt einiges über die Zustände in Nigeria, direkt durch Benu und allgemein durch eigene Recherchen, woran sie uns teilhaben lässt. Bleibt nur die Frage, wie gut die Figur bzw. die Autorin recherchiert hat. Die Seitenstiche auf Medienformate sind auch vorhanden. Um aus einem Buch zu lernen, ist aber unwichtig, ob der Inhalt stimmt oder nicht – das, was von Interesse ist, wird behalten und angeeignet. Und da Lesen subjektiv ist, kann dieses Wissen sogar entgegen der (möglichen) Intention der Autorin laufen oder können Leserinnen und Leser gar etwas ganz anderes verstehen, als das, was die Autorin beim Schreibprozess vor Augen hatte. Ich persönlich finde diese Form der Aufklärung neben der literaturwissenschaftlichen Perspektive allerdings gesellschaftlich relevant. Durch eben solche Romane erhalten Menschen Einblicke und Denkanstöße, die sie sonst nicht erhalten würden, nicht allein durch Nachrichten. Juno, die literarische Figur, stellt hier die Verbindung dar und könnte für viele der überspringende Funke der Neugier sein, der zu Interesse und weiterer Wissensaneignung zum Thema führt. Das ist sehr gut gemacht! Es bietet zum Teil die Option der Aufarbeitung. Das ist aber wiederum eine Sache der eigenen Betroffenheit, die ist ja nicht immer vorhanden. In einer anderen Form behandelt dies Lene Albrecht in Weiße Flecken zum Thema Kolonialismus oder verhandeln die Figuren der TV-Serien Buffy über die Thematik.

Akzeptanz, Verdrängung, Depression und Unausweichlichkeit in Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Ich möchte nach diesem kleinen Ausflug wieder zurückkehren zum Anfangsthema, Melancholia, Depression, Unausweichlichkeit, das Altern und dies dann abschließend mit der Thematik des Ausbeutens verknüpfen. Es gibt im Roman diesen einen Tag im September – es ist der 14. –, an dem Juno in den Konsum geht und für Jupiter Spekulatius kauft. Und sie hört, wie eine junge Frau sich herablassend darüber äußert, dass „jetzt die alten Leute schon wieder ihre doofen Weihnachtssachen kaufen würde. Wie schlimm das sei.“ (S. 102) Diese Situation löst in Juno einen Weinkrampf mitten im Markt aus. Es kommt einiges zusammen: Juno kauft den Spekulatius nicht für sich, sie kauft ihn für den kranken Jupiter, der selbst nicht mehr einkaufen kann und auf ihre Hilfe angewiesen ist und für den Spekulatius ein echtes Highlight ist. Hinzu kommt die Bemerkung über Junos Alter, das ist ohnehin ein Thema, mit dem sie sich wegen der vielen Zuschriften von Love-Scammer vor dem Hintergrund aktueller Diskurse (etwa Madonnas Schönheits-OP) auseinandersetzt. Das Thema Alter zieht sich durch den Roman, es ist präsent und Juno dient auch hier als Reflexionsfigur hinsichtlich dem, was Frauen ab einem gewissen Alter noch tun dürfen und was nicht – siehe Susan Sontags Bemerkungen weiter oben. Letztlich diagnostiziert Juno sich selbst eine Depression, mitunter auch durch einen Vergleich mit Justine aus Melancholia. In der frühen Phase ihrer Depression sei diese „nicht schwach und niedergerückt, sondern bösartig und abgebrüht [gewesen]. Eigentlich eiskalt.“ (S. 161). Benu wird sie auch schreiben, dass sie unter einer Depression leidet.

Juno und die Depression und Ausbeutung in Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Sie redete sich ein, künstlerisch neugierig zu sein. Wer weiß, wofür es gut sein konnte, mit Benu zu sprechen. Vielleicht für das Theaterstück, das sie endlich zu schreiben anfangen wollte.

Dennoch, alles an den Chats und Calls war eigentlich falsch. Eine Verbindung, die nur auf Lügen basierte, oder besser: auf der Unwahrheit. Und aus der Unwahrheit ergab sich wieder nur Ausbeutung- Denn nichts anderes war‘s im Grunde: Sie beutete Benu aus, und es war dabei egal, ob er sie vielleicht ebenso noch immer auszubeuten versuchte. Eine Ausbeutung rechtfertigte die andere nicht. (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 116).

Wie schon erwähnt, Juno ist sich der Ausbeutungstaktiken bewusst und sie hat auch gar kein Interesse an einer derartigen Beziehung, denn sie liebt Jupiter, lebt mit ihm zusammen und kümmert sich. Aber sie benutzt die Scammer als Ventil, denkt sich Geschichten aus, lügt selbst, erfindet, monologisiert und beginnt aus der Realität ein künstlerisches Projekt zu entwickeln. Eben dies ist meiner Meinung nach mit dem Absatz gemeint. Sie hat den Spieß umgedreht, wobei die Ausbeutung auf ihrer Seite zunächst einmal im Ablassen der eigenen aufgestauten Emotionen besteht, vielleicht Frust und Wut über das Altern, über ihre Situation, darüber, dass sie angeschrieben wird. Das sage ich jetzt einfach so. Aber später wird ein Projekt daraus. Und dann steht ja letztlich auch noch der folgende Satz im Nachwort des Romans, mit dem Martina Hefter sehr erfolgreich mehrere große Literaturpreise gewonnen und damit auch Geld erhalten hat:

Und zuletzt: Danke an den, der so ähnlich ist wie Benu. Wo auch immer er jetzt ist, was auch immer er jetzt macht: Hey da draußen, wie geht es dir? Smiley. (Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 222)

Dazu sei nur erwähnt, dass das Nachwort in die reale Welt gehört, nachträgliche Informationen liefert, Danksagungen etwa, oder die Erwähnung zur Verwechslungsgefahr von Martina Hefters Ehemann mit der Figur Jupiter. Der Roman ist fiktional mit autobiografischen Anteilen, also teilweise auch autofiktional. In diesem Kontext darf nun jeder den letzten Satz einordnen und sich dabei meine Ausführungen zu La Dolce Vita, Ausbeutung und Euphoria von weiter oben ins Gedächtnis rufen. Über das Schreiben der Ausbeutung von marginalisierten Frauen bzw. der künstlerische Inszenierung von Diskriminierung und gesellschaftlichen Defiziten im Allgemeinen hat beispielsweise Aurora Venturini mit Die Cousinen ein literarisches Statement verfasst.

Beschluss zum Thema

Die Auseinandersetzung mit Hey guten Morgen, wie geht es dir? habe ich als sehr interessant empfunden. Ursprünglich hatte ich mich nämlich tatsächlich mit den kolonialen Strukturen auseinandersetzen wollen, doch dann kam ich durch Juno auf den Film Melancholia, Wagners Tristan und Isolde und das Vorspiel, Susan Sontag und Frauen. Möglich, dass ich irgendwann noch einen verbindenden Absatz zu Elke Heidenreichs Werk Altern einbaue. Ich erinnere mich, dass Martina Hefter bei einer der Lesungen, auf der ich zugegeben war, sagte, sie habe ursprünglich einen Essay verfassen wollen, doch dann festgestellt, dass das Thema viel komplexer sei. Die intensive literarische Ausarbeitung hat sich in jedem Fall gelohnt, für sie und für die deutsche Literaturlandschaft, für die Leserinnen und Leser. Wohl aber nicht für die Love-Scammer? Na, vielleicht hat ja der eine oder die andere aufgrund der Lektüre Wissen gewonnen und kann die Situation dieser Menschen im Zusammenhang mit dem Kolonialismus besser einschätzen und selbst reflektieren, vielleicht auch Kenntnisse bewusster im Alltag einsetzen – so oder so.

Verwendete Literatur

Eintrag „Hefter, Martina“ in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/document/00000033584 (abgerufen von Staats- und Universitätsbibliothek Bremen am 12.1.2025)

https://www.munzinger.de/search/document?id=00000033584&type=text%2fhtml&template=%2fpublikationen%2fpersonen%2fdocument.jsp&key=&terminate=

Hefter, Martina: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Stuttgart 2024, S. 38.

Monks Kaufman, Sophie: Wagner Moments: DP Manuel Alberto Claro on Melancholia at Ten Years, Lars Von Trier and Depression. Filmmaker Magazine, erschienen am 20. Mai 2021, online unter: https://filmmakermagazine.com/111706-wagner-moments-dp-manuel-alberto-claro-on-melancholia-at-ten-years-lars-von-trier-and-depression/ (zuletzt aufgerufen am 14.01.2025).

Rudolph, Pascal: Präexistente Musik im Film. Klangwelten im Kino des Lars von Trier, München 2022, S. 172, online unter: doi.org/10.5771/9783967077582.

Sontag, Susan: Zweierlei Maß. Altern ist nicht gleich Altern. In: Susan Sontag: Über Frauen. Hg. von Davie Rieff. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. München 2024, S. 7-48.


[1] Eintrag „Hefter, Martina“ in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/document/00000033584 (abgerufen von Staats- und Universitätsbibliothek Bremen am 12.1.2025). https://www.munzinger.de/search/document?id=00000033584&type=text%2fhtml&template=%2fpublikationen%2fpersonen%2fdocument.jsp&key=&terminate= [2] Monks Kaufman: Sophie: Wagner Moments: DP Manuel Alberto Claro on Melancholia at Ten Years, Lars Von Trier and Depression. Filmmaker Magazine, erschienen am 20. Mai 2021, online unter: https://filmmakermagazine.com/111706-wagner-moments-dp-manuel-alberto-claro-on-melancholia-at-ten-years-lars-von-trier-and-depression/ (zuletzt aufgerufen am 14.01.2025). [3] Ebd. [4] Rudolph, Pascal: Präexistente Musik im Film. Klangwelten im Kino des Lars von Trier, München 2022, S. 172, online unter: doi.org/10.5771/9783967077582. [5] Sontag, Susan: Zweierlei Maß. Altern ist nicht gleich Altern. In: Susan Sontag: Über Frauen. Hg. von Davie Rieff. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. München 2024, S. 7-48. [6] Ebd., S. 8. [7] Ebd. [8] Ebd., S. 9. [9] Ebd., S. 47.

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