Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger – vielstimmige Prosa mit Sogwirkung

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. München 2025.

7. Dezember | Dorothee Elmiger hat mit Die Holländerinnen in diesem Jahr sowohl den Deutschen Buchpreis, den Bayerischen Buchpreis als auch den Schweizer Buchpreis gewonnen. Aus diesem Grund stelle ich das Werk auch im literarischen Adventskalender vor. Dabei liest sich das Buch nicht einfach so nebenbei. Es verlangt Aufmerksamkeit, belohnt jedoch mit einer dichten, vielstimmigen Prosa, in der Erinnerung, Wahrnehmung und das im Dunkeln lauernde Menschliche ineinandergreifen, sodass Wahrheit und Fiktion sich zu etwas nie Dagewesenem zu verquirlen scheinen. Ich sag es mal so: Wäre das Werk ein Film, ich hätte mir die Hand vor das Gesicht gehalten und trotzdem durch die Finger gelinst. Und natürlich auf eine Auflösung (oder Erlösung) gewartet, die am Ende aber nicht kommt. Eine Lektüre wie das Leben? Jedenfalls – Die Holländerinnen gehört zu den Texten, in denen sich eine Sogwirkung entfaltet, die gleichermaßen irritiert, anregt und fasziniert. Elmigers Schreiben kreist um das Unabgeschlossene, das Flüchtige und das, was erst beim genauen Hinsehen Form gewinnt und doch noch während der Lektüre wieder entgleitet.

Der Roman nimmt seinen Ausgang von einem mysteriösen Vermisstenfall aus dem Jahr 2014: Zwei niederländische Studentinnen, Kris Kremers und Lisanne Froon, verschwanden beim Wandern im panamaischen Dschungel spurlos. Ich hatte von dem Fall bis dahin noch nichts gehört, doch gibt es immens viele Spekulationen im Internet. Doch es geht in Die Holländerinnen nicht um Aufklärung oder True-Crime-Spannung – der ungeklärte Fall ist quasi der Ausgangspunkt für eine Meditation über Gewalt in vielfachen Formen, Darstellbarkeit, und die Grenzen der Sprache – und wie sie gegen diese mit Worten ficht.

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. München 2025.
Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. München 2025

Die Holländerinnen ist lesenswert, weil…

👉 Elmiger Erfahrungen, Orte und Wahrnehmungen kunstvoll miteinander verflicht – der Text schafft Verbindungen, wo andere nur Einzelmomente sehen würden.

👉 kollektive und private Dimensionen miteinander verschaltet werden – der Roman widmet sich der beispielsweise Ohnmachts- und Gewalterfahrungen auf vielschichtigen Ebenen.

👉 die dichte Sprache ungewohnte Perspektiven öffnet – jeder Satz ist durchgearbeitet, jedes Wort sitzt.

👉 das Fragmentarische zu einer poetischen Struktur wird – was auf den ersten Blick offen oder unvollendet erscheint, erweist sich als bewusste Form, die dem Thema entspricht.

👉 ähnlich wie Coppola oder Conrad mit dem Vorhaben der Lektüre auf eine Reise geht, die einen in die unbewusste Tiefe des Selbst tauchen kann.

Ein Vorgeschmack auf die Lektüre

Auf ganz ähnliche Weise habe sich zuvor bereits ihr eigentliches Schreiben aufgelöst, eigenhändig habe sie es, wenn man so wolle, in immer kleinere Teile zerlegt: Der Text, jeder Versuch eines Textes habe sich fragmentiert, sei zunehmend formlos geworden.

Selbstverständlich, sagt sie, könne man dies nun im Licht der gegenwärtigen Verhältnisse betrachten, Verhältnisse, die fraglos und im vielfachen Sinne schlecht, ja tödlich seien, man könnte sagen, der Text selbst verweigere sich unter dem Eindruck des rapiden Sterbens, und wenn alles so rasant auf sein unwiderrufliches Ende zuschlittere, erübrige sich der sinnhafte Text, erübrige sich der Hinweis auf das Schöne, das Mögliche und so fort, aber dies sei in ihren Augen eine allzu simple Auffassung,

die auch von einer gewissen Hybris zeuge. Sie selbst zumindest habe sich den Text in den Jahren, die sie schreibend verbracht habe, nie als Rettung, sondern vielmehr als Ausdruck einer irren, gellenden Lebendigkeit gedacht, einer Gegenwart, von der sie selbst ja ganz durchschossen sei. Der Text als Notiz aus dem Chaos, dem Mahlstrom des Lebens – jahrelang habe Bruegels Kampf zwischen Karneval und Fasten über ihrem Schreibtisch gehangen, und wie er, Bruegel der Ältere, habe sie sich für das Enzyklopädische, das Karnevaleske, die Gleichzeitigkeit der Dinge interessiert: hier die Kostümierten, die Spieler und Trinker, der Faschingsprinz mit dem gebratenen Ferkel am Spieß und dort die Leprösen mit ihren Glöckchen, ihren Krücken) ein Blinder mit ausgestochenen Augen, Nonnen im schwarzen Habit, am Boden zerbrochene Eier.

Wie dem auch sei, sagt sie, nun, da sich ihr Schaffen in einem Prozess der Auflösung befinde – ein Prozess, der unter Umständen doch folgerichtig sei und den sie vielleicht nur deshalb nicht hinnehmen könne, weil er für sie ein berufliches, ein finanzielles Problem bedeute –, nun, da sie also diese Auflösung erfahre, könne sie, das liege auf der Hand, auch keine Theorie ihres Schaffens

mehr vorlegen, sondern höchstens, so habe sie zunächst geglaubt, eine Theorie der Auflösung, des Abbrechens, des Auseinanderfallens, aber dieser Vorgang folge in Wahrheit keinen Regeln, er habe kein System, es handle sich um ein geradezu bartlebyisches Nicht und widersetze sich folglich, dies habe sie in den vergangenen Wochen vor ihrem Laptop feststellen müssen, auch der Theorie.

Trotzdem, sagt sie, wäre es ihr falsch erschienen, ihre Zusage im letzten Augenblick doch noch zu widerrufen, den Kopf, Wie es heiße, aus der Schlinge zu ziehen und sich ausgerechnet jetzt,

in diesem Moment ihrer Krise, auszuschweigen, auch wenn sie immer wieder versucht gewesen sei, genau dies zu tun. Stattdessen habe sie sich schließlich vor wenigen Tagen, und ganz gegen

ihre eigenen Grundsätze, dazu entschlossen,-über ihren letzten, nie zu Ende gebrachten Text zu sprechen- ein Wust an Notizen, Fragmenten, die Relikte einer Reise, die sie nun zum ersten Mal

in die Hände nehmen und ins Licht halten wolle.

Im Januar vor drei Jahren, sagt sie, habe sie der Anruf eines Theatermachers eicht dessen Name ihr zwar ein Begriff gewesen, dem sie aber bis dahin selbst nie begegnet sei. In Interviews und Gesprächen habe er sich oft auf Arendt bezogen, auf Arendt, auf Adorno und einige französische Soziologen, deren Werk sie selbst stets nur gestreift habe. Er baue an einer großen Theatermaschine, habe er oft erklärt, es gehe ihm um nichts weniger als einen neuen, einen hypnotischen Realismus, wie ihn eben nur das Theater, dieser Ort der ständigen Dopplung schaffen könne, wo Wirklichkeit und Fiktion, wie es ein bekannter deutscher Dramatiker so treffend beschrieben habe, aufeinanderträfen und in einer »heiligen Kollision« ihre Fassung verlören.

Er sitze gerade an den Vorbereitungen zu einem neuen Stück, habe der Theatermacher damals im Januar am Telefon gesagt, es handle sich um die Rekonstruktion eines Falls, ein schwieriger, tragischer Stoff, den er sich zur Zeit als eine Art tropische Passion vorstelle, als Referenz auch a:uf .Herzog, auf Coppola, und sie selbst sei in diesem Moment mit eingeschalteten Warnblinklichtern an den Straßenrand gefahren, um ihn besser hören zu können. Was ihm vorschwebe, sei eine groß

angelegte Recherche, so sei er fortgefahren, eine Recherche, die nur in der Wiederholung, der Nachbildung der Ereignisse geschehen könne, ja, es gehe, wie stets am Theater, darum, die Dinge am eigenen Leib zu erfahren. Er habe ihre Bestrafung der Mägde, ja ihr ganzes Mythen-Projekt über die Jahre hinweg mit Interesse verfolgt, habe er erklärt, und wolle sie deshalb als Autorin für sein Vorhaben gewinnen, vorausgesetzt, sie könne reisen und sei bereit, zehn oder vierzehn Tage vor Ort zu verbringen, zwischen den Wendekreisen, wo man das benötigte Material im Kollektiv erarbeiten wolle. Sie verstehe, habe sie gesagt, obwohl sie ihm aufgrund der schlechten Verbindung nur mit

Mühe habe folgen können, sie habe sich Bedenkzeit ausbedungen und auf der Rückseite eines Tankstellenbons einige Namen und Stichwörter notiert, die ihr nun, drei Jahre später, ganz und

gar chiffrenhaft erschienen. Als sie kurze Zeit später wieder losgefahren sei, habe es heftig geschneit, und weit vor ihr, zu ihrer Linken, habe sich dann ganz plötzlich die gewaltige Salzhalde des Kalireviers Werra erhoben.

Aus: Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. München 2025, S. 10-13.

Zusammenfassung von Elmigers Die Holländerinnen

Der Roman Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger wird von einer namenlosen, erfolgreichen Autorin erzählt, die in einer Poetikvorlesung über ein vergangenes Rechercheprojekt berichtet. Sie hatte eine Theatergruppe in den mittelamerikanischen Dschungel begleitet, wo ein mysteriöser Vermisstenfall rekonstruiert werden sollte. Initiator des Projekts ist ein selbstverliebter, exzentrischer Theatermacher, der sie für sein Vorhaben gewinnt. Neben ihm gehören mehrere Schauspielerinnen, ein Kameramann, ein Dramaturg und eine Kostümbildnerin zur Gruppe.

Nahezu der gesamte Text ist in indirekter Rede und im Konjunktiv verfasst – eine stilistische Entscheidung, die die Unsicherheit und Unfassbarkeit des Geschehens sprachlich spiegelt. Elmiger geht es nicht um Aufklärung oder Dokumentation, sondern darum, die Unmöglichkeit des Verstehens und Darstellens selbst sichtbar zu machen – den Punkt, an dem Sprache vor dem Entsetzlichen versagt.

Je weiter die Gruppe in den Dschungel vordringt, desto bedrohlicher wird die Umgebung. In ihren Gesprächen erzählen die Mitglieder Erinnerungen, die zunächst harmlos wirken, sich aber zunehmend ins Abgründige wenden. Der Roman verzichtet auf Handlungsspitzen oder psychologische Deutungen und entfaltet seine Sogkraft über genaue Beobachtungen und dichte Detailhäufung.

Gerade diese minimalistische, tastende Erzählweise erzeugt eine beklemmende Intensität. Die Holländerinnen ist ein Text über die Allgegenwart der Gewalt, die Grenzen des Darstellbaren und die Frage, wie man über das Unaussprechliche sprechen kann – ein Werk, das umso tiefer wirkt, je länger man sich ihm aussetzt. Ich habe noch eine ausführliche Analyse von Elmigers Die Holländerinnen geplant.

Zur Autorin Dorothee Elmiger

In New York leben – wie cool muss das sein, dachte ich, als ich den Klappentext las. Die 1985 in der Schweiz geborene Dorothee Elmiger lebt in der US-Metropole und arbeitet als Übersetzerin und freie Autorin. Sie gilt als eine der markantesten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Mit ihren Werken Einladung an die Waghalsige (2010), Schlafgänger (2014) und Aus der Zuckerfabrik (2020) hat sie sich früh einen eigenen Ton geschaffen, der sie von vielen ihrer Zeitgenossen unterscheidet.

Elmigers Schreiben setzt auf präzise Beobachtungen und eine poetische Konzentration, die gesellschaftliche, mediale und individuelle Schichten miteinander ins Gespräch bringt. Sie arbeitet häufig mit offenen Formen, dokumentarischen Elementen und assoziativen Bewegungen, ohne dabei je an Klarheit zu verlieren. Ihr Werk bewegt sich zwischen Essay und Erzählung, zwischen Recherche und Imagination – immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, Wirklichkeit literarisch zu erfassen.

Intertextuelle Anspielungen

Intertextualität bezeichnet ganz grundsätzlich den Dialog von Texten, also die Anwesenheit eines Textes in einem anderen – in welcher Form auch immer. In Die Holländerinnen nimmt Elmiger bezüglich der Ursprünge kein Blatt vor den Mund, denn auch die Figuren sind gebildet: Bernhard, Herzog, Coppola sind nur die Spitze des Eisbergs. Wer Coppola verwendet, greift irgendwie auch auf Conrads Herz der Finsternis zurück. Die Anspielungen sind ja insbesondere mit den Anweisungen des Theatermachers aus dem oben aufgeführten Langzitat deutlich. Wer Coppolas Film Apocaplyse now kennt und die zugehörige Dokumentation, wird eine Ahnung erhalten vom Zweck der im Text geschilderten Reise.

Der Theatermacher strapaziert die anderen Figuren mit endlosen Vorträgen über Werner Herzog oder Walter Benjamin. Diese Referenzen sind nicht schmückendes Beiwerk, sondern Teil der Reflexion darüber, wie Kunst mit dem Undarstellbaren umgeht, es je nach Medium sichtbar machen kann. Vereinzelt schimmern auch Motive auf, die an moderne Tagebuchprosa, essayistische Formen oder an eine leichte, fast impressionistische Bildsprache erinnern. Elmiger nutzt diese Bezüge als Resonanzraum, der dem Text eine ungeahnte Komplexität verleiht. Ich stelle mir da ein 3-D-Modell vor und keine reine Horizontale. Längst sich noch etliche andere literarische Bezüge, Echos älterer Texte in Elmigers Die Holländerinnen eingeflossen.

Man könnte also in Bezug auf literarische Rückgriffe wie auf Conrads Herz der Finsternis (Reise in den Dschungel, Konfrontation mit Gewalt, Kolonialismus) behaupten, dass Elmiger diese Verbindungen nutzt, um ihrem Roman zusätzliche Bedeutungsebenen zu geben. Das Interessante oder eben Leidliche ist bei der Verwendung intertextueller Elemente allerdings, dass nur diejenigen, die diese Anspielungen verstehen können, einen fast vollständigen Zugriff auf diese unter dem Text verborgene Bedeutungsschicht haben.

Und darüber hinaus liest sowieso jeder einen Text aus einer subjektiven Perspektive – wir teilen einzig Wissen aus dem Kollektiven und kulturellen Gedächtnis. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich ein Fan von intertextuellen Referenzen jeglicher Art bin.

Katrin Beißner

Bildquellen

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