Das Dekameron von Giovanni Boccaccio: Liebe, Täuschung & Menschenkomödie“

8. Dezember | Das Dekameron mag vielleicht aufgrund seiner vielen Seiten abschreckend wirken, ist jedoch gerade aufgrund seiner auf vielen Seiten untergebrachten kurzen Novellen ein äußerst guter Zeitvertreib; man könnte es auch als Wegkürzer bezeichnen (Mit Kindle geht das noch besser). Giovanni Boccaccio (1313–1375) war einer der berühmtesten Autoren des europäischen Mittelalters und zählt neben Dante und Petrarca zu den „drei Kronen“ der italienischen Literatur. Er gilt als Wegbereiter der Novelle und als Schriftsteller, der die Volkssprache literaturfähig machte. Sein hierzulande wohl bekanntestes Werk, das Dekameron (Decamerone) entstand zwischen 1349 und 1353. Man beachte den Entstehungszeitraum mit 1349, denn es handelt sich hier um den Zeitraum unmittelbar nach dem Ausbruch der verheerenden Pestepidemie, die Florenz 1348 traf. Insofern ist die Rahmenhandlung des Werkes deutlich an zeitgenössische Ereignisse angelehnt: Sieben Frauen und drei Männer fliehen vor der Pest aus Land und verbringen dort zwei Wochen. Zum Zeitvertreib und um sich nicht mit Gedanken an das Grauen der Pest herumzuschlagen, erzählen sie sich gegenseitig Geschichten, und zwar für 10 Menschen jeweils eine pro Tag, woraus sich insgesamt 100 Geschichten ergeben.

Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Aus dem Italienischen von Karl Witte. München 2020.

Einem Wendepunkt in der europäischen Literaturgeschichte gleich wendet Boccaccio sich von der scholastischen Tradition ab und der menschlichen Wirklichkeit zu. Mit Ironie, Sinn für Details und viel Humor sowie psychologischer Raffinesse entwirft er ein Panorama der Conditio humana aus verschiedenen Perspektiven

Giovanni Boccaccios Dekameron ist lesenswert, weil…

👉 es einen universellen und unzensierten Blick auf die menschliche Natur bietet.

Boccaccio zeigt sämtliche des menschlichen Lebens: Liebe und Betrug, Klugheit und Torheit, Großzügigkeit und Gier, Sex und Leidenschaft. Aus allen Gesellschaftsschichten stammen seine Figuren – von Königen bis zu Dienern, von Äbten bis zu Kaufleuten, Gärtner, Juden, Grabräuber, Scharlatane und Prinzessinnen – und verhalten sich zeitlos menschlich.

👉 es mit überraschender Modernität Themen behandelt, die immer noch aktuell sind.

Die Doppelmoral der Gesellschaft, die Rolle der Frau, die Macht der Intelligenz und Eloquenz über rohe Gewalt, die Heuchelei religiöser Institutionen – der Boccaccio durchsticht sämtliche Klischees oder überspitzt sie maßlos. Die Frauenfiguren sind oftmals klug, listig und moralisch den Männern überlegen – ein Umstand, den Boccaccio schon in seiner Einleitung heraushebt, weil er für Frauen schreibt, die nicht viel im Leben zu lachen hätten, was er mit dem Dekameron habe ändern wollen.

 „In diesen Geschichten wird man lustige und betrübte Liebesereignisse und andere abenteuerliche Begebenheiten kennenlernen, die sowohl in neuen als alten Zeiten sich zugetragen haben und jenen Frauen, welche diese Geschichten lesen, mit den spaßhaften Dingen, die darin vorkommen, gleich viel Vergnügen, als guten Rat gewähren und sie unterrichten werden, was sie fliehen und was sie wieder erstreben sollen.“ (Aus: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Aus dem Italienischen von Karl Witte. München 2020, S. 31) Das mag aus der Perspektive des 14. Jahrhunderts bemerkenswert erscheinen, doch sind die Novellen eben beim genaueren Hinsehen dennoch Kinder ihrer Zeit.

👉 es außerordentlich unterhaltsam ist.

Zum Wert guter Unterhaltung tragen der originelle Humor, unerwartete Wendungen, Spannung, lebendige und gewitzte Dialoge bei, die zudem einen Querschnitt der Gesellschaft präsentieren und daher auch jedem, der lesen konnte oder die Geschichten vorgelesen bekam, Anlass zum Lachen gaben. Boccaccio ist ein Meister-Erzähler: Er weiß, wann er verweilen und wann er raffen muss, wie er Spannung aufbaut und überraschen kann.

👉 es mit seinem Erzählstruktur die europäische Novellistik revolutioniert hat.

Die Einbettung der Haupthandlung in einen Rahmen – zehn Menschen fliehen vor der Pest aus Florenz aus Land und erzählen sich Geschichten – war innovativ. Unzählige Künstler und Autoren haben sich von Boccaccios Vorbild inspirieren lassen, zum Beispiel Geoffrey Chaucer mit seinen Canterbury Tales oder Goehte mit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Boccaccio erschuf mit dem Dekameron narrative Komposition, die Ordnung und Vielfalt miteinander verbindet und die Erzählkunst auf eine neue literarische Ebene hob.

👉 es zeitlose menschliche Eigenschaften mit Wiedererkennungswert darstellt.

Die Geschichten behandeln universelle Themen, welche die Menschheit seit jeher beschäftigen: List und Gegenlist, unerfüllte Liebe, Treue und Verrat, Gier und Großzügigkeit und weitere. Man könnte das Dekameron auch als Panoptikum bezeichnen, in denen sämtliche Eigenschaften des Menschen vorgeführt werden, oft in einem humorvollen, manchmal satirischen oder ironischen Ton. Boccaccio zeigt die Komplexität des Menschen mit Worten. Gerade weil er sämtliche Bevölkerungsgruppen einbezieht und sie umfassend beschreibt, akribisch alle bekannten Regungen des Menschseins einarbeitet wirken seine Figuren erstaunlich modern und weiterhin nachvollziehbar.

Ein Vorgeschmack auf das Dekameron

Sechster Tag: Achte Geschichte

Fresco rät seiner Nichte, niemals in den Spiegel zu sehen, wenn ihr der Anblick unausstehlicher Leute so widerwärtig sei, wie sie behaupte.

Die Geschichte, die Philostratus erzählt hatte, erregte in den Herzen der zuhörenden Mädchen anfangs ein wenig Scham, wovon die sittsame Röte, mit der ihre Wangen sich färbten, Zeugnis gab; allmählich aber schielte eine nach der andern, und sie hörten dem Verlauf der Geschichte lächelnd zu, des lauten Lachens nur mit Mühe sich enthaltend. Als endlich der Erzähler zum Schlusse gediehen war, wendete die Königin sich an Emilien und gebot ihr, fortzufahren. Diese aber begann tief aufatmend, nicht anders, als ob sie eben erst vom Schlaf erwachte:

Ihr holden Mädchen, da eine Reihe von Gedanken, die gar vieles in sich begriffen, mich eine lange Weile fern von hier entrückt hat, so werde ich, unserer Königin gehorchend, mit einer viel kürzern Geschichte mich meiner Schuld entledigen, als ich vielleicht getan haben würde, wenn mein Geist hier gegenwärtig gewesen wäre. In dieser Geschichte aber will ich euch von der törichten Verkehrtheit eines Mädchens erzählen, die durch einen beißenden Einfall ihres Onkels wäre gestraft worden, wenn sie nur hinlängliche Einsicht gehabt hätte, um ihn zu verstehen.

Ein Mann also, welcher Fresco da Celatico hieß, hatte eine Nichte, die man abkürzungsweise nur Cesca zu nennen pflegte. Obwohl diese recht hübsch von Gestalt und von Gesichtszügen war, konnte man sie doch nicht zu jenen Engelsbildern zählen, denen wir nicht selten begegnen; sie aber hielt sich für so hoch und erlesen, daß es ihr zur Gewohnheit geworden war, Männer und Frauen, und was immer ihr vor die Augen kam, zu tadeln, ohne daß sie dabei sich selbst nach rechtem Maße gewürdigt hätte. Dadurch wurde sie denn mehr als irgendeine andere unbequem, widrig und überlästig, da es unmöglich war, irgendetwas ihr recht zu machen. Bei dem allen war sie so hochmütig, daß selbst, wenn sie zum Stamme Karls des Großen gehört hätte, es dennoch zuviel gewesen wäre. Und wenn sie über die Straße ging, war ihr jeden Augenblick irgendwas nicht gelegen, so daß sie nicht aufhörte, ihre Nase zu rümpfen, als ob von jedem, den sie sähe, oder der ihr begegnete, unleidlicher Gestank sie anwehte.

So manche ihrer mißliebigen und widerwärtigen Manieren zu geschweigen, geschah es indes eines Tages, daß sie voll von ihren Unleidlichkeiten nach Hause zurückkehrte und, während sie sich dort neben Fresco niedersetzte, in einem fort vor Ärger schnaufte. Darum sagte Fresco: »Was hat das zu bedeuten, Cesca, daß, während heute Festtag ist, du schon so früh nach Hause zu rückgekehrt bist?« Sie aber antwortete mit der albernsten Ziererei: »Ja, freilich bin ich früh gekommen, denn ich glaube sicherlich, daß in dieser Stadt noch niemals so viele widerwärtige und unausstehliche Männer und Frauen beisammen gewesen sind, als ich deren heute getroffen habe. Da geht doch auch nicht einer über die Straße, der mir nicht zuwider wäre wie das böse Wesen. Weil ich aber fest überzeugt bin, daß in der ganzen Welt kein Mädchen ist, dem es so verhaßt wäre, unausstehliche Leute zu sehen, als mir, bin ich, um diesem Anblick zu entgehen, früh nach Hause gekommen.«

Fresco, dem das hochfahrige Betragen seiner Nichte auf das äußerste zuwider war, antwortete: »Mein Kind, wenn die unausstehlichen Leute dir so widerwärtig sind als du sagst, so besieh dich, wenn du deines Lebens froh bleiben willst, ja niemals im Spiegel.« Sie aber, die hohler war als ein Schilfrohr und an Weisheit dem Salomo zu gleichen vermeinte, begriff den Stich des Fresco nicht besser, als es ein Widder getan haben würde, und erwiderte, sie gedenke sich ebensogut im Spiegel zu besehen als die andern.

So verharrte sie denn ferner in ihrer Einfalt und tut es noch heute.

Aus: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Aus dem Italienischen von Karl Witte. München 2020, S. 514-515.

Die Essenz der achten Geschichte des sechsten Tages im Dekameron

Es geht in den Geschichten des sechsten Tages um Schlagfertigkeit. Das ist an dieser kurzen Novelle sehr gut erkennbar: Es handelt sich um eine satirische Lektion zu Selbstüberschätzung und fehlende Selbsterkenntnis. Cesca ist eingebildet und blickt auf alle Menschen grundlos herab. Ihr Onkel Fresco will ihr mit seinem Kommentar am Ende den Spiegel vorhalten, doch sie versteht nicht, was er meint, weil sie – schlicht gesagt – zu dumm und selbstverliebt ist.

Es wird also ein zeitloser „Defekt“ oder „Makel“ des Menschen illustriert, und zwar die Unfähigkeit zur Selbstreflexion bei gleichzeitiger Hybris.

Cesca

  • kritisiert und verachtet alle
  • hält sich selbst für erhaben und makellos
  • ist blind für die eigenen Fehler
  • merkt nicht, dass sie das Problem ist

Wenn also Fresco sagt: »Mein Kind, wenn die unausstehlichen Leute dir so widerwärtig sind als du sagst, so besieh dich, wenn du deines Lebens froh bleiben willst, ja niemals im Spiegel.« – dann ist das Ironie. Cesca erhält durch Ironie die Chance zur Selbsterkenntnis, doch sie versteht den Wink nicht.

Bemerkenswert ist Boccaccios ökonomische Erzählweise: In wenigen Sätzen wird der Charakter des Mädchens bloßgestellt und offenbart. Die Vergleiche „hohler als ein Schilfrohr“ oder die Gleichsetzung ihrer Weisheit mit dem weisen Salomo ist vernichtend prägnant.

Die Aussichtslosigkeit am Ende, denn manche Menschen sind eben unbelehrbar, lässt Resignation aufkommen. Dabei besitzt diese Novelle (eigentlich alle Novellen im Dekameron) universelle Relevant, weil sie von zeitloser Aktualität ist. Ich denke auch, dass jede*r solche „Cescas“ kennt – Menschen, die ständig jammern, andere kritisieren, sich beschweren und dabei nicht merken, dass sie selbst das Problem sind.

Auch, wenn Boccaccios Novelle wie ein längerer Witz anmutet – mit einer Pointe am Ende – so kann man auch die indirekte bzw. mitschwingende „Warnung“ vor

  • Mangelnder Selbstkenntnis
  • Übersteigerter Selbsteinschätzung
  • Der Unfähigkeit, Kritik zu verstehen
  • Hochmut und Arroganz erkennen.

„Anderen den Spiegel vorhalten“

Was ich an diese Novelle so genial finde, ist die Metapher des Spiegels. Denn ein Spiegel ist einmal ein Objekt, in das wir schauen, um unser Aussehen zu prüfen, es ist aber auch ein Symbol für Reflexion und Selbsterkenntnis. Wenn Fresco seiner Nichte zuletzt rät, dass sie sich selbst bloß nicht selbst im Spiegel ansehen solle, wenn ihr unausstehliche Leute zuwider seien, dann nutzt er die Spiegelmetapher, um Selbsterkenntnis bei Cesca zu forcieren. Weil sie aber zu dumm ist, klappt das nicht. In der Novelle ist daher das Sprichwort „anderen den Spiegel vorhalten“ inszeniert. Im Grunde könnte man auch sagen, dass die kurze Novelle stellvertretend für dieses Sprichwort gelten kann – sie inszeniert das Sprichwort nur in längerer Form. Gerade dies mag ich sehr an Boccaccio, diese Cleverness.

Allerdings bekommt hier eine Frau ihr Fett weg. Daher möchte ich noch eine andere kurze Novelle aufführen, bei der es um einen schwachen Herrscher geht, der durch die Aussage einer Frau wieder „auf Kurs gebracht wird“.

Erster Tag, neunte Geschichte aus Boccaccios Dekameron

Aus dem schwachen König von Zypern wird durch den Spott einer Edeldame aus der Gaskogne ein entschlossener Herrscher.

Die Königin hatte ihren Befehl nur noch an Elisen zu richten und diese begann, ohne ihn abzuwarten, mit freundlicher Miene also zu reden:

Schon oftmals, ihr jungen Mädchen, ist es geschehen, daß, wozu jemand mancherlei Tadel und häufige Strafen nicht bewegen konnten, ihr dazu ein einziges, mit Absicht, vielleicht sogar nur zufällig gesagtes Wort bewog. Davon gab uns die Geschichte der Lauretta ein schlagendes Beispiel, und ich will euch das gleiche in einer kurzen Erzählung dartun; denn gute Geschichten können uns immer förderlich sein, und so soll man ihnen immer aufmerksam zuhören, sei auch der Sprechende wer er wolle.

So sage ich denn, daß zu den Zeiten des ersten Königs von Zypern, nach der Eroberung des gelobten Landes durch Gottfried von Bouillon, eine Edeldame, die, von einer Pilgerfahrt nach dem Heiligen Grabe heimkehrend, Zypern besuchte, von ein paar ruchlosen Leuten auf empörende Weise beleidigt ward. Sie konnte sich ob dieses Frevels nicht zugute geben und war gesonnen, den König selbst anzurufen; doch einer ihrer Bekannten sagte ihr, sie werde sich nur vergebliche Mühe machen, denn der König führe ein so kleinmütiges und unwürdiges Leben, daß er, geschweige denn, andern angetanen, Schimpf gerecht zu rächen, unzähligen, ihm selbst zugefügten mit schnöder Feigheit ertrage, so daß, wer irgendeinen Verdruß gehabt habe, seinen Unmut in Beleidigungen und Hohn gegen den König zulasse.

Als die Dame dies vernahm, gab sie es auf, Rache zu erlangen, und wollte nur, um ihren Zorn einigermaßen zu befriedigen, diesen König wegen seiner niedrigen Gesinnung noch verspotten. Weinend trat sie vor ihn hin und sagte: »Herr, ich komme nicht zu dir, um Rache für die Beleidigung, die mir widerfahren ist, zu erlangen, sondern, statt aller Vergeltung für diese, bitte ich dich, mir zu sagen, wie du es anfängst, um die vielen Kränkungen, die man dir antut, zu ertragen. Dann werde ich, von dir belehrt, die meinige geduldig hinnehmen, während ich sie jetzt, der Himmel weiß es, dir, weil du deren so gut zu ertragen weißt, gern abgäbe.«

Der König, der bis dahin untätig und träge gewesen war, fing, als wäre er vom Schlage erwacht, damit an, den Schimpf, de dieser Dame angetan war, auf das nachdrücklichste zu rächen, und ward von dem Tage ein strenger Verfolger eines jeden, der gegen die Ehre seiner Krone das Mindeste sich zu Schulden kommen ließ.

Aus: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Aus dem Italienischen von Karl Witte. München 2020, S. 92-93.

Der Witz und die Moral der neunten Geschichte des ersten Tages aus dem Dekameron (Der König von Zypern)

Beiläufige Worte können eine große Wirkung entfalten – das kennt man auch aus dem Alltag, vielleicht sogar von sich selbst. Während Strafen, Tadel oder lange Ermahnungen oft nichts bewirken, kann ein einziges klug oder selbst zufällig gesprochenes Wort jemanden zum Handeln bewegen. Vielleicht durch jemand völlig Fremden, durch den man plötzlich einen Geistesblitz erhält oder aber durch eine uns liebe Person. In Boccaccios Novelle jedenfalls führt der indirekte Spott der Dame – denn sie geht sehr geschickt vor – zum entschlossenen Handeln des schwachen und trägen Königs. Ab sofort verteidigt er seine Würde. Intelligenz und Eloquenz siegen über Gewalt – das ist ein Aspekt, der in anderen Novellen des Dekameron immer wieder variationsreich auftaucht. Worte haben Macht und können andere Menschen durch gezielt gesetzte Impulse motivieren und Schwächen überwinden. Wie Elisa vor ihrer Erzählung ausführt, ist die Bedeutung des Zuhörens zum Verständnis einer Erzählung oder Gesprächen wichtig. Denn gute Geschichten tragen Lehren und Exempel in sich, aus denen man lernen und einen Nutzen ziehen kann.

Man könnte noch hinzufügen, dass die Dame erreicht mehr durch Ironie und indirekten Spott als durch direkte Anklage oder Forderung.

Struktur des Dekameron

Die architektonische Konstruktion des Dekameron offenbart Boccaccios kompositorisches Genie. Die Rahmenhandlung umfasst die zehn Protagonisten, die abwechselnd die Rolle des Tageskönigs oder der Tageskönigin übernehmen und jeweils ein Thema für die Geschichten des Tages vorgeben. Diese Themen sind sorgfältig gewählt und variieren zwischen spezifischen Vorgaben (etwa Streiche, Schlagfertigkeit oder Großmut) und freieren Themenstellungen.

Die Symmetrie der Struktur – zehn Erzähler, zehn Tage, zehn Geschichten pro Tag – schafft eine mathematische Ordnung, die dem Chaos der Pest entgegengesetzt wird. Innerhalb dieses geordneten Rahmens entfaltet sich jedoch eine erstaunliche Vielfalt: Die hundert Novellen unterscheiden sich in Ton, Stil, Länge und moralischer Ausrichtung erheblich. Von kurzen, pointierten Anekdoten bis zu ausführlichen, komplexen Erzählungen ist alles vertreten.

Besonders raffiniert ist die Anordnung der Geschichten: Boccaccio beginnt mit eher ernsten und moralischen Themen, bewegt sich zur Mitte hin zu leichteren, oft erotischen Stoffen und kehrt am Ende zu würdigeren, tugendhafteren Geschichten zurück. Der zehnte Tag, an dem Geschichten über großmütige Taten erzählt werden, bildet den Höhepunkt und Abschluss dieser Entwicklung.

Wer ist Giovanni Boccaccio?

Giovanni Boccaccio war ein italienischer Schriftsteller und Dichter des Mittelalters. Er wurde 1313 in Florenz geboren. Seine Werke zeichnen sich durch ihren realistischen Stil, ihre lebendigen Beschreibungen und ihre scharfe Beobachtungsgabe aus. Neben seiner literarischen Tätigkeit war Boccaccio auch als Diplomat und Gelehrter tätig und hatte enge Beziehungen zu den einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Sein Vermächtnis als einer der größten italienischen Schriftsteller lebt bis heute durch seine zeitlosen Werke weiter.

Neben dem Dekameron hat er noch andere Werke verfasst, die hierzulande vielleicht nicht so bekannt sind wie in Italien:

  • Der Liebesqualenroman / Il Filocolo (ca. 1336)
    • Früher Prosaroman; Liebesgeschichte von Florio und Biancifiore, Abenteuer und Prüfungen.
  • Der Trojaner / Il Filostrato (ca. 1335)
    • Versroman über Troilus‘ Liebe zu Criseyda vor dem Hintergrund des Trojanischen Krieges.
  • Fest der Amazonen / Teseida delle nozze d’Emilia (ca. 1340–1341)
    • Versepos: Kampf der Griechen gegen Amazonen, Liebeswirren um Emilia.
  • Die leidende Fiammetta / La Fiammetta (ca. 1343)
    • Psychologischer Ich-Roman; eine Frau schildert ihren Liebeskummer und Verlassenwerden.
  • Vision der Liebe / Amorosa visione (ca. 1342/43)
    • Allegorisches Traumgedicht, geprägt von Dante; Suche nach Ruhm und Liebe.
  • Nymphen von Fiesole / Ninfale Fiesolano (ca. 1345/46)
    • Erzählende Dichtung über Nymphen und die Ursprünge von Fiesole.
  • Von berühmten Frauen / De mulieribus claris (ca. 1361–1362, lateinisch)
    • Sammlung kurzer Lebensgeschichten berühmter Frauen aus Geschichte und Mythologie.
  • Vom Sturz berühmter Männer / De casibus virorum illustrium (ca. 1355–1374, lateinisch)
    • Lebensschicksale bedeutender Herrscher und Denker, die schwer gefallen sind.
  • Lobschrift auf Dante / Trattatello in laude di Dante (ca. 1357, mehrfach überarbeitet)
    • Biografische und lobende Darstellung von Dante Alighieri.
  • Genealogie der Götter / Genealogia deorum gentilium (ab ca. 1360, lateinisch)
    • Erklärendes Lexikon der antiken Götter und Mythen; Informationsquelle für Renaissance.
  • Eklogen / Eclogae (späte Lebenszeit, ca. 1360–1374, lateinisch)
    • Sammlung von Hirtengedichten in klassischer Tradition.

Die Verbindung von Giovanni Boccaccio zu Dante Alighieri

Boccaccio verehrte Dante Alighieri: Er schrieb eine Biographie, hielt öffentliche Vorlesungen über die Divina Commedia und trug maßgeblich zur Verbreitung von Dantes Ruhm bei. Der Name Dekameron ist eine Anspielung auf Dantes Commedia, denn beide Werke besitzen eine Zehnergliederung – daher das Deca, das im Lateinischen Zehn bedeutet.

Es gibt unzählige Forschungsbeiträge, die dieses Verhältnis illustrieren. Man könnte behaupten, das Dekameron sei gewissermaßen eine Umkehrung der Divina Commedia. Denn Dante bewegt sich vom Irdischen in die Tiefen der Hölle und vor dort aus ins Fegefeuer bis in den Himmel – hin zum Göttlichen mit der Liebe als transzendentale universelle Macht. Boccaccio ist auf das Jetzt fokussiert, auf das Diesseits und auf die jeweilige Situation, wo Menschen mit Blick auf den Vorteil in der irdischen Gegenwart handeln und den Blick in die Zukunft – das letzte Gericht oder das Leben nach dem Tod – vergessen zu haben scheinen. Sogar Geistliche kommen bei Boccaccio nicht gut weg. Er zeigt die menschliche Vielfalt in all ihrer Widersprüchlichkeit, ihren Lastern, Fehltritten und Fehlschlüssen. Während Dantes Denken in den Himmel strebt, zeigt Boccaccio das Spektrum des Menschseins aus einer komischen und ironischen Perspektive, die uns beim Lesen den besagten „Spiegel“ vorhalten kann.

Denn auch wenn die Geschichten zeitlich betrachtet in der Vergangenheit liegen, so ist ihr moralischer Kern, das, was ausgesagt werden soll, immer noch aktuell.

Und natürlich gibt es auch in der Benutzung der Sprache Unterschiede. Dante schrieb in Terzinen, einer erhabenen Form, die der anmutigen und erhöhenden Transzendenz seines Werkes entspricht. Boccaccio wählte Prosa als Mittel zur Darstellung des menschlichen Alltags, er zeigte mit dem Verfassen in Volkssprache das „Niedere Leben“ in all seiner Pracht. Es werden hier profane menschliche Erlebnisse dargestellt, niemand strebt nach Erkenntnis, Vergebung oder Erlösung, wie Dante in der Commedia. Was Boccaccio beschreibt, ist witzig, aber nicht göttlich. Die Form sagt insofern auch etwas über uns Menschen aus.

Insofern ergänzen sich Dantes und Boccaccios Werke zu einem vollständigen Bild der menschlichen und göttlichen Sphäre.

FAQ: Das Dekameron von Giovanni Boccaccio

Wann entstand das Dekameron?

Giovanni Boccaccio schrieb das Werk zwischen 1349 und 1353, unmittelbar nach der verheerenden Pestepidemie, die 1348 Europa heimsuchte und etwa ein Drittel der Bevölkerung tötete. Diese Katastrophe bildet den dramatischen Rahmen der Erzählungen.

Was bedeutet Dekameron?

Der Titel kommt aus dem Griechischen: „deka“ (zehn) und „hemera“ (Tag). Es bedeutet also „Zehn-Tage-Werk“. Der Titel verweist auf die Struktur: Zehn junge Menschen erzählen an zehn Tagen jeweils zehn Geschichten – macht 100 Novellen insgesamt.

Wie ist das Werk strukturiert?

Die Rahmenhandlung: Sieben junge Frauen und drei junge Männer fliehen 1348 aus dem pestverseuchten Florenz in eine Villa auf dem Land. Um sich die Zeit zu vertreiben und sich von den Schrecken abzulenken, erzählen sie sich gegenseitig Geschichten. Jeden Tag wird ein anderer zum „König“ oder zur „Königin“ ernannt, der/die ein Thema vorgibt. An zehn Tagen entstehen so 100 Novellen – die ersten 100 der europäischen Literatur.

Wer sind die zehn Erzähler?

Sieben junge Frauen: Pampinea (die Anführerin), Fiammetta, Filomena, Emilia, Lauretta, Neifile und Elissa. Drei junge Männer: Panfilo, Filostrato und Dioneo. Sie stammen alle aus der florentinischen Oberschicht, sind gebildet, elegant und dem Leben zugewandt. Dioneo hat eine Sonderrolle – er darf immer als letzter erzählen und ist nicht an das Tagesthema gebunden, was zu den frechsten Geschichten führt.

Wie wird die Pest beschrieben?

Boccaccios Einleitung ist eine der eindringlichsten Pestbeschreibungen der Weltliteratur. Er schildert die medizinische Hilflosigkeit, die zusammenbrechende soziale Ordnung, Familien, die ihre Toten aussetzen, Menschen, die entweder in wilde Ausschweifungen oder strenge Askese verfallen. Die Beschreibung ist realistisch, schonungslos und ergreifend – er war Augenzeuge.

Warum fliehen die jungen Leute?

Sie wollen überleben, aber auch ihre Menschlichkeit bewahren. In Florenz herrscht Chaos, Angst, Tod. Auf dem Land können sie Abstand gewinnen, Schönheit genießen, menschliche Kultur aufrechterhalten. Das Geschichtenerzählen ist dabei nicht nur Zeitvertreib, sondern ein Akt der Zivilisation, eine Behauptung des Lebens gegen den Tod.

Ist die Rahmenhandlung wichtig?

Absolut. Sie gibt den Geschichten einen existenziellen Kontext: Die Erzähler wissen, dass draußen der Tod wütet, dass die Welt zusammenbricht. Ihre Geschichten – oft komisch, erotisch, lebensbejahend – sind ein bewusster Gegenentwurf zur Pest. Sie feiern das Leben, die Intelligenz, die Liebe, den Witz. Die Rahmenhandlung macht aus 100 einzelnen Stories ein philosophisches Statement.

Gibt es für jeden Tag ein Thema?

Ja, meist. Der erste Tag ist themenfrei (jeder erzählt, was er will). Danach gibt es Themen wie: Menschen, die durch Schlagfertigkeit aus Schwierigkeiten entkommen; unglückliche Lieben; glückliche Lieben; Streiche von Frauen gegen Männer; Streiche allgemein; großmütige Taten; intelligente Antworten. Der neunte Tag ist wieder frei, der zehnte behandelt außergewöhnliche Großzügigkeit und Tugend.

Welche Geschichten sind am skandalösesten?

Die erotischen Geschichten des dritten Tages und viele von Dioneos Erzählungen. Boccaccio beschreibt offen Ehebruch, sexuelle Listen, törichte Ehemänner und clevere Liebhaber. Nonnen, die mit Mönchen schlafen, Priester, die ihre Schäfchen verführen, listige Frauen, die ihre Männer betrügen. Für das 14. Jahrhundert (und lange danach) war dies skandalös – aber auch befreiend ehrlich.

Wie werden Frauen dargestellt?

Revolutionär für das 14. Jahrhundert: Boccaccios Frauen sind intelligent, begehrenswert, listig, selbstbestimmt. Sie sind nicht passive Opfer, sondern aktive Gestalterinnen ihres Schicksals. Viele Geschichten feiern weibliche Klugheit und Schlagfertigkeit. Ja, manche Darstellungen sind aus heutiger Sicht problematisch, aber in seiner Zeit war Boccaccio erstaunlich fortschrittlich in seiner Wertschätzung weiblicher Intelligenz.

Wie wird die Kirche kritisiert?

Boccaccio attackiert schonungslos kirchliche Heuchelei. Mönche und Nonnen, die ihr Keuschheitsgelübde brechen, gierige Priester, korrupte Äbte, lüsterne Beichtväter – sie alle werden lächerlich gemacht. Aber: Boccaccio greift nicht den Glauben an, sondern die Institution und ihre unwürdigen Vertreter. Es ist eine moralische Kritik von innen, nicht atheistischer Angriff von außen.

Welche Rolle spielt Intelligenz?

Intelligenz (auf Italienisch „ingegno“ – Geist, Witz, Cleverness) ist die wichtigste Tugend im Dekameron. Immer wieder siegen kluge Menschen über dumme, schlagfertige über plumpe, einfallsreiche über starre. Soziale Herkunft spielt weniger eine Rolle als Geistesgegenwart. Ein cleverer Diener kann einen adeligen Tölpel überlisten. Intelligenz ist demokratisch – jeder kann sie haben.

Was ist mit Moral?

Boccaccios Moral ist komplex. Er bewundert Tugenden wie Großzügigkeit, Loyalität, Mut. Aber er rechtfertigt auch Betrug, wenn er clever ist, und Ehebruch, wenn die Liebe echt ist. Seine Ethik ist situativ, nicht absolut. Er verabscheut Heuchelei, Geiz, Grausamkeit und Dummheit mehr als sexuelle „Sünden“. Man könnte sagen: Seine Moral ist humanistisch – was Menschen glücklich macht und niemandem schadet, ist gut.

Warum ist das Dekameron so wichtig?

Es ist eines der Gründungswerke der europäischen Prosa-Literatur. Boccaccio erfand praktisch die Novelle als Form. Er schrieb in der Volkssprache (Italienisch, nicht Latein), machte alltägliche Menschen zu Helden, behandelte realistische Themen. Er beeinflusste Chaucer, Shakespeare, Cervantes und ungezählte spätere Autoren. Ohne Dekameron keine europäische Erzählkunst, wie wir sie kennen.

Welchen Einfluss hatte das Werk?

Einen enormen. Chaucer schrieb seine „Canterbury Tales“ direkt nach dem Vorbild des Dekameron. Shakespeare nahm Plots daraus (z.B. für „Cymbeline“). Cervantes, Lope de Vega, später Molière, alle europäischen Novellenautoren – sie alle kennen Boccaccio. Die Rahmenerzählung wurde ein beliebtes literarisches Mittel. Die Novellenform wurde durch ihn zur dominierenden Kurzform bis ins 20. Jahrhundert.

War das Buch verboten?

Ja, zeitweise. Die katholische Kirche setzte es auf den Index der verbotenen Bücher. Besonders die kirchenkritischen und erotischen Passagen waren skandalös. Aber das Werk war zu beliebt, zu gut geschrieben, um es zu unterdrücken. Es kursierten zensierte Ausgaben, aber auch immer die vollständigen Texte. Die Faszination war stärker als die Zensur.

Wie war die Pest von 1348?

Die schlimmste Pandemie der europäischen Geschichte. In nur wenigen Jahren starben etwa 25-30 Millionen Menschen – ein Drittel der Bevölkerung Europas. In manchen Städten war die Todesrate noch höher. Die Gesellschaft kollabierte teilweise: Ärzte flohen, Familien zerfielen, die Wirtschaft brach zusammen. Die psychologischen Folgen waren enorm: Weltuntergangsängste, religiöser Fanatismus, aber auch verstärkter Lebensdrang.

Wie war Florenz im 14. Jahrhundert?

Eine der reichsten, modernsten, kulturell fortschrittlichsten Städte Europas. Handels- und Bankenzentrum, Heimat von Dante, Giotto, Petrarca. Eine republikanische Stadtregierung, aufstrebende Kaufmannsfamilien, blühende Künste. Aber auch: brutale Machtkämpfe, soziale Ungleichheit, religiöse Konflikte. Boccaccio selbst gehörte zur gebildeten bürgerlichen Schicht – kein Adel, aber kultiviert und wohlhabend.

Was ist der Humanismus?

Eine intellektuelle Bewegung der Renaissance, die den Menschen (nicht Gott) ins Zentrum stellte, antike (griechisch-römische) Kultur wiederbelebte, und rational-kritisches Denken förderte. Boccaccio war ein Frühhumanist: Er schätzte weltliche Bildung, menschliche Vernunft, diesseitiges Glück. Das Dekameron ist ein humanistisches Werk – es feiert menschliche Fähigkeiten, kritisiert religiösen Dogmatismus, und vertraut auf Vernunft und Witz.

Wie war die Stellung der Frauen?

Im 14. Jahrhundert hatten Frauen rechtlich wenig Freiheiten: Sie wurden von Vätern und Ehemännern kontrolliert, hatten kaum Bildungschancen, konnten nicht selbst über ihr Leben entscheiden. Dass Boccaccio intelligente, selbstbestimmte Frauen als Heldinnen zeigt, war revolutionär. Er widmete das Werk explizit den Frauen, die unter Langeweile und Einschränkung litten – das Buch sollte sie unterhalten und ermutigen.

Welche Übersetzung ist gut?

Es gibt viele deutsche Übersetzungen. Klassisch ist die von Karl Witte (19. Jh.) – sprachlich schön, aber altertümlich. Moderne Übersetzungen (z.B. von Peter Brockmeier oder Rita Haneberg) sind zugänglicher. Wichtig: Nimm eine ungekürzte Ausgabe, keine „jugendfreie“ Zensurversion. Boccaccio soll schockieren, amüsieren, provozieren – das geht nur im Original.

Was lerne ich aus dem Dekameron?

Dass Menschen sich nicht ändern – die Geschichten aus dem 14. Jahrhundert sind erstaunlich aktuell. Liebe, Betrug, Dummheit, Cleverness, Gier, Großzügigkeit – alles zeitlos. Du lernst auch: Wie man Geschichten erzählt (Boccaccio ist ein Meister), wie man mit Krisen umgeht (nicht verzweifeln, sondern Kultur schaffen), und dass Intelligenz und Humor mächtiger sind als Macht und Reichtum.

Ist das Dekameron feministisch?

Für das 14. Jahrhundert: erstaunlich progressiv. Boccaccio zeigt intelligente, sexuell selbstbestimmte Frauen positiv. Er kritisiert patriarchale Kontrolle. Er widmet das Werk Frauen. ABER: Aus heutiger Sicht gibt es problematische Momente – Frauen werden manchmal objektifiziert, Vergewaltigungen werden verharmlost (ein mittelalterliches Problem). Man kann Boccaccio als Proto-Feministischen würdigen, ohne ihn zum modernen Feministen zu erklären.

Ist die Griselda-Geschichte (X, 10) frauenfeindlich?

Das wird heftig diskutiert. Die Geschichte zeigt eine Frau, die extremste Demütigungen durch ihren Ehemann duldet, um ihre „Tugend“ zu beweisen. Viele moderne Leser finden das entsetzlich. Interpretationen: (1) Boccaccio zeigt kritisch, wie absurd patriarchale „Tugend“-Forderungen sind. (2) Er feiert mittelalterliche Geduld als Ideal. (3) Es ist eine christliche Allegorie (Griselda = Gläubige, Ehemann = Gott). Wahrscheinlich: Boccaccio lässt bewusst offen, wie man es lesen soll.

Was ist die zentrale Botschaft des Dekameron?

Wenn es eine gibt, dann: Leben angesichts des Todes. Die Pest bedroht alles, aber die Antwort ist nicht Verzweiflung, sondern Kultur, Schönheit, Erzählen, Gemeinschaft. Auch: Intelligenz und Menschlichkeit sind wichtiger als Macht und Reichtum. Und: Die Welt ist komplex – es gibt keine einfachen moralischen Antworten, aber es gibt Weisheit, Humor und Liebe.

Warum ist das Dekameron ein Meisterwerk?

Weil es alles kann: Es ist komisch und tragisch, erotisch und philosophisch, realistisch und fantastisch, kritisch und feiernlaunig. Es zeigt die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung. Es ist formal innovativ (Rahmenerzählung, 100 perfekt konstruierte Novellen), sprachlich brilliant, und menschlich wahr. Es ist ein Buch über das Leben selbst – in all seiner Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Schönheit.

Quelle

Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Aus dem Italienischen von Karl Witte. München 2020.

Katrin Beißner

Worum geht es?

Dieser Blog dient dem Interpretieren von Literatur, Filmen und Kunst, individuellen Erfahrungen und der Realität. Die Analysen und Interpretationen erfolgen als Gedankenexperimente im Rahmen einer Beschäftigung mit dem Erzählen, literarischen Figuren, historischen Personen sowie realen Menschen unter Anwendung literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden.

Aktuelle Beiträge

Pierre Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften – der skandalöseste Roman des 18. Jahrhunderts

Pierre Choderlos de Laclos: Gefährliche Liebschaften – der skandalöseste Roman des 18. Jahrhunderts

5. Dezember | Es gibt Romane, die Leserinnen und Leser schockieren, faszinieren und moralisch herausfordern; und zwar über die Zeiten hinweg. Der bereits 1782 erschienene Briefroman Les Liaisons dangereuses, zu Deutsch Gefährliche Liebschaften von Pierre…