Der Weihnachtsmann ist tot

Der Weihnachtsmann ist tot - und das zur besinnlichen Adventszeit?

Passend zum heutigen Tipp aus dem Adventskalender 2024 möchte ich Der Weihnachtsmann ist tot einen Text zur Verfügung stellen, der im Rahmen der Miniverse-Ausstellung es Bremer Künstlers Ulrich Graf-Nottrodt Anfang 2016 vorgetragen wurde. Der Text entstand in einem Seminar der Bremer Universität, bei dem wir viele Galerien und regionale Künstlerinnen und Künstler besucht haben. Ich habe leider das Bild nicht vorliegen, aber es passt thematisch auf jeden Fall sehr gut zu Klaus-Peter Wolfs Der Weihnachtsmannkiller.

Der Weihnachtsmann ist tot

Jeder Fernsehsender verbreitete die ungeheure Schreckensmeldung. Das alltäglich vor sich hin dümpelnde TV-Programm wurde eingestellt, während Experten in Sondersendungen entsetzt die aktuellsten Mutmaßungen über die Ermordung des rotwangigen Nordpolbewohners äußerten. Überall auf der Welt unterbrachen Menschen ihr Tun: Schlachter ließen Kühe leben, Beamte beendeten vorzeitig ihre Frühstückspause und Politiker interessierten sich plötzlich für die öffentliche Meinung. Jeder, der die Möglichkeit besaß, knipste atemberaubt den Fernseher an, drückte mit bebenden Fingerspitzen den Radioknopf oder starrte mit geweiteten Augen auf das Display seines Smartphones.

Frauen brachen krampfend auf der Straße zusammen. Männer lagen sich schluchzend in den Armen. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser konnten keine neuen Patienten aufnehmen, denn die trüben Flure waren voll von heulenden rotgesichtigen Kindern, die von Psychologen betreut und medikamentös ruhiggestellt werden mussten.

Sie alle hatten das Bild des ermordeten Elfensympathisanten gesehen. Aufgeschlitzt worden war er. Von rechts nach links, einmal über die Kehle, sodass der lange Rauschebart in roten Fetzen schlaff durchtränkt herabhing.

Die verantwortliche Agentur hatte das brutale Bild schnell aus dem Programm entfernen lassen. Doch der Schaden war getan. Die nun blutleere, einst Geschenke verteilende Mythenfigur war auf jeder frei zugänglichen Internetseite ohne Alterseinschränkung sichtbar.

Nicht nur die deutsche Kripo, auch Europol, das FBI, CIA und NSA sowie Millionen facebook Usern versuchten eigenhändig den Mörder des gutmütigen Wallebartträgers zu finden.

Während die Ermittler mit all‘ ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dem Täter nachjagten, wurden erste Verschwörungstheorien laut.

Der Osterhase war einer der ersten, die eine eigene Theorie vertraten. Er hielt den Nikolaus für schuldig. Dieser brachte als Täter die Heiligen Drei Könige ins Spiel, die wiederum Bibo aus der Sesamstraße verdächtigten, der die Maus von der Sendung mit der Maus anprangerte. Diese klackerte schwungvoll mit den langen Wimpern und schwieg.

Der Druck, möglichst schnell den passenden Täter zu finden, lastete schwer auf den Ermittlern und so wurde die Maus verhaftet, da sie statt eines Statements nur gereizt vor sich hin schnaubte.

Die Polizei schloss Selbstmord bereits aus. Eine Wunde dieser Art, so ein um Fassung ringender Polizeisprecher, könne sich niemand freiwillig selbst zufügen. Unter dem dick aufgetragenen Make-up schimmerten dunkle Ringe unter seinen Augen, in denen rote Äderchen leuchteten. Er hatte den leblosen Körper des rot gekleideten Rentierbesitzers selbst gesehen. Dies sollte rückblickend der Moment gewesen sein, der ihn vollends von Whiskey als beruhigend betäubender Substanz überzeugte.

Zu vorgerückter Stunde gedachten die Menschen dem pausbäckigen Coca-Cola-Trinker an öffentlichen Plätzen mit Teelichtern, Schokoladen-Cookies und Gläsern voller Milch. Bilder und Plakate, die den rotmanteligen Einsiedler mit seinen Elfen und Rentieren in glücklicheren Tagen zeigten, säumten die Straßen und Plätze. Tausende Ratten und Tauben schlürften verzückt die Milch und taten sich an den aufgebahrten Keksen gütlich. Die Bundeswehr musste energisch eingreifen und die Schmarotzer mit Schlagstöcken entfernen.

Mit der Nacht kam die Stille.

Als Klara am nächsten Morgen aufstand, wunderte sie sich. Ihr Schokoladen-Weihnachtsmann hatte ein Loch, genau dort, wo der Kopf mit einem dicken Schwall Schokolade in den Körper überging. Schulterzuckend entfernte sie die Silberfolie, biss den Kopf ab und lutschte genussvoll die süße Schokolade.

Bildquellen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Worum geht es?

Dieser Blog dient dem Interpretieren von Literatur, Filmen und Kunst, individuellen Erfahrungen und der Realität. Die Analysen und Interpretationen erfolgen als Gedankenexperimente im Rahmen einer Beschäftigung mit dem Erzählen, literarischen Figuren, historischen Personen sowie realen Menschen unter Anwendung literaturwissenschaftlicher Theorien und Methoden.

archive

  • 2024 (69)
  • 2023 (25)

Aktuelle Beiträge