Zuletzt bearbeitet am 4. Dezember 2025
4. Dezember | Künstliche Intelligenz gehört mittlerweile zu unserem Alltag wie Marmelade zu Erdnussbutter. Gemini, Claude und „Chatty“ (wie einige die KI liebevoll nennen), sind in kürzester Zeit zu Helfern im Alltag avanciert, unterstützen in Schule, Beruf und auch bei sämtlichen anderen Angelegenheiten. Doch ist die KI nicht allwissend, greift sie auch nur auf die Informationen zurück, die Menschen öffentlich zugänglich gemacht habe. Yuval Noah Harari wendet sich in Nexus einem hochaktuellen Thema zu: der Macht von Informationsnetzwerken und künstlicher Intelligenz. Der israelische Historiker untersucht, wie Gesellschaften durch Informationsflüsse geformt wurden, verweist zudem auch auf Gefahren und Chancen der KI-Revolution. Harari verbindet sachlich und deutlich historische Perspektiven der Höhlenmalerei mit der Erfindung des Buchdrucks über den Aufstieg der Massenmedien bis in die Gegenwart und zeigt aktuelle technologische Entwicklungen. Mir ist das Buch empfohlen worden, weil ich mich mit dem Erzählen auseinandersetze, und was ist Erzählen, wenn nicht die Weitergabe von Informationen.

Dabei geht es nicht nur um reine Bereitstellung von Informationen zur Wissensweitergabe. Denn die zentrale These von Nexus ist, „dass die Menschheit gewaltige Macht erwirbt, indem sie kooperative Netzwerke aufbaut, dass jedoch die Konstruktionsweise dieser Netze dem unklugen Gebrauch dieser Macht Vorschub leistet.“ Aus: Yuval Noah Harari: Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn. 3. Auflage. München 2024, S. 13.
Inhaltsangabe von Nexus
In Nexus untersucht Harari die Geschichte und Zukunft von Informationsnetzwerken. Er zeigt, dass Informationssysteme nie nur der Wahrheitsfindung dienten, sondern stets der Schaffung von Ordnung und Machtausübung – von Mythen der Steinzeit über religiöse Texte bis zu modernen Bürokratien. Heute steht mit Künstlicher Intelligenz ein Informationssystem im Mittelpunkt, das eigenständig Informationen erzeugen, Entscheidungen treffen und womöglich eigene Ziele verfolgen kann. Dies eröffnet große Risiken: KI kann Demokratien durch Desinformation destabilisieren, autoritäre Überwachung ermöglichen, Konzerne manipulieren und selbstlernende Systeme unkontrollierbar machen. Harari betont, dass mehr Information nicht automatisch zu besseren Entscheidungen führt, historisch verstärkten neue Medien oft Polarisierung und Manipulation.
Gleichzeitig zeigt er Wege demokratischer KI-Governance auf: internationale Regulierung, Transparenzpflichten, Kontrolle von Tech-Konzernen und Bildung für kritische Medien- und Technologiekompetenz. Neben diesen politischen Fragen beleuchtet Harari auch, wie Geschichten und Narrative Gemeinschaften prägen und Identität stiften, sowohl auf kollektiver als auch individueller Ebene.
Die zentrale Frage lautet: Wer kontrolliert die Informationsnetzwerke der Zukunft – demokratische Institutionen, autoritäre Staaten, Konzerne oder die KI-Systeme selbst?
Nexus ist lesenswert, weil…
👉 es die Gegenwart durch den Blick in die Vergangenheit erhellt.
Informationsnetzwerke waren nie neutrale Wahrheitsvermittler. Dies zeigt Harari an vielen Beispielen anhand der Entstehung von Mythen über mittelalterliche Bürokratien bis zu modernen Massenmedien. Netzwerke, die aus Informationen entstanden sind, dienten stets der Machtausübung und der sozialen Kontrolle. Diese historische Perspektive verdeutlicht, wieso Künstliche Intelligenz nicht automatisch Wahrheit oder Fortschritt fördern und hervorheben, sondern die bereits bestehenden Machtstrukturen stärken. Aus dieser Perspektive erscheint die Revolution der KI nicht als einzigartige und isolierte technische Errungenschaft, sondern als logische Fortsetzung der Dynamiken zur Informationsverbreitung, die Menschen bereits seit der Steinzeit zur Übernahme von Macht nutzen.
👉 es den qualitativen Unterschied der KI-Revolution präzise herausarbeitet.
KI-Systeme können im Gegensatz zum Buchdruck oder dem Internet erstmalig selbstständig Entscheidungen treffen, Informationen generieren und zudem eigene Ziele entwickeln. Harari erklärt einleuchten, warum dies ein fundamentaler Bruch ist. Denn durch den Einsatz der KI-Systeme verlieren Menschen die Deutungshoheit über Informationen, weil Algorithmen zu autonomen Akteuren werden. Es geht bei dieser Art der gesellschaftlichen Umbrüche nicht allein um die Wirtschaft, sondern um die Grundlagen der Demokratie, Wahrheitsfindung und menschlicher Selbstbestimmung.
👉es Illusionen über technologischen Fortschritt zerstört.
Erfolgreiche Informationssysteme behaupteten sich in der Vergangenheit nicht über ihren Wahrheitsgehalt, sondern durch Ordnungsleistung. Dies zeigt sich beispielsweise an wirkmächtigen Fiktionen, die letztlich glaubwürdiger waren als konkrete Fakten und sich demgegenüber im kulturellen Gedächtnis verankerten. Dazu zählen Gründungsmythen. Von dieser Warte aus betrachtet, befreit uns Harari von der Illusion, dass der Einsatz von KI-Systeme automatisch zu objektiveren Entscheidungen führen würde. Stattdessen drohen neue Formen autoritärer Kontrolle oder unsichtbare Manipulation durch personalisierte Informationsblasen, welche von KI-Systemen verwaltetet werden. Ist der Film Matrix insofern keine Sci-Fi-Dystopie? Immerhin sind Hararis Warnungen empirisch fundiert und nicht einfach aus der Luft gegriffen.
👉 es analytische Werkzeuge für die Informationsflut bereitstellt.
Nexus liefert Anhaltspunkte zur Einordnung der aktuellen Situation. Dazu gehören Aspekte wie die Unterscheidung zwischen Information und Wahrheit, das Konzept selbstverstärkender Informationsnetzwerke, die Analyse algorithmischer Aufmerksamkeitsökonomie. Harari gibt uns Lesenden Instrumente an die Hand, mit denen wir Informationen über ChatGPT, Social-Media-Regulierung oder KI-Überwachung verstehen und in größere historische und gesellschaftliche Zusammenhänge setzen können. Insofern befähigt uns die Lektüre von Nexus zur kritischen Medien- und Technologiekompetenz, die gerade in einer Zeit wie dieser zum Allgemeinwissen zählen sollte.
👉 es Handlungsoptionen zwischen Resignation und Naivität aufzeigt.
Harari skizziert in Nexus Ansätze, gegen den blinden Technikglauben Es geht um demokratische KI-Governance, internationale Regulierung sowie institutionelle Kontrolle algorithmischer Systeme und Bildungsreformen. Laut dem israelischen Historiker bleib die Informationsrevolution formbar, doch sind dafür bewusste politische Entscheidungen vonnöten wie auch das erforderliche gesellschaftliche Engagement. Dafür muss aber in der Bevölkerung auch das zugehörige Wissen vorhanden sein. Hararis Nexus hat keine letzten Antworten, aber drängende Fragen für die Zukunft unserer Gesellschaft: Wer kontrolliert die Informationsnetzwerke? Und wem dienen sie?
Was mich an Nexus besonders interessiert
Als Literaturwissenschaftlerin interessieren mich natürlich besonders Erzählungen und ihre Verbindung zu kulturellen Themen und Gemeinschaften. In Nexus widmet sich Harari auch diesem Aspekt der Informationsverbreitung – immerhin kennen wir alle Geschichten, an die wir zum Teil auch unsere Identität geknüpft haben, sei sie nun kollektiver oder individueller Natur.
So war und ist eine nützliche Fiktion oft mächtiger als eine unbequeme Wahrheit. Harari unterscheidet zwischen Information und Wahrheit, wobei Information Ordnung schafft, Wahrheit die Realität abbildet. Allerdings waren viele der erfolgreichsten Informationssysteme der Geschichte, zu denen Religionen, Ideologien, Nationalerzählungen zählen, faktisch falsch. Trotzdem waren sie sozial hochwirksam. In diesem Sinne sind die frühneuzeitlichen Flugblätter mit ihren Meldungen von Wundergeburten und Naturkatastrophen vor der steten Erwartung des Jüngsten Gerichts sehr interessant.
Ein Auszug aus Nexus als Kauf- und Leseanreiz
Wenn es darum geht, Menschen zu einen, haben Fiktionen zwei Vorteile gegenüber der Wahrheit: Erstens können Fiktionen so einfach sein, wie wir uns das wünschen, während die Wahrheit oft kompliziert ist, weil die Wirklichkeit, die sie darstellen soll, ebenfalls kompliziert ist. Nehmen wir zum Beispiel die Wahrheit über Nationen. Es ist schwer zu verstehen, dass die Nation, der man angehört, eine intersubjektive Größe ist, die nur in der kollektiven Vorstellung existiert. Das ist etwas, was Politiker in ihren Reden eher selten erwähnen. Es ist einfacher zu glauben, dass die eigene Nation von Gott auserwählt wurde und einen besonderen Auftrag vom Schöpfer erhalten hat. Dieses Märchen wurde von unzähligen Politikern erzählt, von Israel bis zum Iran, von den Vereinigten Staaten bis Russland.
Zweitens kann die Wahrheit oft schmerzhaft sein und verunsichern, aber wenn wir sie tröstlicher und schmeichelhafter machen, ist es nicht mehr die Wahrheit. Fiktion ist dagegen biegsam. In der Geschichte jeder Nation gibt es dunkle Flecken, an die sich die Bürger lieber nicht erinnern. Eine israelitische Politikerin, die in ihrem Wahlkampf auf das Leid eingeht, das Palästinenser durch das israelische Militär erfahren haben, wird vermutlich nicht besonders viele Wählerstimmen bekommen. Dagegen hat ein Politiker mit einem nationalen Mythos, der unangenehme Tatsachen ausblendet, glorreiche Momente der jüdischen Vergangenheit in den Mittelpunkt rückt und die Wirklichkeit wo immer nötig schönt, gute Chancen, an die Macht zu kommen. Das ist nicht nur in Israel so, sondern überall auf der Welt. Wie viele Italiener oder Indien wollen schon die ungeschminkte Wahrheit über ihr Land hören? Kompromisslose Wahrheitsliebe mag in der Wissenschaft unerlässlich und in der spirituellen Praxis bewundernswert sein, doch in der Politik kann man damit keinen Blumentopf gewinnen.
Schon der griechische Philosoph Platon stellte sich in seinem Buch Der Staat eine Verfassung vor, die auf einer »edlen Lüge« basiert – einer Erzählung über den Ursprung der gesellschaftlichen Ordnung, die die Loyalität der Bürger sichert und verhindert, dass sie die Verfassung infrage stellen. Man solle den Bürgern sagen, sie seien alle ihrem Mutterland kindliche Treue schuldig. Außerdem solle man ihnen sagen, bei ihrer Zeugung hätten die Götter sie aus verschiedenen Metallen – Gold, Silber, Bronze und Eisen – erschaffen, was die natürliche Hierarchie zwischen goldenen Führern und bronzenen Dienern rechtfertige. Platons Utopie wurde zwar nie in die Praxis umgesetzt, doch im Lauder der Jahrtausende haben unzählige Staaten ihren Bürgern Variationen der »edlen Lüge« aufgetischt.
Aus Platons »edler Lüge« sollten wir nun nicht voreilig den Schluss ziehen, dass alle Politiker Lügner und alle nationalen Erzählungen Täuschungen sind. Es ist keine einfache Wahl zwischen Lüge und Wahrheit. Es gibt eine dritte Option. Eine Fiktion ist nur dann eine Lüge, wenn man so tut, als handele es sich um eine wahre Darstellung der Wirklichkeit. Eine Fiktion ist keine Lüge, wenn man dies nicht behauptet, sondern zugibt, dass man versucht, eine neue intersubjektive Wirklichkeit zu erschaffen, statt eine objektive Wirklichkeit dazustellen.
Aus: Yuval Noah Harari: Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn. 3. Auflage. München 2024, S. 77-78.
Zum Autor Yuval Noah Harari
Yuval Noah Harari wurde 1976 in Israel geboren und ist Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Mit Eine kurze Geschichte der Menschheit gelang ihm 2011 ein weltweiter Durchbruch. Das Buch wurde seitdem in über 60 Sprachen übersetzt. Erzählt wird, wie sich die Menschheit von der Steinzeit bis zur Gegenwart entwickelt hat und wie kognitive, landwirtschaftliche und wissenschaftliche Revolutionen unsere Gesellschaften geprägt haben. In Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen von 2015 blickt er in die Zukunft und zeigt, wie Technologie, künstliche Intelligenz und Biotechnologie die Menschheit verändern könnten und Menschen sich vielleicht selbst zu „Göttern“ machen. 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert aus dem Jahr 2018 behandelt aktuelle Herausforderungen wie Klimawandel, Politik, Fake News und gesellschaftliche Unsicherheit und gibt Denkanstöße, wie wir heute ethisch und klug handeln können.
Was Yuval Noah Harari besonders auszeichnet, ist seine Fähigkeit, komplexe historische Entwicklungen klar und zugänglich darzustellen. Seine Werke sind geprägt von einer zukunfts- und technikbezogenen Perspektive: Harari beschäftigt sich intensiv mit Themen wie künstlicher Intelligenz, Globalgeschichte und gesellschaftlichen Megatrends. Aufgrund seiner pointierten Analysen und seines Weitblicks wird er regelmäßig zu politischen und gesellschaftlichen Debatten eingeladen und als gefragter Gesprächspartner auf internationalen Bühnen geschätzt.
Werke auf einen Blick
Eine kurze Geschichte der Menschheit (Sapiens, 2013)
Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (2017)
21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (2018)
Sapiens Graphic Novel-Reihe
Unstoppable Us, Kinder- und Jugendbuchreihe
Nexus (2024)
Hararis zentrale Erkenntnis in Nexus lautet
Informationsnetzwerke waren historisch niemals primär Werkzeuge der Wahrheitsfindung, sondern Instrumente zur Schaffung von Ordnung und Machtausübung.
Wahrheit vs. Ordnung
Erfolgreiche Informationssysteme – von religiösen Mythen über bürokratische Aufzeichnungen bis zu Massenmedien – setzten sich nicht durch, weil sie die Wahrheit am besten abbildeten, sondern weil sie Menschen koordinieren und Gesellschaften organisieren konnten. Eine „nützliche Fiktion“ war oft mächtiger als eine unbequeme Wahrheit.
Information ≠ Wahrheit
Harari unterscheidet scharf zwischen Information (die Ordnung schafft) und Wahrheit (die die Realität abbildet). Viele der erfolgreichsten Informationssysteme der Geschichte – Religionen, Ideologien, Nationalerzählungen – waren faktisch falsch, aber sozial hochwirksam.
Macht durch Vernetzung
Je komplexer Gesellschaften wurden, desto mehr abhängig wurden sie von Informationsnetzwerken (Schrift, Bürokratie, Medien). Wer diese Netzwerke kontrollierte, kontrollierte die Gesellschaft – unabhängig davon, ob die zirkulierenden Informationen wahr waren.
KI als Epochenbruch
Mit künstlicher Intelligenz entsteht erstmals ein Informationssystem, das eigenständig neue Informationen schaffen kann, ohne menschliche Aufsicht Entscheidungen trifft und potenziell eigene „Ziele“ entwickelt. Damit wird die Frage, wer Informationsnetzwerke kontrolliert, existenziell – denn zum ersten Mal könnten die Netzwerke selbst zu Akteuren werden.
Die Demokratie-Gefährdung
Demokratien basieren auf dem Versprechen, dass gut informierte Bürger vernünftige Entscheidungen treffen. Wenn aber KI-gesteuerte Informationsnetzwerke Meinungen manipulieren, Wahrheit von Fiktion ununterscheidbar machen und jeden Bürger in einer personalisierten Informationsblase halten können, kollabiert diese Grundlage.
Die beunruhigende Schlussfolgerung aus Nexus
Die Geschichte zeigt, dass Informationssysteme fast immer zur Machtverstärkung genutzt wurden. Ohne bewusste demokratische Kontrolle und Regulierung wird KI diese Dynamik nicht durchbrechen, sondern dramatisch verschärfen.
FAQ: Yuval Noah Harari – Nexus, KI und Informationsnetzwerke
Warum ist Information mächtiger als Wahrheit?
Harari argumentiert, dass Menschen nicht primär durch wahre Informationen kooperieren, sondern durch geteilte Geschichten und Mythen. Das Römische Reich, mittelalterliche Kirche oder moderne Nationalstaaten basierten auf Narrativen, die nicht „wahr“ im wissenschaftlichen Sinne waren, aber Millionen Menschen koordinierten. Eine hilfreiche Lüge kann mächtiger sein als eine nutzlose Wahrheit.
Welche historischen Wendepunkte beschreibt Harari?
Harari identifiziert mehrere revolutionäre Momente: die Erfindung der Schrift (ermöglichte komplexe Bürokratien), die Entstehung heiliger Texte (schufen religiöse Großreiche), den Buchdruck (demokratisierte aber auch destabilisierte Informationen), die Massenmedien des 20. Jahrhunderts (ermöglichten totalitäre Kontrolle und demokratische Öffentlichkeit) und nun die digitale Revolution mit KI.
Was war das Problem mit früheren Informationsnetzwerken
Sie waren entweder zu starr (wie mittelalterliche Bürokratien, die Innovation verhinderten) oder zu chaotisch (wie nach dem Buchdruck, was zu Religionskriegen führte). Die Balance zwischen Ordnung und Flexibilität, zwischen Kontrolle und Freiheit, war historisch extrem schwierig. Demokratische Gesellschaften fanden einen fragilen Kompromiss, der nun durch digitale Technologie bedroht wird.
Welche Rolle spielten Religionen als Informationsnetzwerke?
Religionen waren für Harari die erfolgreichsten prämodernen Informationsnetzwerke. Sie schufen nicht nur moralische Ordnung, sondern auch Rechtssysteme, Wirtschaftsregeln und soziale Hierarchien. Ihre Macht lag nicht in ihrer faktischen Wahrheit, sondern in ihrer Fähigkeit, Millionen Fremde zur Kooperation zu bewegen. Die Bibel, der Koran oder buddhistische Sutras waren weniger „Wahrheitsbücher“ als „Betriebssysteme“ für Zivilisationen.
Was sind "hilfreiche Fiktionen"?
Geld, Nationen, Menschenrechte, Firmen – alles „Fiktionen“ im Sinne, dass sie nicht physisch existieren. Aber sie sind unglaublich nützlich für menschliche Kooperation. Harari nennt sie „intersubjektive Realitäten“: Sie existieren, weil wir kollektiv daran glauben. Das Problem: Nicht alle Fiktionen sind gleich hilfreich. Manche ermöglichen Kooperation, andere führen zu Gewalt und Unterdrückung.
Kann Wissenschaft Ordnung schaffen?
Nur begrenzt. Wissenschaft kann sagen, wie die Welt funktioniert, aber nicht, wie wir leben sollten. Sie kann beschreiben, aber nicht vorschreiben. Daher brauchen auch wissenschaftlich aufgeklärte Gesellschaften Narrative, Werte und geteilte Fiktionen. Die Frage ist: Welche Fiktionen wählen wir bewusst, und welche werden uns von machtvollen Akteuren aufgezwungen?
Sind Fake News ein neues Phänomen?
Nein, argumentiert Harari. Falschinformationen gab es immer. Propaganda, Gerüchte, religiöse Mythen, politische Lügen sind so alt wie die Zivilisation. Neu ist die Geschwindigkeit, Reichweite und Personalisierung digitaler Desinformation. Auch neu ist, dass KI bald Fake News in industriellem Maßstab produzieren kann – perfekt auf jeden Einzelnen zugeschnitten.
Warum verbreiten sich Fake News so erfolgreich?
Harari erklärt dies evolutionspsychologisch: Unser Gehirn entwickelte sich für kleine Gruppen, nicht für globale Informationsfluten. Wir neigen dazu, emotionale, skandalöse, unsere Vorurteile bestätigende Geschichten zu glauben und zu teilen. Fake News nutzen diese kognitiven Schwächen aus. Sie sind oft interessanter, emotionaler und teilbarer als komplizierte Wahrheiten.
Was ist der Unterschied zwischen historischen Mythen und modernen Fake News?
Historische Mythen (wie Religionen oder Nationalerzählungen) wurden über Generationen entwickelt, von Institutionen getragen und schufen oft langfristige soziale Ordnung. Moderne Fake News entstehen oft spontan, haben kurzfristige politische oder kommerzielle Ziele und destabilisieren eher, als dass sie ordnen. Sie sind „nihilistische Fiktionen“ – sie zerstören Vertrauen, ohne etwas Neues aufzubauen.
Welche Rolle spielen Social Media?
Social-Media-Plattformen sind für Harari keine neutralen Werkzeuge, sondern Informationsnetzwerke mit eigener Logik. Ihre Algorithmen bevorzugen emotionale Erregung über nüchterne Fakten, weil dies mehr Engagement erzeugt. Sie fragmentieren die Öffentlichkeit in Echokammern, wo Menschen nur noch Informationen sehen, die ihre Überzeugungen bestätigen. Das untergräbt den demokratischen Raum gemeinsamer Realität.
Können wir Fake News bekämpfen?
Harari ist skeptisch gegenüber einfachen Lösungen. Zensur ist gefährlich und oft ineffektiv. „Faktencheck“ hilft, reicht aber nicht, weil Menschen oft aus emotionalen, nicht rationalen Gründen an Falschinformationen festhalten. Er schlägt vor: mehr Medienkompetenz, Regulierung von Plattformen (nicht Inhalten), Förderung vertrauenswürdiger Institutionen, und vor allem: Verständnis dafür, dass das Problem tiefer liegt als einzelne falsche Artikel.
Was ist an KI fundamental neu?
Alle bisherigen Informationsnetzwerke – von Hieroglyphen bis zum Internet – waren Werkzeuge. Menschen sammelten Information, trafen Entscheidungen, handelten. KI ist anders: Sie kann selbst Entscheidungen treffen, ohne dass Menschen jeden Schritt verstehen oder kontrollieren. Sie ist das erste „nicht-menschliche Mitglied“ unserer Informationsnetzwerke, das eigene „Agency“ entwickelt.
Warum ist KI gefährlicher als frühere Technologien?
Frühere Technologien erweiterten menschliche Fähigkeiten (Muskelkraft, Sinne, Gedächtnis), aber Menschen behielten die Kontrolle. KI kann autonomer agieren. Sie kann Fake News erstellen, die perfekter sind als menschliche Propaganda. Sie kann jeden Menschen individuell manipulieren. Sie kann Entscheidungen treffen, die niemand vorhersah oder versteht. Und sie entwickelt sich exponentiell schneller, als Gesellschaften reagieren können.
Wird KI die Wahrheit finden?
Nicht notwendigerweise. KI lernt aus menschlichen Daten – und die sind voller Vorurteile, Lügen und Fehler. Wenn KI darauf trainiert wird, menschliches Verhalten vorherzusagen oder zu optimieren, wird sie menschliche Irrationalität reproduzieren und verstärken. Eine KI, die darauf trainiert ist, Engagement zu maximieren, wird Fake News fördern, weil sie funktionieren. Wahrheit ist kein automatisches Ziel von KI – sie verfolgt die Ziele, die wir ihr geben.
Könnte KI totalitäre Kontrolle ermöglichen?
Das ist eine von Hararis größten Sorgen. KI kombiniert mit Überwachungstechnologie könnte Diktaturen ermöglichen, die effizienter sind als alles in der Geschichte. Stalin und Hitler waren durch technologische Grenzen eingeschränkt. Eine KI-gestützte Diktatur könnte jeden Bürger 24/7 überwachen, Dissidenten identifizieren bevor sie handeln, und perfekte Propaganda für jeden Einzelnen erstellen. China’s Sozialkredit-System ist ein Vorgeschmack.
Könnte KI auch Positives bewirken?
Ja. Harari ist kein reiner Pessimist. KI könnte Krankheiten heilen, Klimawandel bekämpfen, wissenschaftliche Durchbrüche beschleunigen. Aber: Das passiert nicht automatisch. Es hängt davon ab, wie wir KI entwickeln, regulieren und einsetzen. Die Technologie selbst ist neutral – die Frage ist, welche Werte und Ziele wir ihr einprogrammieren und wer die Kontrolle hat.
Warum bedroht die digitale Revolution die Demokratie?
Demokratie braucht informierte Bürger, die auf Basis geteilter Fakten debattieren und entscheiden. Wenn jeder in seiner eigenen Informationsblase lebt, wenn niemand mehr weiß, was wahr ist, wenn ausländische Akteure oder KI-Bots Wahlen manipulieren können – dann erodiert die Grundlage demokratischer Selbstregierung. Harari warnt: Wir könnten die erste Generation sein, die Demokratie verliert, nicht durch Panzer, sondern durch Algorithmen.
Was ist die wichtigste Botschaft von Nexus?
Informationsnetzwerke sind keine neutralen Werkzeuge, sondern formen Macht, Gesellschaft und Realität. Mit KI schaffen wir zum ersten Mal ein Netzwerk, das uns überlisten könnte. Wenn wir nicht verstehen, wie Information funktioniert – dass sie nicht gleich Wahrheit ist, dass sie Ordnung schafft, dass sie kontrolliert werden kann – dann werden wir die Kontrolle über unsere eigene Zukunft verlieren. Das Buch ist ein Aufruf zur Wachsamkeit, nicht zur Verzweiflung.
Welche Kritik gibt es an Hararis Thesen?
Kritiker bemängeln, dass Harari manchmal zu vereinfacht, komplexe historische Entwicklungen in griffige Narrative presst, und dass seine düsteren Szenarien spekulativ sind. Einige werfen ihm vor, zu technologiedeterministisch zu denken und menschliche Handlungsfähigkeit zu unterschätzen. Andere kritisieren, dass er Probleme beschreibt, aber zu wenig konkrete Lösungen bietet.
Ist Hararis Wahrheitsbegriff problematisch?
Ja, das wird diskutiert. Indem er sagt, „Information schlägt Wahrheit“, könnte er relativistisch missverstanden werden. Harari meint nicht, dass Wahrheit unwichtig ist, sondern dass sie historisch oft machtlos war. Aber diese Aussage kann missbraucht werden, um Desinformation zu rechtfertigen („alles ist relativ, Wahrheit gibt es nicht“). Harari ist sich dieses Risikos bewusst und betont: Wahrheit existiert, aber sie setzt sich nicht automatisch durch.
Sollte ich das Buch lesen?
Wer verstehen will, wie unsere digitale Gegenwart historisch entstanden ist und wohin sie uns führen könnte, ja. Wer nur nach einfachen Antworten sucht, nein – Harari bietet Analyse, nicht Rezepte. Das Buch fordert heraus, provoziert und zwingt zum Nachdenken. Ob man allen Thesen zustimmt oder nicht: Die Fragen, die Harari stellt, sind die richtigen für unsere Zeit.
Quelle
Yuval Noah Harari: Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer und Andreas Wirthensohn. 3. Auflage. München 2024.
Weiterführende Beiträge online
Historiker Yuval Harari zu Ethik und Technologie. „Wir werden zu Göttern, aber zu sehr unverantwortlichen“. Yuval Harari im Gespräch mit Dieter Kassel vom 27.06.2018. Deutschlandfunkkultur. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/historiker-yuval-harari-zu-ethik-und-technologie-wir-werden-100.html (Zuletzt aufgerufen am 23.11.2026)
Maxime Pisker: »Nexus«: Zwischen Enthusiasmus und Schwarzmalerei. Rezension vom 13.12.2024. Online unter: https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-nexus/2246593 (Zuletzt aufgerufen am 23.11.2026)
Tobias Stosiek: Buchkritik. Triviale Thesen, vage Begriffe: Darum enttäuscht der neue Harari. 11.9.2024. Online unter: https://www.swr.de/kultur/literatur/nexus-yuval-noah-harari-sachbuch-rezension-100.html (Zuletzt aufgerufen am 23.11.2026)
Hans-Jürgen Jakobs: Yuval Noah Harari. „Nexus“ – Ein Buch über KI, ihre Macher und ihre Opfer. 16.09.2024. Online unter:https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/wirtschaftsbuchpreis/yuval-noah-harari-nexus-ein-buch-ueber-ki-ihre-macher-und-ihre-opfer-01/100067097.html (Zuletzt aufgerufen am 23.11.2026)
- Yuval Noah Harari: Nexus – 4. Dezember 2025
- Heinrich Mann: Der Untertan – 3. Dezember 2025
- Maria Höck und Juliana Kralik: Ein Einhorn namens Oktober – 2. Dezember 2025