9. Dezember | Florian Illies‘ Zauber der Stille lädt zu einer Entdeckungsreise abseits der von Schnelligkeit und Hektik geformten Gesellschaft ein: einer Reise in die Stille der ästhetischen Erfahrungen auf den Spuren von Caspar David Friedrich, dem berühmten deutschen Maler der Romantik. Dabei verbindet Illies kunsthistorische Betrachtung mit Zeitgeschichte sowie dem Leben und der Kunst Friedrichs. Ich habe bereits 1913. Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies mit Begeisterung gelesen und mir darum auch Zauber der Stille besorgt.
Ich habe den Maler als Erzählzentrum von Zauber der Stille betrachtet. Wie bei einer Kunstausstellung betreten wir verschiedene Räume, die mit der Kunst Caspar David Friedrichs ausgestattet sind, allerdings mit unterschiedlichen Themen, die sich allesamt auf den Künstler zurückbeziehen, doch verschiedene Personen und Zeiten mit einbeziehen, auf andere Ereignisse und Personen, Literatur und Daten verweisen. Insofern ist Illies‘ Werk eine Hommage an die Kunst und das Wirken Caspar David Friedrichs, dessen Werke immer noch zu Kontemplation, zum Verweilen, zur Reflexion und zum Staunen, zum Innehalten in der Stille einladen. Florian Illies hat die Kunst des bedeutenden Malers in die Gegenwart geholt und ihm ein literarisches Denkmal gesetzt.
Zauber der Stille ist lesenswert, weil…
👉 es Caspar David Friedrich nicht als fernen Klassiker behandelt, sondern hautnah als Künstler zeigt, dessen Themen wie Einsamkeit, Vergänglichkeit, Naturerfahrung immer noch aktuell sind.
👉 Illies Friedrich biografisch zugänglich macht: Die Bilder werden lesbar als Verarbeitung von Traumata, Verlusten und existenziellen Fragen, ohne dass sie auf Psychologie reduziert werden.
👉 das Buch zeigt, wie radikal Friedrichs Malerei war – er brach mit Konventionen, malte leere Räume, Rückenfiguren, Nebel, und machte damit etwas sichtbar, das vorher nicht malbar schien: innere Zustände.
👉 Illies‘ Sprache poetisch und präzise ist: Er beschreibt Friedrichs Bilder so, dass man sie vor sich sieht, und öffnet dabei Deutungsräume, statt eindeutige Interpretationen zu liefern.
👉 es uns lehrt, Friedrichs Bilder nicht nur anzusehen, sondern mit ihnen zu verweilen – als Übung in Langsamkeit, Aufmerksamkeit und Kontemplation.
Ein Vorgeschmack auf Zauber der Stille
Im Jahre 1810 malt Friedrich das vielleicht kühnste Bild, das er je malen wird, den »Mönch am Meer«. Monatelang quält er sich damit rum. Besucher in seinem Atelier beschreiben das Bild, und offenbar sieht es ständig anders aus. Erst ist es Nacht, dann Tag. Erst gibt es viele Boote auf dem Meer, dann übermalt Friedrich sie wieder. Das riesige Gemälde steht monatelang auf der Staffelei, und anscheinend wird es von Woche zu Woche radikaler. Am Ende bleibt nur der Mönch übrig und über ihm und um ihn 19 Möwen. Ein bisschen Sand, viel Wasser und dann der unendliche Himmel, der alles wie ein Schlund zu verschlingen scheint.
Weil er von allen Seiten gedrängt wird, also vor allem von seinen beiden malenden Verehrerinnen Caroline Bardua und Louise Seidler, besucht Goethe am 18. September 1810, auf dem Rückweg von seiner Kur in Teplitz, tatsächlich Caspar David Friedrich in seinem Atelier. Hier zeigt sich wieder einmal Goethes untrüglicher Sinn für den historisch entscheidenden Moment. Denn er steigt die Stufen zu Friedrichs Wohnung im Haus An der Eibe 27 genau dann hinauf, als dort die sächsische, die deutsche und die europäische Malerei einen Quantensprung vollzieht. Aber Goethe, gefangen in seiner Sehnsucht nach lebenspraller, erzieherischer Kunst, ist gar nicht in der Lage zu erkennen, was da im kargen Atelier von Friedrich auf der Staffelei steht. Er notiert abends in sein Tagebuch: »Zu Friedrich. Dessen wunderbare Landschaften. Ein Nebelkirchhof, ein offenes Meer.« Und wenn Goethe »wunderbar« sagt, dann ist das leider kein Kompliment, es bedeutet eher »wundersam« oder »wunderlich«, denn Friedrich wird ihm immer fremder. Die Melancholie auf seinen Bildern macht Goethe schier verrückt, sicher auch, weil er seine eigene gefährdete Seele fast panisch von diesen schwermütigen Tönen reinhalten will.
Der »Nebelkirchhof«, das ist die »Abtei im Eichwald« und das »offene Meer« ist der »Mönch am Meer«, er spürt also die »Offenheit« dieses Bildes, aber er nimmt sie nur als Gefahr wahr, nicht als den kühnsten und modernsten Ausdruck des Verlorenseins in der Gegenwart. Robert Rosenblum wird 1975 den »Mönch am Meer« auf das Cover seines Standardwerkes Modern Painting and the Northern Romantic Tradition setzen und dem Buch den Untertitel Friedrich to Rothko geben. Was im Sommer 1810 entstanden ist, ist der Anfang der abstrakten Malerei.
Der »Mönch am Meer« ist das Bild eines verzweifelten Mannes. Gnadenlos lastet der düstere Himmel auf den Schultern des einsamen Mönches am dunklen Wasser, er steht verloren auf einem kleinen Sandhügel am Rande des finsteren Ufers. Es formuliert letztlich die Paradoxie des Glaubens: eine Aufrechterhaltung der Hoffnung im Wissen um deren Aussichtlosigkeit. Friedrich malt das Bild, als er kurz hintereinander erst seine Schwester und dann seinen Vater verloren hat, das Bild ist von Monat zu Monat dunkler und radikaler geworden, wie wir von den Besuchern seines Ateliers wissen. Nie zuvor ist das Zweifeln an Gott, die Nichtigkeit des Einzelnen und seine Verlorenheit angesichts der Urkräfte der Natur kompromissloser dargestellt worden. Es ist seine Erinnerung an sich selbst und sein Zerschmelzen am Strand von Rügen. Es ist der Urknall der Romantik.
Der Theologe Friedrich Schleiermacher ist derjenige, der Friedrich darum bittet, das Bild zur Ausstellung der Berliner Akademie zu senden, die im Herbst 1810 eröffnet wird. Er ist fasziniert von diesem modernen Mönch. Die Figur ist natürlich ein Selbstbildnis, der Mönch ist Verführer und Verführter zugleich: Gott hat ihn gelockt und dann allein gelassen – und nun verführt er uns, auf dass wir uns mit ihm in seinen abgründigen Strudel stürzen.
Wer es besonders abgründig mag, der kann in dem dazugehörigen Bild, der »Abtei im Eichwald«, die Friedrich auf eine Leinwand vom gleichen Leinenballen gemalt hat, auch das Begräbnis jenes Mönches sehen, der hier gerade noch am Strand über den Sinn des Lebens nachgedacht hat. Aber so abgründig denkt 1810 zum Glück noch niemand.
Weil Friedrich immer und immer wieder an dem Bild herumgedoktert hat, kann er es erst zur Berliner Ausstellung senden, als diese längst eröffnet hat. Noch ist die Ölfarbe nicht durchgetrocknet, wer sich dem Bild nähert, kann dessen Frische riechen. Aber die Besucher der Ausstellung wollen sich ihm gar nicht nähern. Sie reagieren verwirrt und verstört. Es wird gespottet. Alles untrügliche Anzeichen dafür, dass hier etwas wirklich Neuartiges zu sehen ist. Achim von Arnim und Clemens Brentano schreiben für Heinrich von Kleists neue Zeitung, die Berliner Abendblätter, eine lustige Dialoggeschichte. Da unterhalten sich zwei vor dem Bild, und es wird über Erhabenheit gejuxt und über Ergriffenheit. Das gefällt den Leuten. Nur einem gefällt es nicht: dem Herausgeber Kleist. Aus Zorn greift er selbst zur Feder. Es wird einer seiner größten Texte, weil er so pur ist, so ungeschützt, genau wie Friedrichs Bild. Aus den »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft« wird immer nur dieser eine Satz zitiert, dieses, »so« ist es, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«. Doch man sollte den Text in Gänze lesen, auch wenn es dann ungemütlich wird. Kleist nämlich schreibt über den am Strand verlorenen Mönch: »Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt … wie die Apokalypse da.«
Und dann schreibt er, nun müsse er aufhören, denn was er weiter empfinde, wage er nicht auszusprechen. Die Aussichtslosigkeit, die Kleist in Friedrichs Bild erkennt, ist seine eigene. Sie reißt ihn mit. Wenige Monate später wird er das Unaussprechliche tun und sich mit einer Pistole erschießen.
Und wo? Auf einem kleinen Sandhügel -am Rande des Kleinen Wannsees bei Berlin. Hinter ihm der dunkle See. Über ihm der dunkle Himmel. Er hat das Bild von Caspar David Friedrich als Handlungsanweisung und als Bühnenbild verstanden – und in radikalster Konsequenz zu Ende gedacht. Ich kann bis heute den »Mönch am Meer« nicht ansehen, ohne zu denken, dass die Figur eine Pistole unter ihrer Kutte trägt.
Aus: Florian Illies: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. 3. Auflage Dezember 2023. Frankfurt am Main 2023, S. 107-111.
Zur Kunst von Caspar David Friedrich
Der erwähnte Beitrag zum Mönch am Meer aus Kleists Berliner Abendblättern ist online einsehbar. Ich habe zu Schulzeiten einmal einen Aufsatz über Caspar David Friedrichs Kunst verfassen müssen – konkret handelte es sich um Der Mönch am Meer. Einmal davon abgesehen, dass meine Ansichten mit denen des Lehrers nicht übereinstimmten, bin ich nach wie vor ein Fan der Kunst Caspar David Friedrichs. Und aus diesem Grund möchte ich, mich in Erinnerungen wälzend, neben direkten Aussagen zur Kunst vom Künstler auch konkreter auf besagtes Gemälde eingehen, das natürlich auch einen Platz im Zauber der Stille innehat und darüber hinaus sogar gemeinfrei ist, sodass ich es abbilden kann. In vielen seiner Bilder malt Caspar David Friedrich Rückenfiguren, die an die Interieurs des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi erinnern. So schreibt Friedhelm Mennekes SJ in einem Beitrag zur Kunst Friedrichs: „Die Darstellung von Betrachter* innen, die dazu anregen, über das Sehen an sich nachzudenken. In den Jahren um 1810 vermehren sich in Friedrichs Bildern solch nachdenkliche Menschen, welche nicht nur der objektiven Natur nachspüren, sondern ebenso den inneren Spannungen zwischen dem eigenen Erleben und der rätselhaften, überwältigenden Natur. Sie transformieren sich oft zu Rückenfiguren, die in der Regel in eine stille Betrachtung vertieft sind. Woher sie kommen und was sie in die tiefe Betrachtung der Landschaft geführt hat, bleibt offen. Umso stärker tritt hervor, was die Rückenfiguren im dargestellten Augenblick tun: Sie betrachten die Natur, aber auch sich selbst. Mit seinen Rückenfiguren versetzt auch uns Friedrich nicht nur in die Lage, vollkommen in die dargestellte Natur einzutauchen. Es geht ihm nicht allein um die Natur, sondern auch die Beziehung zwischen Mensch und Natur steht im Zentrum. Der Mensch ist Teil der Natur und bleibt ihr gegenüber doch in distanzierter Haltung.“[1]
Natürlich lässt sich die Kunst von Caspar David Friedrich nicht auf diesen Text herunterbrechen. Man sollte es schon selbst gesehen haben. Am besten in diversen Ausstellungen. Zum Beispiel im Caspar-David-Friedrich-Zentrum in Greifswald oder im Casparversum, dem Caspar David Friedrich Digital Museum.
Zum Autor Florian Illies
Florian Illies, geboren 1971, ist Kunsthistoriker, Journalist und Schriftsteller. Er wurde mit dem Generationenporträt Generation Golf (2000) bekannt, das die westdeutsche Mittelschicht der 1970er und 1980er Jahre beschrieb. Sein internationaler Durchbruch gelang ihm mit 1913. Der Sommer des Jahrhunderts (2012), einem Kaleidoskop der europäischen Kulturgeschichte am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Illies verbindet in seinen Büchern historische Recherche mit erzählerischer Leichtigkeit; er schreibt über Kunst, Geschichte und Gegenwart in einem Stil, der essayistisch und zugänglich zugleich ist. Von 2003 bis 2021 war er Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, seit 2022 leitet er das Berliner Auktionshaus Villa Grisebach. Zauber der Stille erschien 2023 und ist eine Reflexion über Kunst, Natur und die Möglichkeit, in einer lauten Welt innezuhalten.
Caspar David Friedrich über Kunst
In seinen Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemälden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern äußert sich Caspar David Friedrich selbst teils theoretisch, teils kunstkritisch zu den Werken vieler Künstler.
Es macht immer einen widrigen Eindruck
auf mich in einem Saal oder Zimmer eine
menge Bilder wie Waare aufgestellt
oder aufgespeichert zu sehen wo der Beschauer
nicht jedes Gemälde für sich getrennt
betrachten kann ohne zugleich vier halbe
andere Bilder mitzusehen. Die Wertschätzung
solcher Anhäufung von Kunstschätzen
muß wohl bei jedem Betrachter herabsinken,
wenn überdies öfter wohl gar geflißendlich
daß Widersprechenste neben einander
aufgestellt ist, mithin das eine Bild das
Andere, wenn auch nicht ganz aufhebt
doch schaden muß und der Eindruck beider
oder aller geschwächt. Daher mag es nicht
befremden wenn bei schon eingestandener
Verstimmung meine Äußerungen etwas
hart klingen möchten. Bilder sehe ich nur
um mich daran zu erfreuen, und wo von
ich mich nicht angezogen fühle, liegt es nun
in meiner Stimmung oder Verstimmung
davon wende ich mich lieber schweigend
weg. Doch wohin das Auge wenden selbst
Thüre und Fenster sind nicht frei von
Bildern. Doch man verlangt einmal
daß ich reden soll, wohl an denn!
Aus: Caspar David Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemälden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen I. Bearbeitet von Gerhard Eimer in Verbindung mit Günther Rath. Weimar 1999 (Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte XVI), S. 20, Zeile 6–38. Online unter https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:32-1-10039325664 (zuletzt aufgerufen am 30.11.2025).
[1] Friedhelm Mennekes SJ: Caspar David Friedrich. Kunst für eine neue Zeit. In: Stimmen der Zeit 5/2024, S. 333-345, hier 339-340.
- Zauber der Stille: Illies‘ Hommage an Caspar David Friedrich – 9. Dezember 2025
- Das Dekameron von Giovanni Boccaccio: Liebe, Täuschung & Menschenkomödie“ – 8. Dezember 2025
- Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger – vielstimmige Prosa mit Sogwirkung – 7. Dezember 2025
Bildquellen
- Zauber der Stille: Florian Illies: Zauber der Stille. Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten. 3. Auflage Dezember 2023. Frankfurt am Main 2023.
- -Caspar_David_Friedrich_-_Der_Mönch_am_Meer: Caspar David Friedrich, Public domain, via Wikimedia Commons