Die Schneekönigin – Andersens poetische Erzählung über die Rettung eines gefrorenen Herzens

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Hans Christian Andersens Märchen Die Schneekönigin von 1844, im Original Snedronningen ist eines der komplexesten Kunstmärchen der Weltliteratur und hat den Platz in diesem literarischen Adventskalender damit vollauf verdient. Die Geschichte der kleinen Gerda, die ihren Spielgefährten Kai aus dem eisigen Reich der Schneekönigin befreit, ist viel mehr als eine schöne Kindergeschichte zum Einschlafen erzählt an kühlen Tagen. Es handelt sich um eine bedeutsame Allegorie über den Sieg der Liebe über die Kälte, den Gegensatz von Herz und Verstand, Unschuld und Erkenntnisse.

Der vielleicht einfach erscheinende Plot ist angereichert mit einer komplexen Symbolik, die psychologische, christliche oder pädagogische Lesarten und weitere ermöglicht. Man darf Hans Christian Andersen, denke ich, zu den Romantikern zählen, also zur Literaturepoche – dazu weiter unten mehr. Insofern reflektiert Die Schneekönigin auch die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und Gefühlvollen, warnt aber zugleich vor Herzlosigkeit und übermäßiger Rationalität.

Die Schneekönigin ist lesenswert, weil…

👉 …das Märchen zeitlose Themen wie Liebe, Freundschaft und Selbstüberwindung auf poetische Weise behandelt.

👉 …die Reise von Gerda durch fantastische Welten voller Rätsel und Symbole, die Kinder wie Erwachsene gleichermaßen begeistert.

👉 …Hans Christian Andersen eine einzigartige Mischung aus Magie, Melancholie und Hoffnung erschafft.

👉 …die Geschichte zeigt, wie Warmherzigkeit und Tapferkeit das Gefühlskälte besiegen können.

👉 …ihr kunstvoller Aufbau, ihre Bildsprache und bedeutungsvollen Figuren zum Nachdenken anregen und vielfältige Interpretationen ermöglichen.

Zusammenfassung von Andersens Schneekönigin

Andersens Märchen Die Schneekönigin handelt von den Kindern Kay und Gerda (im Deutschen auch manchmal Gretchen und Karl). Als Splitter eines bösen Trollspiegels Kay im Auge und ins Herz treffen, verändert sich sein ganzes Wesen und macht ihn empfänglich für die kalte Schönheit der Schneekönigin. Sie nimmt ihn mit in ihr eisiges Reich, wo seine Gefühle erstarren und er seine Familie und Gerda vergisst. Doch Gerda hält an ihrer Freundschaft fest und bricht alleine zur Suche nach ihm auf. Auf ihrer Reise macht sie viele gute und weniger gute Erfahrungen mit Menschen und Tieren, an denen sie wächst und immer weiter in die Nähe des Reiches der Schneekönigin gelangt. Dort angekommen kann sie den Bann lösen, der Kay gefangen hält. Gemeinsam kehren sie in ihre Heimat zurück, innerlich gereift und mit dem Bewusstsein, dass Liebe und Zuversicht jedes Hindernis überwinden kann.

Die Schneekönigin hat viele Menschen berührt und unzählige Adaptionen in Literatur, Theater, Film und Musik hervorgebracht. Zudem ist der Text auch in Bezug auf seine Struktur, die gattungspoetologische Form sehr interessant, denn trotz seiner Kürze enthält eine Rahmenerzählung, in die mehreren verschachtelte Binnenerzählungen eingebettet sind. Doch dazu gleich mehr.

Ein kleiner Leseanreiz aus Hans Christian Andersens Die Schneekönigin

Nun erzählte das Renntier zuerst seine Geschichte, dann die der kleinen Gerda, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber nichts.
„Du bist sehr klug“, sagte das Renntier; „ich weiß, du kannst alle Winde der Welt mit einem Zwirnsfaden zusammenbinden. Wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht er scharf, und löst er den dritten und vierten, so stürmt es, dass die Wälder umfallen. Willst du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, dass sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?“
„Zwölf-Männer-Kraft?“ sagte die Finnin. „Ja, das würde viel helfen!“ Dann ging sie nach einem Bett, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, dass ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.
Aber das Renntier bat wieder so sehr für die kleine Gerda, und Gerda blickte die Finnin mit so bittenden Augen voll Tränen an, dass sie abermals mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Renntier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:
„Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und findet dort alles nach seinem Geschmack und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Aber das kommt daher, dass er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat. Die müssen erst heraus, sonst wird er nie wieder ein Mensch, und die
Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten.“
„Aber kannst du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, dass sie Gewalt über das Ganze erhält?“
„Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt. Siehst du nicht, wie groß die ist? Siehst du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie mit nackten Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten, die besitzt sie in ihrem Herzen; die besteht darin, dass sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Kay bringen, dann können wir nicht helfen. Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst du das kleine Mädchen tragen. Setze sie beim großen Busch ab, der mit roten Beeren im Schnee steht; halte keinen Gevatterklatsch‘ sondern spute dich, hierher zurückzukommen!“ Und dann hob die Finnin die kleine Gerda auf das Renntier, das lief, was er konnte.

Aus: Hans Christian Andersen: Die Schneekönigin

Der Text ist online einsehbar. Die Version der Schneekönigin im Gutenbergprojekt ist eine ältere deutsche Übersetzung, in der Greta und Kay Gretchen und Karl heißen. Ansonsten einfach googeln oder beispielsweise hier lesen.

Zur Funktion der Geschichten in Geschichten

Die zitierte Passage befindet sich in der fünften Geschichte aus Andersens Die Schneekönigin. Es handelt sich um ein Schlüsselgespräch innerhalb des Märchens, das verschiedenste Fäden zusammenführt. Im Gespräch zwischen dem Renntier und der Finnin werden zentrale Motive des gesamten Märchens zusammengefasst und zudem die Lösung für die Rettung von Kay erwähnt und warum ausgerechnet Gerda dies kann.

Für mich ist dabei besonders interessant, dass der Dialog als eine Art Knotenpunkt im Narrativ fungiert: Die einzelnen Geschichten innerhalb des Märchens sind somit über die Dialoge der Figuren miteinander verbunden – das zeigt sich gerade an dem Gespräch der Finnin mit dem Renntier, denn es verweist auf den Anfang des Märchens und erwähnt den zersplitterten Spiegel und zugleich auf das glückliche Ende. Während die anderen Abschnitte im Märchen jeweils für sich stehen können und verschiedene Prüfungen für Gerda bereithielten, fließen in diesem letzten Abschnitt vor dem großen Finale die Erzählfäden wieder zusammen.

Man kann also folgende wichtige Funktionen für die Einleitung des Märchenendes aufführen:

1. Entmystifizierung des Einsatzes von magischen Gegenständen

Die Finnin und das Renntier kennen die Schneekönigin, ihr Reich beginnt nicht weit entfernt von ihnen. Und sie überlegen, ob sie der kleinen Gerda einen stärkenden Zaubertrank mitgeben können. Dass die Heldin bzw. der Held in Märchen einen magischen Gegenstand für den finalen Kampf erhält, ist ein häufiges Motiv in Märchen. Doch Andersen durchbricht hier dieses typische Zauber-Motiv, er weist es durch die Finnin und das Renntier zurück. Zwar erwähnen sie die Möglichkeit, Gerda ein stärkendes Elixier zu brauen, doch besitzt die kleine schon alles, was sie braucht, um Kay zu befreien. Das hat mich ein wenig an Dorothee und ihre silbernen Schuhe in Der Zauberer von Oz erinnert. Dort gerät die Heldin in das Land von Oz und erhält gleich zu Beginn silberne Schuhe. Erst nach vielen Abenteuern mit den neu gefundenen Freunden erfährt sie ganz zuletzt, dass sie nur hätte die Hacken der Zauberschuhe zusammenschlagen müssen, um sofort wieder in die Heimat Kansas zu ihrer Familie zurück zu gelangen. Also die Gemeinsamkeit liegt darin, dass die Gabe, die für das Finale benötigt wird, schon von Anfang an vorhanden ist, aber erst kurz vor Ende offenbart wird. Aber anders als bei Dorothee, die ja tatsächlich ein magisches Requisit besitzt, wird lenkt die Finnin hier den Fokus der Macht weg von einem äußeren Gegenstand hin zur inneren Qualität von Gerda. Das ist ein wichtiger Unterschied: In Die Schneekönigin wird das in Märchen gängige Muster verkehrt, weil Gerda nicht durch Zauberei und Magie Macht erhält, sondern aus sich selbst.

2. Erklärung für Kays Verlorenheit

Die Finnin erklärt, was mit Kay passiert ist und warum er glücklich bei der Schneekönigin sitzt, ohne an seine Bindung zu Gerda zu denken. Dabei wird auch der Bezug zum Eingang des Märchens und den zersplitterten Spiegelscherben, von denen Kay getroffen wurde, deutlich.

Dort heißt es:

„… und wo Jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen Alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, welche der ganze Spiegel besaß. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz, und dann war es ganz gräulich; das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich.“

Der Splitter im Auge verfremdet seine Wahrnehmung, sodass er die Welt „verkehrt“ wahrnimmt und der der Splitter im Herzen lässt ihn gefühllos werden und geliebte Personen vergessen. Der eisige Ort bei der Schneekönigin gefällt ihm nur, weil er emotional „eingefroren“ ist. Das Bild, das hier aufgemacht wird, ist psychologischer Natur – die Kälte dient als Darstellungsmittel für die emotionale Erstarrung.

Meggan Noack erörtert das Spiegelmotiv in Andersens Die Schneekönigin und die verschiedenen Aspekte, die durch dieses Motiv im Märchen aufgerufen werden. Sie kommt zu dem Schluss,

„dass der Spiegel und die Psyche auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft sind. Die psychoanalytische und tiefenpsychologische Perspektive gewähren die Analyse der geschilderten Reifungsprozesse der Figuren. In Andersens Text steht das christliche Spiegelmotiv im Zentrum. Der Spiegel dient hierbei dem Zweck, die christlichen Schöpfungen stets weiter zu vervollkommnen. Die teuflische Verzerrung der Wirklichkeit im Spiegelbild muss überwunden werden, um so in die heile Natur- und Gottesnähe zurück zu gelangen. Aus psychologischer Perspektive ist der Spiegel mit Selbsterkenntnis und Vervollständigung verbunden. Der zerbrochene Spiegel führt hier zu einer Umkehrung der Spiegelschau: das Selbst ist nicht mehr in der Lage, sich als Ganzes wahrzunehmen. Der teuflische Spiegel ist nicht nur innerhalb der Diegese wirksam, sondern kann auch in der Leserschaft Selbstzweifel hervorrufen und die Selbstwahrnehmung beeinflussen.“[1]

Darüber hinaus erwähnt sie auch die Thematisierung der mit dem Spiegelmotiv einhergehenden Adoleszenz und Ablösung von Vertrautem sowie der Heimat.

3. Gerdas Herzenskraft

Im Gespräch mit dem Renntier weiß die Finnin bereits um Gerdas Qualität:

„Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten; die sitzt in ihrem Herzen; sie besteht darin, daß sie ein liebes unschuldiges Kind ist“.

Gerdas Liebe, Reinheit und Ausdauer sind nicht naiv, sondern eine große Macht, mit der sie Kay retten kann. Nicht durch Wissen, nicht durch Klugheit, nicht durch Ränke, sondern aus Unschuld, Nachsicht und Gefühlstiefe wirkt ihre Macht. Insofern in die Finnin das klarsichtigste Wesen im Märchen. Sie weiß, dass Gerda aufgrund ihres Herzens mächtig ist.

4. Reifung statt Zauberspruch

Betrachtet man Gerdas Reise seit der Trennung von Kay in Kindertagen, dann können die einzelnen Binnengeschichten als Initiationsreise des Erwachsenwerdens erkannt werden. In jeder macht Gerda neue Erfahrungen oder lernt etwas dazu. Das Treffen mit der Finnin und dem Renntier markiert den Wendepunkt und leitet das Finale ein. Dank der Finnin wird deutlich, dass Gerda bereits alles hat, was sie braucht. Sie ist bereits mächtig – in diesem Sinne kann man auch von der Selbstermächtigung sprechen, die mit dem Erwachsenwerden einhergeht sowie der Übernahme von Verantwortung.

Vielleicht trägt das Renntier Gerda darum nur bis zur Grenze des Reiches des Schneekönigin, weil Gerda selbst das letzte Stück des Weges allein gehen muss.

5. Die Szene als moralische Klarstellung

Die letzte „Geschichte in der Geschichte“ wirkt kurz vor dem Finale des Märchens wie ein Meta-Kommentar, in dem ungelöste Probleme und offene Fragen geklärt werden. Dies natürlich auf der Figurenebene, aber auch für uns Lesende. Wir müssen bedenken, dass Märchen oftmals vorgelesen und beiseitegelegt werden, um sie an einem anderen Abend wieder hervorzuholen. In solchen Fällen mag eine kurze Auffrischung durchaus erhellend sein. Und sonst bietet der Aufenthalt bei der Finnin und dem Renntier Gerda einen kurzen Halt vor ihrem Ziel. Das Märchen erklärt hier seine eigenen Regeln, könnte man auch sagen. Zudem wird hier der Antagonismus zwischen Gerda und der Schneekönigin aufgrund des Zusammenbringens des bösen Verzerr-Spiegels und der Schneekönigin zu der Liebesmacht von Gerda offenbar.

Informationen zum Autor: Hans Christian Andersen – Leben und Werk

Hans Christian Andersen (1805-1875) war ein dänischer Schriftsteller und vor allem durch seine Märchen bekannt. Er wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf, was seine spätere Arbeit prägte. Bereits mit 14 Jahren wollte ging er mit dem Wunsch, Schauspieler oder Sänger zu werden, nach Kopenhagen und fand nach erstem Scheitern Gönner, die ihn bei der Ausbildung unterstützten. Er begann mit dem Schreiben, wobei es zunächst Romane, Gedichte und Theaterstücke waren. Erst mit den Märchen gelang ihm der Durchbruch, allerdings „hier allerdings eine Vielzahl unterschiedlichster narrativer Genres einschließt. Unter dem Eindruck der Kunstmärchendichtung und Volksmärchen-Sammlungen der dänischen und deutschen Romantik veröffentlichte […].“[2]

Andersen war zeitlebens ein Außenseiter: zu arm für die Oberschicht, zu gebildet für die Unterschicht. In den literarischen Kreisen Dänemarks war er nie wirklich akzeptiert worden – man belächelte ihn als Märchenonkel. Auch heiratete er nie.

Die Außenseitererfahrung durchzieht sein Werk: Oftmals handelt es sich bei den Figuren seiner Werke um Außenseiter, Suchende oder Leidende. Interessant ist allerdings, dass Andersen viel durch Europa reist und mit literarischen Größen wie beispielsweise Charles Dickens (mit dem er sich allerdings überwarf) verkehrte. Insgesamt 156 Märchen verfasste Andersen. Seine Werke wurden in über 150 Sprachen übersetzt und gehören zum Weltkulturerbe.

Auflistung einiger Werke von Hans Christian Andersen:

Märchen (Auswahl):

  • Das hässliche Entlein (1843) – autobiografisch gefärbtes Märchen über Außenseitertum
  • Die Schneekönigin (1844) – sein komplexestes Märchen
  • Die kleine Meerjungfrau (1837) – tragische Liebesgeschichte
  • Des Kaisers neue Kleider (1837) – satirisches Märchen über Eitelkeit
  • Die kleine Seejungfer (1837) – über Opfer und unerfüllte Liebe
  • Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1845) – herzzerreißend über Armut
  • Die Prinzessin auf der Erbse (1835) – humorvoll über Echtheit
  • Der standhafte Zinngsoldat (1838) – über Treue und Schicksal
  • Die roten Schuhe (1845) – düsteres Märchen über Eitelkeit
  • Die Nachtigall (1843) – über wahre Kunst vs. Künstlichkeit

Romane:

  • Der Improvisator (1835) – autobiografischer Roman, sein erster großer Erfolg

Autobiografie:

  • Das Märchen meines Lebens (1855)

Das Märchen Die Schneekönigin besteht insgesamt aus sieben Einzelgeschichten, die sowohl für sich selbst stehen könnten als auch chronologisch aneinandergereiht zum Erzählende hinführen.

Erste Geschichte in Die Schneekönigin: Von dem Spiegel und den Scherben

Ein böser Troll (oder der Teufel) hat einen Spiegel geschaffen, der alles Gute und Schöne ins Gegenteil verkehrt, hässlich und klein macht. Böses vergrößert er dagegen. Die Schüler des bösen Trolls wollen den Spiegel zu Gott in den Himmel tragen, doch auf dem Weg dorthin zerbricht er und die Splitter verteilen sich über die ganze Welt. Diese Splitter haben katastrophale Auswirkungen auf die, die sie treffen: Gerät ein Splitter in ein menschliches Auge,

„wo sie bei den Leuten in die Augen kamen, da blieben sie sitzen, und dann sahen die Menschen alles verkehrt und gewahrten immer nur das Verkehrte einer Sache […] Einigen Menschen drangen solche Splitterchen sogar ins Herz, und das war noch am allerschlimmsten, denn dann erstarrte das Herz förmlich zu einem Eisklumpen.“[3]

Zweite Geschichte in Die Schneekönigin: Ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen

In einer Stadt leben nebeneinander zwei arme Familien mit je einem Kind: Gerda und Kay. Die beiden sind die besten Freunde und haben eine so innige Beziehung zueinander als wären sie Geschwister. In der warmen Jahreszeit spielen sie zwischen Rosenstöcken und im Winter erzählt ihnen die Großmutter von der Schneekönigin, die draußen im Schneegestöber umherfliegt. Ihre Freundschaft verändert sich, als Kay Splitter des Trollspiegels abbekommt: einer fliegt ihm ins Auge, der andere dringt ihm ins Herz. Dadurch verändert sich sein ganzes Wesen: Er wird kalt, spottet über Gerda und die Rosen. Beim Schlittenfahren bindet er übermütig seinen Schlitten an den Schlitten der Schneekönigin, die ihn daraufhin mit in ihr Reich nimmt. Gerda bleibt verlassen zurück und ist verzweifelt.

Dritte Geschichte: Der Blumengarten der Frau, die zaubern konnte

Als es Frühling wird, macht Gerda sich auf die Suche nach ihrem Feund. Sie kommt zu einer alten Frau mit einem wunderschönen Garten. Sie ist zauberkundig und will, dass Gerda bei ihr bleibt. Also sorgt sie dafür, dass sie alles vergisst, was mit Kay und ihrer Suche nach ihm zusammenhängt – dafür lässt sie sogar alle Rosen in ihrem Garten verschwinden. Doch sie vergisst, dir Rose auf ihrem Hut verschwinden zu lassen. Gerade erinnert sich bei ihrem Anblick wieder an Kai und beginnt, die Gartenblumen nach ihm zu fragen. Als keine ihr weiterhelfen kann, verlässt sie den verzauberten Garten.

Vierte Geschichte in Die Schneekönigin: Der Prinz und die Prinzessin

Gerda trifft eine Krähe, die ihr von einer klugen Prinzessin erzählt, die nur einen Mann heiraten will, der ebenso klug ist. Danke der Krähe kommt sie in den Palast, wo Gerda enttäuscht feststellt, dass es sich bei dem Prinzen nicht um Kay handelt – das hatte sie nämlich gehofft. Der Prinz und die Prinzessin helfen Gerda und statten sie mit einer goldenen Kutsche und warmer Kleidung aus.

Fünfte Geschichte in Die Schneekönigin: Das kleine Räubermädchen

Gerdas Glück währt nicht lang, denn die Kutsche wird im Wald von Räubern überfallen und alle Mitreisenden getötet. Gerda wird von einem Räubermädchen gefangengenommen, die sie behalten will. In der Räuberhöhle erfährt sie von Tauben, dass Kai von der Schneekönigin nach Lappland gebracht wurde. Das Räubermädchen hält ein Rentier gefangen, das den Weg dorthin kennt. Von Gerads Geschichte berührt, lässt das Räubermädchen sie frei und gibt ihr das Rentier mit, das sie nach Lappland bringen soll.

Sechste Geschichte in Die Schneekönigin: Die Lappin und die Finnin

Das Rentier bringt Gerda zur Lappin, die sie weiter zur weisen Finnin schickt. Die weise Frau kann sehen, dass Gerda für die Befreiung von Kay keinen magischen Gegenstand benötigt, da ihre Kraft in ihrem unschuldigen Herzen liegt. So bricht Gerda auf und kann die Grenze zum Reich der Schneekönigin überqueren.

Siebente Geschichte in Die Schneekönigin: Was im Schlosse der Schneekönigin und später geschah

Gerda erreicht das Schloss der Schneekönigin, wo Kay allein in dem riesigen Saal aus Eis sitzt und versucht, aus Eisstücken das Wort „Ewigkeit“ zu legen – eine unmögliche Aufgabe. Er erkennt Geade nicht. Als sie beginnt zu weinen, fallen Tränen auf seine Brust, dringen in sein Herz und schmelzen den darin enthaltenen Eissplitter. Als Kay ebenfalls beginnt zu weinen, wird auch der Splitter aus seinem Auge gespült. Endlich erkennt er Gerda wieder. Sie tanzen aus Freude und die Eisstücke der unlösbaren Aufgabe ordnen sich von selbst zum Wort „Ewigkeit“ – beide kehren in ihre Heimat zurück. Bei ihrer Ankunft sind sie erwachsen geworden, doch im Herzen weiterhin Kinder. Zuletzt liest die Großmutter aus der Bibel, die dem Text eine christliche Moral überzieht: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“

Was ist ein Kunstmärchen und zählt Andersens Schneekönigin dazu?

Andersens Schneekönigin zählt zu den sogenannten Kunstmärchen. Laut Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft handelt es sich bei einem Kunstmärchen um eine

„Prosaerzählung nach dem Muster oder mit Motiven des Volksmärchens, besonders durch Einbeziehung des Wunderbaren gekennzeichnet.“[4]

Zu einem Unterscheidungskriterium zwischen Kunstmärchen und Volksmärchen zählt insofern, dass sie zwar im typischen Gestus von Märchen erzählt werden, allerdings „im Kunstwillen namentlich bekannter Autoren und bestimmbarer literarischer Richtungen gründen.“[5] Einig ist man sich darüber, dass zu den Kunstmärchen die Prosaform zählt und andere Formentypen wie Märchenballaden, Versmärchen und andere dahinter zurücktreten.

„Der erst in neuerer Zeit gefundene und definierte Gattungsbegriff wird also nur auf Erzählungen angewandt, deren Verfasser, Entstehungszeit sowie autorisierte Textgestalt bekannt sind und die ein schon vorliegendes Gattungsmodell imitieren.“[6]

Auch Hans Christian Andersens Schneekönigin zählt zu den Kunstmärchen. Es folgt eine Auflistung mit Gründen, warum das so ist:

  1. Bekannter Autor: Andersens Werke stammen aus seiner Feder – er ist eindeutig als Urheber identifizierbar.
  2. Geplante, literarische Gestaltung: „Die Schneekönigin“ wurde schriftlich verfasst, mit bewusst aufgebauter Handlung, Symbolik und psychologischer Tiefe.
  3. Künstlerischer Stil: Das Märchen ist sprachlich ausgearbeitet, poetisch und voller stilistischer Feinheiten – anders als die einfache, formelhafte Sprache von Volksmärchen.
  4. Komplexe Figuren: Gerda und Kay besitzen inneren Konflikt, Gefühle und eine Entwicklung; die Figuren sind nicht eindimensional, sondern psychologisch nachvollziehbar.
  5. Reflektiertes Wunderbares: Die magischen Elemente, wie die Schneekönigin selbst oder der Spiegelsplitter, sind symbolisch aufgeladen und tragen thematische Bedeutung – sie werden nicht einfach als selbstverständlich angenommen.
  6. Individuelle Botschaft: Andersens Märchen thematisiert Liebe, Treue, Mut, innere Reife und die Überwindung von Kälte – es enthält also bewusst gestaltete moralische und psychologische Botschaften, die über reine Unterhaltung hinausgehen.

Kurz gesagt: Weil Die Schneekönigin ist ein Kunstmärchen, weil der Text einen bekannten Autor, literarische Planung, komplexe Figuren und symbolische Tiefe hat.

Figurenliste aus Andersens Schneekönigin

Gerda (in deutschen Versionen auch Gretchen)

  • Hauptfigur, kleines Mädchen, ca. 7-10 Jahre
  • Funktion: Heldin, Retterin, Verkörperung von Liebe und Unschuld
  • Entwicklung: Wächst durch die Reise, bleibt ein unschuldiges „Kind im Herzen“
  • Symbol für selbstlose Liebe, Unschuld und Beharrlichkeit

Kay (auch: Kai und in deutschen Versionen Karl)

  • Gerdas Spielgefährte, gleichaltrig
  • Funktion: Das Opfer, das gerettet werden muss
  • Transformation: Von liebevoll zu kalt und zynisch nach dem Splitter
  • Symbol für emotionale Entfremdung und Erlösungsbedürftigkeit

Die Schneekönigin

  • Übernatürliches Wesen, Herrscherin des Winters
  • Funktion: Antagonistin, aber komplex und ambivalent
  • Schön, mächtig, kalt, einsam – nicht böse im üblichen Sinne
  • Symbol für Kälte, Tod, aber auch erhabene Schönheit

Die Großmutter

  • Kais und Gerdas Großmutter
  • Funktion: Erzählerin, Hüterin von Wissen und Tradition
  • Erzählt von der Schneekönigin, liest aus der Bibel

Der Troll/Teufel

  • Schöpfer des bösen Spiegels
  • Funktion: Urheber des Unheils, aber tritt nicht als Figur auf
  • Repräsentiert das Böse in der Welt als abstrakte Kraft

Die Zauberin mit dem Blumengarten

  • Alte Frau mit magischem Garten
  • Funktion: Verführerin (will Gerda behalten), aber nicht wirklich böse
  • Zeigt, dass auch gut gemeinte Besitzansprüche problematisch sind

Die Blumen im Garten

  • Verschiedene Blumen, die alle ihre eigene Geschichte haben
  • Funktion: Erzählerinnen, die Gerda ablenken
  • Verkörpern Schönheit, aber auch Selbstbezogenheit

Die Krähe und der Krähenmann

  • Zahme und wilde Krähe – Natur vs. Kultur
  • Funktion: Helfer, führen Gerda zum Schloss, Vögel als Botschafter
  • Zeigen Treue (die Krähe folgt Gerda zunächst)

Der Prinz und die Prinzessin

  • Junges königliches Paar
  • Funktion: Helfer, zeigen Großzügigkeit und Mitgefühl
  • Die Prinzessin ist klug und selbstbestimmt – ein positives Rollenbild

Das Räubermädchen

  • Wildes, ungezähmtes Mädchen in Räuberbande
  • Funktion: Ambivalente Figur – gewalttätig, aber auch großherzig
  • Zeigt Charaktertiefe: Sie ist rau, aber nicht herzlos
  • Verkörpert ungezähmte Natur und emotionale Direktheit

Die alte Räuberfrau

  • Mutter oder Anführerin der Räuberbande
  • Funktion: Bedrohliche Figur, die aber vom Räubermädchen kontrolliert wird
  • Zeigt die Macht familiärer Bindungen

Die Waldtauben

  • Gefangene Tauben in der Räuberhöhle
  • Funktion: Informantinnen, haben Kay mit der Schneekönigin gesehen
  • Verbindung zwischen verschiedenen Handlungsorten

Das Rentier

  • Zahmes Rentier, ursprünglich Besitz der Räuber
  • Funktion: Haupthelfer und Reisegefährte für Gerda
  • Kennt den Weg nach Lappland, ist selbst heimwehkrank
  • Verkörpert Treue, Sehnsucht nach Heimat und die Verbindung zur Natur

Die Finnin

  • Weise Frau
  • Funktion: Weisheitsfigur, erklärt, dass Gerda keine zusätzliche Macht braucht
  • Repräsentiert natürliche Weisheit, weil sie erkennt, dass Gerda bereits mächtig ist durch ihre Herzenskraft
  • Wichtigste Helferin, die Gerda die wahre Natur ihrer Stärke offenbart

Verwendete Literatur

Hans Christian Andersen: Die Schneekönigin, online bspw. unter: Internet-Märchen.de: https://internet-maerchen.de/mobile/die-schneekoenigin/ (zuletzt aufgerufen am 17.11.2025).

Noack, Meggan: Der Spiegel und die Psyche. Spiegelmetaphorik und jugendliche Reifungsprozesse psychologisch erläutert am Beispiel von Hans Christian Andersens Schneekönigin. In: Zur Ästhetik psychischer Krankheit in kinder- und jugendliterarischen Medien. Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert. Hg. von Iris Schäfer. Göttingen 2020, S. 393-411.

Rölleke, Heinz: Kunstmärchen. In RL 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2007, S. 366-369.

Detering, Heinrich: Hans Christian Andersen. In: Kindler Kompakt. Märchen. Ausgewählt von Stefan Neuhaus. Stuttgart 2017, S. 139-142.

Katrin Beißner

[1] Noack, Meggan: Der Spiegel und die Psyche. Spiegelmetaphorik und jugendliche Reifungsprozesse psychologisch erläutert am Beispiel von Hans Christian Andersens Schneekönigin. In: Zur Ästhetik psychischer Krankheit in kinder- und jugendliterarischen Medien. Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert. Hg. von Iris Schäfer. Göttingen 2020, S. 393-411, S. hier S. 409. [2] Detering, Heinrich: Hans Christian Andersen. In: Kindler Kompakt. Märchen. Ausgewählt von Stefan Neuhaus. Stuttgart 2017, S. 139-142, hier S. 139. [3] Hans Christian Andersen: Die Schneekönigin, online unter: Internet-Märchen.de: https://internet-maerchen.de/mobile/die-schneekoenigin/ (zuletzt aufgerufen am 17.11.2025). [4] Rölleke, Heinz: Kunstmärchen. In RL 2. Hg. von Harald Fricke. Berlin/New York 2007, S. 366-369, hier S. 366. [5] Ebd. [6] Ebd.

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