Hinter der heutigen Tür (das Buch sollte eigentlich im Adventskalender stehen, wurde aber wegen falscher Veröffentlichung aussortiert) verbirgt sich mit Shutter Island von Dennis Lehane ein meisterhaft erzählter Thriller über die Abgründe der menschlichen Psyche. Ab auf’s Sofa, Tee und Popcorn bereitstellen und an kalten Wintertagen die Flauschdecke und Puschelsocken nicht vergessen! Es wird schwierig, das Buch wieder aus der Hand zu legen.
Shutter Island von Dennis Lehane ist lesenswert, weil…
👉 die Geschichte voller unerwarteter Wendungen steckt und das Lesepublikum bis zur letzten Seite fesseln.
👉 Lehane fabulös die Grenze zwischen Realität und Wahn verschwimmen lässt und eine beklemmende Atmosphäre schafft.
👉 der Roman nicht nur ein unterhaltsamer Thriller ist, sondern eine umfassende psychologische Studie über Schuld, Trauma und Identität.
👉 die Figuren so vielschichtig und faszinierend gestaltet sind, dass sie einem lange im Gedächtnis bleiben.
👉 die Lektüre auch die Leserinnen und Leser zwingt, ähnlich wie die Hauptfigur ihre eigene Wahrnehmung zu hinterfragen.
Auszug zum Vorglühen aus Shutter Island von Dennis Lehane
»Ja«, bestätigte Cawley, »aber andererseits spielt Rachel auf hohem Niveau. Ihre Wahnvorstellungen – insbesondere die Einbildung, ihre Kinder seien noch am Leben – gründen auf einer sehr zerbrechlichen, aber höchst verschachtelten Architektur. Um diese Struktur aufrechtzuerhalten, bedient sie sich einer komplizierten narrativen Klammer, die völlig fiktiv ist.«
Langsam drehte Chuck den Kopf zu Crawley um. »Wenn ich das verstehen soll, muss ich vorher noch mal zur Uni gehen.«
Crawley schmunzelte. »Denken Sie an die Lügen, die man als Kind seinen Eltern auftischt. Sie sind kompliziert. Anstatt sich kurz zu fassen, warum man nicht in der Schule war oder die Hausaufgaben vergessen hat, schmückt man die Geschichte aus, steigert man sich ins Fantastische. Nicht wahr?«
Chuck dachte nach und nickte.
»Klar«, sagte Teddy. »Straftäter machen das genauso.«
»Genau. Dahinter steckt der Wunsch nach Vernebelung. Der Zuhörer soll verwirrt werden, bis er eher aus Resignation denn aus Überzeugung glaubt. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie würden sich diese Lügen selbst erzählen. Genau das macht Rachel. In vier Jahren hat sie noch nicht einmal Kenntnis genommen, dass sie sich in einer geschlossenen Anstalt befindet. Ihrer Meinung nach lebt sie in ihrem Haus in den Berkshires, und wir sind vorbeikommende Lieferanden, Milchmänner und Postboten. Egal wie die Realität aussieht, sie hält mit reiner Willenskraft an ihrer Illusion fest.«
»Aber wieso sickert die Wahrheit nicht zu ihr durch?«, fragte Teddy. »Ich meine, sie ist schließlich in einer Nervenheilanstalt. Wie kann es sein, dass sie das nicht gelegentlich wahrnimmt?«
»Aha«, sagte Crawley. »Nun kommen wir zur furchtbaren Schönheit der ausgeprägten schizophrenen Paranoia. Wenn Sie überzeugt sind, meine Herren, dass allein Sie die Wahrheit kennen, dann müssen alle anderen lügen. Und wenn alle lügen …«
»Dann ist alles, was sie von sich geben, gelogen«, ergänzte Chuck.
Cawley richtete die Hand auf ihn wie eine Pistole. »Sie haben’s verstanden.«
Aus: Lehane, Dennis: Shutter Island. Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer. 4. Auflage. Berlin 2010, S. 58-59.
Einführung zu Shutter Island von Dennis Lehane
Dennis Lehane entführt die Leser mit Shutter Island in eine beklemmende Welt voller unerwarteter Wendungen. Der 2003 veröffentlichte Roman spielt im Jahr 1954 und folgt dem U.S. Marshal Teddy Daniels und seinem Partner Chuck Aule auf die abgelegene Insel Shutter Island, auf der sich das Ashecliffe Hospital für psychisch kranke Straftäter befindet. Die Patientin Rachel Solando ist aus ihrer verschlossenen Zelle verschwunden. Einzig ein Zettel mit kryptisch anmutenden Notizen wurden gefunden, kann allerdings von niemandem entschlüsselt werden. Dann verschwindet auch noch ein Arzt, der offensichtlich eine Beziehung mit der Patient hatte ebenfalls spurlos.
Daniels unternimmt zusammen mit seinem Partner alles, um die Verschwundenen ausfindig zu machen. Je näher er der Wahrheit kommt, umso mehr bekommt er das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Wollen die Ärzte und Mitarbeiter der Anstalt ihn in den Wahnsinn treiben, um die Wahrheit zu vertuschen? Kann Teddy das Rätsel lösen?
Lehane verwebt in Shutter Island psychologischen Horror mit klassischen Thrillerelementen und inszeniert eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit Traumata, Identität und der Frage, ob es schlimmer ist, ein Monster zu sein oder in einer Welt voller Monster zu leben. Es gibt wenige Romane, die es schaffen, mich auf falsche Fährten zu führen – darum ist das Buch meiner Ansicht nach so großartig! Nach dem ersten Durchgang liest man es dann am besten gleich noch einmal unter vielen Ahs! und Ohs! und diskutiert mit anderen darüber. 2010 verfilmte Martin Scorsese Lehanes Werk mit Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley und Michelle Williams in tragenden Rollen.
Zum Autor Dennis Lehane und seinen Werken
Der in Boston geboren und aufgewachsene US-Schriftsteller Dennis Lehane (1965 geboren) ist vor allem für seine fesselnden Kriminalromane und psychologischen Thriller bekannt. Seine Werke zeichnen sich durch komplexe Charakterentwicklungen, vielschichtige Handlungsstränge und eine eindringliche Atmosphäre aus. Themen wie Schuld, Rache, Moral und die Komplexität menschlicher Beziehungen zählen zu seinem komplexen Repertoire. Dass er Leserinnen und Leser so in seine Werke entführen kann, beweist sein umfassendes tiefes Verständnis für menschliche Emotionen und soziale Dynamiken, die sich in seinen Figuren und ihrer Entwicklung zeigen. Oft geht es in seinen Romanen um die dunklen und abgründigen Seiten der menschlichen Psyche. Lehane schafft es meiner Ansicht nach, durch die eindringliche literarische Inszenierung unweigerlich, dem Lesepublikum eine Form der durch das Lesen erzwungene Reflexion aufzudrücken. Man könnte auch sagen, er zieht Leserinnen und Leser durch das Lesen mit in diese menschlichen Abgründe, durch die sich diese dann mit den Figuren hindurchkämpfen müssen.
Zu bekannten Werken gehören der preisgekrönte Roman Mystic River von 2001, in dem das Auseinanderbrechen der Freundschaft dreier langjähriger Freunde nach einem tragischen Ereignis erzählt wird. Mystic River wurde 2003 von Clint Eastwood verfilmt und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter Oscars für Schauspieler Sean Penn und Tim Robbins.
Weiterhin zählen neben vielen anderen Gone Baby Gone (1998), Prisoners (2013) und Live by Night (2012) zu bekannten Werken.
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