Frank Witzel – Die fernen Orte des Versagens

Es war laut um mich herum bei der Lektüre von Frank Witzels Die fernen Orte des Versagens. Viele Stimmen umgaben mich beim Lesen, erzählten mir ihre Geschichten, Ansichten, Meinungen, Erinnerungen, Erfahrungen, Begierden, Wünsche, Hoffnungen, Obsessionen, Spekulationen und mehr. Doch ich konnte niemanden richtig verstehen, geschweige denn Personen sehen und erkennen, sondern nur Schatten, denn um mich herum waberte ein dicker Nebel aus dem heraus ich dieses Stimmengewirr wahrnehmen konnte. Ich stand also während der Lektüre in einem riesigen Raum voller Menschen, ohne jemanden zu sehen. Alle redeten auf mich ein, während ich versuchte ihnen jeweils zuzuhören, mich auf den Einzelnen zu konzentrieren, dies mir aber nicht gelang, weil alles hinter der Wand aus Nebel diffus und vermengt war zu einem einzigen Knäuel aus Stimmen.

Die fernen Orte des Versagens

Einige waren sehr laut, sodass ich zweitweise sehr gut verstehen konnte, was sie sagten, bis sie leiser wurden und anderen Stimmen den Vorrang ließen, von denen ich auch wieder einiges hören und aufnehmen konnte, bis sie ebenfalls wieder ins nebelschwadernde Reden und Murmeln hinter dem Nebelgrau versanken. Daneben stellte sich in mir beim Lesen häufig ein Gefühl des Unbehagens, hervorgerufen durch die Sichtlosigkeit dicken Nebels, aus dem heraus die verschiedenen durcheinandersprechenden Stimmen auf mich eindrängten und mir dabei teilweise wie körperlose Gespenster erschienen. Wörter wurden miteinander vermischt, der Ursprung ließ sich nicht ausmachen. Manchmal schien der Nebel bestimmte Sätze oder Ausdrücke zurückzuwerfen zu mir, aber mit einer anderen Färbung, als ich sie aus meinem Leben her kannte. Ich kam zu folgender Feststellung:

Ich bin mit der Lektüre von Die fernen Orte des Versagens eingetreten in eine „Echokammer“[1], in der Texte ewig wiederhallend hin- und hergeworfen werden.

Zugänge von Intertextualität in Die fernen Orte des Versagens

Mit der von Michail Bachtin entwickelten Dialogizität und Vielstimmigkeit[2] komme ich hier nicht weiter, weil ich die Stimmen, die ich höre (ohne, dass es der Einweisung bedarf) nicht konkret ausmachen und festsetzen kann. Mit Julia Kristeva stellt sich ein Text in ein Universum aus anderen Texten, in dem der Einzeltext jeweils bedeutungsgenerierende Bezüge zu anderen Texten besitzt.[3] Das so entstandene Textmosaik aus verschiedenen Versatzstücken anderer Texte mit indirekten und direkten Markierungen, kann in einen neuen Kontext gesetzt werden, aber hinsichtlich der Funktion sämtlicher Einzeltexte auch auf den übergeordneten Text bezogen werden.

Daher war Roland Barthes‘ Echokammer im Zuge meiner geschilderten Wahrnehmung wohl am angebrachtesten. Roland Barthes hat keine eigene Intertextualitätstheorie entwickelt. Doch stand für ihn fest: „Kein Text entsteht ohne Anschluss an andere Texte – weder ein wissenschaftlicher, noch ein literarischer Text oder irgendein anderes kulturelles Artefakt. “[4] Jeder Text sei demzufolge ein Intertext, in dem andere Texte präsent seien und zwar in einem unterschiedlich großen Ausmaß.[5]

Der Stimmennebel in der Echokammer von Roland Barthes

Der Begriff ‚Echokammer‘ ist eine Metapher und aufgrund des aufgeworfenen Bildes selbsterklärend. Möglich ist, dass auch die Rezipienten selbst als Echokammer zu verstehen sind.[6] Jedenfalls werden innerhalb der Kammer Wörter bewegt. „Sie wurden einmal ausgesprochen, aber von wem, ist nicht mehr ersichtlich. Losgelöst vom Sprecher (Autor) (re-)produzieren sie sich selbst, wiederholen sich (werden zitiert). Sie hallen nach, aber oftmals bruchstückhaft und verzerrt, überlagert von anderen Echos. Ihr Ursprungsort kann nicht mehr lokalisiert wird und identifiziert werden. Und dennoch sind sie immer noch zu hören.“[7] Das gilt übrigens auch für generationale Traumata und die daran gebundenen Emotionen, Begriffe, Verhaltensweisen.

Ulrike Draesner gibt ihrer Protagonistin in Sieben Sprünge vom Rand der Welt eine unerklärliche Angst: „Und nun, wie erbärmlich, fürchtete ich mich vor Schnee. Nun, wie erbärmlich, träumte ich die Albträume eines andere. Ein Stück kopiertes Leben im eigenen. Oder andersherum: eigenes Leben, umschlossen von Kopiertem.“[8]

In meinen Kindertagen war es die Angst vor Flugzeugen – ich hatte bei tieffliegenden kleinen Flugzeugen das aus großer Angst hervorgehende Bedürfnis, mich zu verstecken. Später war es eine Zeit lang die Angst vor dem Tod, die ich übernommen hatte, denn ich war weder krank noch alt. In der Theorie sind solche unbekannten und diffusen Ängste, die nicht dem eigenen Leben zugeordnet werden können ebenfalls mit den in einer Echokammer hin- und herbewegten Wörter, Erinnerungen und Emotionen vergleichbar. Es handelt sich um generationenübergreifende Projektionen, die von einem Familienmitglied stellvertretend aus der tatsächlich erlebten Erfahrung der Vergangenheit in die Gegenwart auf ein anderes Familienmitglied projiziert werden.

Insofern frage ich mich, ob ich diese Überlegungen mit Die fernen Orte des Versagens in Beziehung setzen könnte.

Eine These zu Die fernen Orte des Versagens

Vor mir oder in mir hat sich jedenfalls beim Lesen eine Echokammer aufgetan und es schien mir nicht einfach, sie zu beleuchten oder zu durchschreiten und zu ergründen. Ich denke nicht linear, sondern netzartig oder springend, was eigentlich oft vorteilhaft ist. In diesem Fall aber war es ein Problem, da ich zu viele Bezugspunkte auf einmal erfasste und eine fokussierte Konzentration aufgrund der beschriebenen nebeligen Stimmenvielfalt schwierig war. Ich musste also anders an die Sache herangehen. Daher begann ich ganz klassisch mit einer These:

Die fernen Orte des Versagens handelt von einem schizophrenen Literaten dessen Krankheit durch den Satz eines Kritikers auf der Rückseite eines Buches von Thomas Bernhardt „Ganz einfach menschlich; es ist vielleicht das schönste, das Bernhard geschrieben hat“ ausgelöst wird und der sich daraufhin mit dem Sinn des Erzählens auseinandersetzt und dafür verschiedene Rollen und Identitäten auslebt, deren Denken und Handeln sich in den Erzählungen des Werkes manifestiert.

Die Einordnung in den erzählten Kontext

Der Begriff Schizophrenie muss zuvor in den Erzählkontext gesetzt werden bzw. mit dem Erzählen allgemein verbunden werden. Daher werde ich zunächst einige Passagen aus Die fernen Orte des Versagens aufgreifen und später mit der Schizophrenie sowie mit dem Ganzen des Werkes verknüpfen. Die Auseinandersetzung mit dem Satz, um den ich meine These herum aufbaue stammt aus einer Brieffiktion, die Philipp, ein Literaturschaffender an Christian, den Verleger des Autors. Die folgenden Überlegungen, warum erzählt wird und welchen Sinn das Erzählen hat, wozu erzählt wird, stammen aus diesem fiktiven Brief.

„Die Frage, was eine Erzählung ist, die scheinbar zwangsläufig zu der Frage führt, was Erzählen überhaupt ist und sein kann, ist eine Frage die mich vom ersten Tag meines Schreibens verfolgte und die ich über Jahre und Jahrzehnte, die dieses Schreiben mittlerweile andauert, immer wieder zu verdrängen versucht habe, ohne sie je ganz abschütteln zu können.“[9]

Der Erzähler in Witzels Werk examiniert Seite für Seite seine eigene schriftstellerische Intention beim Verfassen seiner Texte, sei es, eine Verbindung in den Mittelpunkt zu stellen[10] oder sich über das Schreiben „dem anzunähern, was mich selbst überforderte und auf den ersten Blick unfassbar schien“[11] oder „eine Reihe von Schicksalen gleichberechtigt abbilden zu wollen“[12] mit der Intention, dass die erzählten „Themen keinerlei Berührungspunkte mehr zu meinem eigenen Leben, meinen eigenen Erfahrungen haben dürfen“[13] und mehr. Letztlich kommt der Erzähler, der seinem Unmut und Überlegungen im Rahmen des fiktiven(?) Briefes als Philipp Luft macht, zu folgender Erkenntnis, nämlich, „dass das Erzählen der Unterhaltung und ausschließlich ihr zu dienen hat.“[14]

Erzählen – bloße Unterhaltung?

Bezogen auf meine These liegt dieser Erkenntnis ein Wahn zugrunde, der erst durch medikamentöse Einstellung und das damit einhergehende Austarieren der Sinne wieder zurückgenommen werden oder überhaupt erklärt werden kann. Ist es letztlich verzweifelte Ironie, die dem Erzählen nur die Funktion der Unterhaltung zuweist? Lektüre ist subjektiv. Und wie beschrieben, hat mich die Lektüre von Die fernen Orte des Versagens vielmehr irritiert als unterhalten, teilweise diffuses Unbehagen in mir ausgelöst, dazu noch das chaotische Stimmengewirr der Echokammer, dann war da manchmal noch so etwas wie Ekel und eine innere Anspannung, welche sich noch über allem hinaus in mir ausbreitete, weil ich die ganze Zeit auf etwas wartete, was aber nie eintrat. Vielleicht wartete ich auf eine Pointe, weil keine da war und „wunderte mich, dass mich die Einschätzung »pointenlos« keineswegs von einer Lektüre abhalten, sondern im Gegenteil mein Interesse sogar anstacheln würde, und überlegte, warum dem so war.“[15]

Ich weiß für mich, warum ich weitergelesen habe. Zum einen habe ich auf so etwas wie eine Pointe oder Aufschlüsselung gewartet und mich lesend darauf zubewegen wollen. Außerdem hatte ich mir vorgenommen einen Beitrag, zu dem Buch zu verfassen, immerhin gehe ich auch zur Lesung. Und ich war interessiert, weil es um den Sinn des Erzählens ging und um die intertextuelle Verflechtung von Literatur, Figuren und Handlung. Als Unterhaltung würde ich das nicht bezeichnen. Unterhaltung, das war für mich das Hören von frühneuzeitlichen Schwänken über sprechende Elstern, listige Ehefrauen und dumme Ehemänner (oder umgekehrt), die mein ehemaliger Kollege mir vorgelesen hat. Aber Die fernen Orte des Versagens hat mich nicht unterhalten. Was könnte der Unterschied sein?

Literatur – nur mehr ein Akt der Verwaltung?

Vorher wurde vom Erzähler mokiert, die Literatur habe ein großes Geheimnis, er habe den Grund für das Scheitern so vieler Existenzen erkannt. Die Fähigkeit zur Formulierung komplizierter Sachverhalte, Lebensgeschichten und Theorien schließe bedauerlicherweise nicht die Fähigkeit mit ein, die eigene Bedürftigkeit oder Unfähigkeit artikulieren zu können. Kurz: Jemand kann auch über etwas schreiben, das außerhalb seiner Erfahrung liegt. Quentin Tarantino hat mit Reservoir Dogs ein Drehbuch über einen missglückten Raubüberfall verfasst und war selbst nicht an einem dergestalt missglückten Raubüberfall beteiligt (wobei es aber interessant wäre, zu erfahren, ob er vielleicht tatsächlich einmal einen Disput über die angemessene Höhe des Trinkgelds von Kellnerinnen geführt hat). Alice Miller hat mit ihrem Werk Das Drama des begabten Kindes ein hochinteressantes Buch über die Ursprünge des Selbstverlustes und Wege zum Widerfinden des Selbst verfasst. Es ein Buch über generationalen Narzissmus, die Mechanismen nicht aufgearbeiteter Kindheitstraumata und die daraus entstandene nachhaltige Schädigung des kindlichen Selbstbildes. Interessant ist aber, dass Alice Miller für ihren Sohn ein ebensolch traumatisierendes Elternteil war[16], auch wenn sie in ihren Büchern bahnbrechende Erkenntnisse über gerade diese Mechanismen des Missbrauchs lieferte.

Der blinde Fleck der Schreibenden

Jemand kann also über etwas schreiben, das er nie selbst erlebt hat, kennt oder ausprobiert hat, ja, er kann auch über Dinge schreiben, die er absurd findet, die er selbst nicht so machen würde, die er verabscheut, barbarisch findet oder absolut lächerlich. Aber jemand kann auch voller Überzeugung philosophische und humanistische Theorien verfassen, die einem übergeordneten Zweck dienen sollen, selbst aber, im Privaten, im Familiären, im Persönlichen genau entgegengesetzt handeln und die so ideal vertretenen und verfassten Prinzipien gerade nicht vertreten. Das Bild der Literatur und die darin enthaltenen Inhalte müssen nicht mit den Idealen des dahinterstehenden Menschen übereinstimmen, können sogar bewusst oder unbewusst entgegengesetzt sein. Und kann vielleicht Literatur den blinden Fleck des Autors oder anderer Menschen oder der Menschheit überhaupt durch das Erzählen belichten?

Philipp führt in seinem Brief einen Vergleich von Literatur mit der Daseinsberechtigung von Krankenhäusern durch. Ich persönlich habe auch ein bestimmtes Bild von Krankenhäusern. Lange Flure mit hässlichen weißen oder hellgelben Wänden, Linoleumbodenbelag, auf dem die Schuhe bei jedem Schritt nervig quietschen, es riecht diffus nach Desinfektionsmittel und alten Mullbinden – kurz – das sich mir bietende imaginäre Bild lädt zum Schreien und Weglaufen ein, was viele Krankenhausinsassen aber aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht können.

Krankenhäuser als Räume der entindividualisierten Unzulänglichkeit

Philipp erkennt während eines Aufenthalts im Krankenhaus die „Untersuchungsräume in ihrer grundsätzlichen Wesenheit“[17] und beschreibt diese Art von Gebäuden dann folgendermaßen: „Weil im Krankenhaus alles nach Kriterien der Unübersichtlichkeit, Unzweckmäßigkeit und Unbrauchbarkeit eingerichtet ist, werden diese Flure, Zimmer und Untersuchungsräume seit Jahrzehnten von Erstsemester-Architekten entworfen, da man für den Entwurf eines solchen Betriebs eben Menschen braucht, die komplett überfordert einem solchen Entwurf sind […]“.[18] Der Entwurf läuft dann auf das hinaus, was jeder kennt, der jemals ein Krankenhaus betreten hat und nicht das Privileg besitzt, in irgendeinem Privatzimmer von eigenem Pflegepersonal betreut zu werden.

„Wichtig ist, dass niemand, weder Personal noch Patienten, irgendwo in diesem Krankenhausbetrieb das Gefühl bekommen darf, sich wohl oder gar heimisch zu fühlen. Jede Form der Privatheit muss einem in dieser Umgebung deplatziert und komplett absurd erscheinen, damit das Gefühl verstärkt wird, auch wirklich krank, am besten todsterbenskrank zu sein, sobald man auch nur einen Fuß in diese dysfunktionale Erstsemester-Architektur setzt, in der natürlich auch die liebliche Farbgestaltung nicht fehlen darf, die das Siechtum aufhellen soll, wobei gerade diese erzwungene und sich mühselig abgerungenen Menschlichkeit in einer sonst komplett verbauten Umgebung genau das Gegenteil von Menschlichkeit ausdrückt, weil sie an diesem Ort an dem Menschlichkeit nicht wirklich, sondern nur ausgestellt existiert, genötigt ist, diesen unwirklichen Umgang mit Menschlichkeit gleichermaßen auszustellen.“[19]

Die Austauschbarkeit des Individuellen

Weiter bezeichnet Philipp das Gebäude als „Unzulänglichkeitsarchitektur“[20], als „eine Architektur der Unterwerfung und der Ausweglosigkeit“[21] in der die „Kriterien von Ästhetik und Menschlichkeit nicht nur außer Kraft gesetzt sind, sondern dieses Außer-Kraft-gesetzt-Sein offen präsentiert wird“[22], einem Betrieb, in dem das Individuum „verleugnet und erniedrigt[23] wird, die „Diagnose der erste Schritt zur Auflösung des Individuums“[24] ist und insofern „in einer komplett verbauten Umgebung genau das Gegenteil von Menschlichkeit ausdrückt“[25].

Menschen werden in einem Krankenhaus vom Individuum zum austauschbaren Patienten, sind für Ärzte Körper, die operiert und zugenäht werden. Sprache wird bürokratisch verallgemeinert, Krankheitsbilder stehen stellvertretend für den Menschen dahinter. Bett zehn auf der Drei braucht neue Laken. Gleich kommt die neue Leber für die neue auf der Acht. Die Entindividualisierung mag dem Druck geschuldet sein, der im Gesundheitssystem herrscht. Vielleicht hilft Entindividualisierung bei der Bewältigung von Druck, hilft bei der Abtrennung von Schmerz, lindert Empathie und Mitleid im herben Krankenhausalltag. Vielleicht. Über den Druck im Gesundheitssystem hat sich beispielsweise Tim Staffel mit Südstern auseinandergesetzt. Doch um Druck geht es in Die fernen Orte des Versagens bei dem Vergleich des Unzulänglichkeitsapparates Krankenhaus mit der Literatur gar nicht. Höchstens um den Druck, etwas literarisch Brillantes zu schaffen und nicht mehr aus den sich um sich selbst kreisenden Verwaltungsakten der Literatur zu schöpfen.

Die Entwicklung der Literatur durch Erzählen

Doch dient der Vergleich mit einem Krankenhaus dem Erzähler, selbst Literat, nur als Überleitung zu einer Auseinandersetzung mit dem Zustand der Literatur. Wie Individuen im Krankenhaus entindividualisiert würden, so würde auch Literatur austauschbar, zumindest, so Philipp, seine Erzählungen.[26] Literatur, da ginge es allein um die Verwaltung der eigenen Unfähigkeit, wobei dieser Verwaltungsapparat immer weiter anwachsen würde, es darum ginge, einen Kreislauf zu verwalten, obwohl es zwischenzeitlich das Ziel gegeben habe, die Literatur weiterzuentwickeln.[27]

Die gesamte Auseinandersetzung um den Zustand der Literatur gründet sich auf das Zitat des Feuilleton-Kritikers aus dem Tagesspiegel, genauer gesagt auf den Ausdruck des ‚Vielleicht-Schönsten‘, den Philipp mit dem Ende der Literatur gleichsetzt, da dieser die Erde in den Zustand der „möglicherweise besten aller Welten“[28] versetzt (unter anderem lässt hier Gottfried Wilhelm Leibniz grüßen).

Worin besteht eigentlich die Leistung des Erzählens?

Eine verallgemeinernde Beschreibung über die Leistung des Erzählens kommt von Jan Christoph Meister in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff des Erzählens als anthropologische Universalie: „Erzählen leistet mehr als das bloße Auflisten von unzusammenhängenden Ereignissen und punktuellen Beobachtungen; es stellt Zusammenhänge her. In dieser Funktion begegnet es uns als medienübergreifendes Phänomen, das nicht notwendig an Sprache oder Texte gebunden ist: Zeichnungen und Bilder, Gesten, Filme, das Ballett, die Performance und womöglich sogar architektonische und musikalische Artefakte können ereignisverknüpfende Geschehensberichte liefern.“[29]

Es geht beim Erzählen auch um Orientierung und Identität, um Sinnstiftung. Zudem ist das Erzählen über alle Zeiten und Kulturen hinweg verbreitet, daher gilt es anthropologische Universalie oder Konstante. „Menschen erzählen in allen Epochen und Gesellschaften, und dies nicht nur in der schönen Literatur oder im geselligen Kreis, sondern auch im Alltag und damit zu handfesten Zwecken – zur Information, zur Instruktion, zur Kommunikation und Weitergabe von Erfahrungen ebenso wie mit manipulativer Absicht.“[30] Der Zweck des Erzählens als Unterhaltung ist inbegriffen.

Zurück zur These

Die fernen Orte des Versagens handelt von einem schizophrenen Literaten dessen Krankheit durch den Satz eines Kritikers auf der Rückseite eines Buches von Thomas Bernhardt „Ganz einfach menschlich; es ist vielleicht das schönste, das Bernhard geschrieben hat“ ausgelöst wird und der sich daraufhin mit dem Sinn des Erzählens auseinandersetzt und dafür verschiedene Rollen und Identitäten auslebt, deren Denken und Handeln sich in den Erzählungen des Werkes manifestiert.

Im Anschluss an meine Ausführungen zu der in Philipps Brief aufgeführten Unzulänglichkeitsarchitektur von Krankenhäusern sei im Zusammenhang mit meiner These erwähnt, dass Philipp seinen Brief nach einem eigenen Aufenthalt im Krankenhaus verfasst. Er wurde von einer vermeintlichen Krankheit, einem unbedeutenden Schwächeanfall heimgesucht und musste einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben.[31] Dort habe man nichts Außergewöhnliches festgestellt und ihn mit guten Ratschlägen und einem Rezept für Gemütsaufheller entlassen.[32]

Kunst, Literatur und psychische Erkrankungen

Psychische Erkrankungen dienen oft als Grundlage für die Auseinandersetzung mit den in einer Gesellschaft zirkulierenden Diskursen und werden am Beispiel von unmenschlich erscheinenden Systemen scheinbar kranken Individuen entgegengesetzt. So findet über die Darstellung von Geisteskrankheiten in Literatur und Kunst ein kommunikativer Austausch darüber statt, was eigentlich krank, was eigentlich verrückt sein bedeutet in dieser Welt. Ich beschäftige mich mit diesem Thema bereits in meiner Auseinandersetzung mit Joseph Hellers Catch 22. Das Werk habe ich bislang allerdings eher hinsichtlich der Figurenkonstellationen und Trauma abbildenden Erzählstruktur betrachtet. Ein bekanntes internationales Werk zu diesem Thema ist Einer flog über das Kuckucksnest (engl: One Flew Over the Cuckoo’s Nest), das auch mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt wurde. Rainald Goetzes Irre steht immer noch als ungelesenes Exemplar zu diesem Thema in meinem Regal. Vielleicht schaffe ich es bald.

Schizophrenie als Krankheitsbild

„Die Schizophrenie ist eine psychotische Störung, eine sehr schwere psychiatrische Erkrankung der Gesamtpersönlichkeit mit unklarer Ätiologie und mit einer Vielfalt von Unterformen. Sie beeinträchtigt die Grundfunktionen, die Gesunden das Gefühl von Individualität, Einzigartigkeit und Entscheidungsfreiheit geben: Sie äußert sich in Störungen der menschlichen Informationsverarbeitung im kognitiven, verbalen, affektiven und perzeptuellen Bereich, durch Realitätsverlust und Störungen der Willkürmotorik (Katatonie). Intellekt und klares Bewußtsein bleiben in der Regel erhalten. Die Wahrnehmung kann dabei durch Halluzinationen (Sinnestäuschungen) meistens akustischer, aber auch optischer oder olfaktorischer Art oder durch wahnhafte Denkinhalte verzerrt sein (produktive Symptome), was sich in schweren Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens und der Leistung niederschlägt (negative Symptome). Besonders häufig sind die akustischen Halluzinationen, die als dialogisierende und kommentierende Stimmen als sehr quälend empfunden werden: Sie sprechen über den Patienten und sein Verhalten. Patienten berichten zudem oft über eine Derealisation ihrer Welt: Sie sei verändert oder unwirklich. In mannigfaltiger Form tritt Wahn auf: als Verfolgungswahn (sehr häufig), Größen-, Beziehungs-, Abstammungs-, Vergiftungs-, Kontroll- oder Eifersuchtswahn.“[33]

Schizophrenie in Die fernen Orte des Versagens

Der Begriff kommt in Die fernen Orte des Versagens in der letzten Erzählung Traurige Rekorde vor: „Es ist ein Zeichen von Schizophrenie, zumindest von Selbstüberschätzung, in die FDP einzutreten.“[34] Kurz vorher wird dem Ich-Erzähler, der zu dem Zeitpunkt Patient oder zumindest Teilnehmer bei „Gruppensitzungen“[35] in „entsprechenden Einrichtungen“[36] ist, in denen „Rollenspiele“[37] allem Anschein nach unter Aufsicht mit mehreren Teilnehmern durchgeführt werden, von einem anderen Patienten eine Fallgeschichte erzählt. Dass der Erzähler sich bereits länger in dieser Einrichtung befindet, lässt sich von seiner Einschätzung bezüglich der Krankheitsgeschichte eines anderen erkennen, der „bereits seit über fünfzig Jahren in entsprechenden Einrichtungen [lebt], davon gute zehn bei uns“[38]. Er bezieht sich also selbst über das ‘wir’ mit ein.

In der dem Erzähler von einem anderen berichteten Fallgeschichte geht es darum, „dass in seinem Heimatdorf ein als schizophren diagnostizierter junger Mann von einem Arzt aus der Stadt so gut »eingestellt« worden war, dass er sogar in eine eigene Wohnung, ein paar Straßen vom Haus seiner Eltern entfernt, hatte ziehen können. Eines Tages hätte dieser junge Mann dann allerdings ohne Rücksprache mit seinem Arzt und ohne jemanden davon zu unterrichten seine Medikamente abgesetzt, weil er sich für geheilt hielt. In der Woche darauf wurde er beim ansässigen Ortsverein der FDP vorstellig, um in die Partei einzutreten. Den Mitgliedsbeitrag bezahlte er für ein Jahr im Voraus. Als er seinen Mitgliedsausweis und andere Unterlagen zehn Tage später mit der Post erhielt, zog er den hellblauen Zweireiher an, den er sich in der Zwischenzeit gekauft hatte, suchte das Haus seiner Eltern auf, erstach seine Mutter und verletzte den Vater schwer […].“[39]

Es sind Details aus diesem Fall über den schizophrenen Mann, die mir anderen Erzählungen aus Die fernen Orte des Versagens in Beziehung stehen könnten. Die Erzählerfigur aus der Erzählung Nach dem Gesetz beispielsweise (eine intertextuelle Relation zu Kafkas Türhüterparabel Vor dem Gesetz aus seinem bekannten Werk Der Prozeß), ein Anwalt, beobachtet an sich selbst spezifische Unklarheiten und Diffusion bezüglich seines eigenen Gemütszustands und Wahrnehmungen, die darauf schließen lassen, dass etwas nicht zu stimmen scheint. „Beobachte ich mich nur während weniger Minuten des Tages genau, muss ich feststellen, dass beständig eine Unmenge nicht voneinander trennscharf zu unterscheidender Gefühle, Stimmungen und Schwingungen durch mich hindurchrasen. Ich nehme mir manchmal, oft aus Langeweile an dem, was um mich herum geschieht, einige Minuten, um mich auf mein Innenleben zu konzentrieren, und erschrecke immer wieder aufs Neue von der Macht dieses brodelnden Wirrwarrs, das ich als beständigen Kampf um Vorherrschaft innerhalb meiner Wahrnehmungsfähigkeit interpretiere.“[40]

Neben ausufernden Erörterungen um Kafkas Parabel Vor dem Gesetz und der damit zusammenhängenden Frage nach dem Gesetz und Recht sowie weiteren illustren Themen wie der Struktur der Ehe und der Rolle der Ehefrau, der Frage nach dem Wesen der Perversion und der Lust zur Masturbation zugrundeliegenden Motivation geht der Erzähler auf einen Abstecher zu einem Herrenausstatter, in dem er die Verkäuferin nach „bordierten Zweireihern“[41] fragt. Es scheint hier eine Übereinstimmung mit der in Traurige Rekorde erzählten Fallgeschichte und dem schizophrenen Mann zu geben, der seine Medikamente absetzt, sich einen hellblauen Zweireiher zulegt und seine Eltern für Gewalttaten aufsucht. Zwar wird er hier nicht fündig und kauft am Ende nur ein „schlichtes Einlasstuch aus Atlasseide“[42].

Auch Schlangen finden sich ebenfalls bereits in Hekate, die Auseinandersetzung mit diesen Tieren findet dann zuletzt ihren Höhepunkt im Vergleich mit Schwänen und ihrer Feindschaft mit Schlangen und der Verwandlung des Schwanenhalses in eine Schlange.[43] Worauf ich hinauswill – es gibt Wortverbindungen zwischen den einzelnen Erzählungen, die ich im Rahmen meiner These mit dem Krankheitsbild der Schizophrenie und dem Erzählen verbinden kann.

Gefangen zwischen Realität und Fiktion

Schizophrenie wird darüber hinaus auch von einem Verschwimmen von Realität und Fiktion begleitet sowie von Denkstörungen oder unzusammenhängendem Denken. In der Tat scheint sich der von mir beschriebene Nebel im Zusammenhang mit der Stimmenvielfalt vor dem Begriff der Schizophrenie zu lichten. Es verschwimmt häufig die Realität des Erzählers mit seiner Wahrnehmung. Darüber hinaus scheint es oftmals Schwierigkeiten mit der eigenen Identität zu geben bzw. ein Aus-Sich-Heraustreten in der Gestalt einer externen Selbstbeobachtung scheint oftmals im Rahmen der Abspaltung des Ichs oder auch als Störung einer Differenzierung zwischen Ich und Umwelt vorzukommen – was ein weiteres Symptom für Schizophrenie und damit einhergehende Denkstörungen ist. Dies ist etwa beim Pilzsammler der Fall, wenn dieser sich tot selbst im Wald liegen sieht[44] und auch in Hekate, in der sich der Erzähler am Ende selbst mit seinen Eltern und seiner Verlobten im Auto sitzend beobachtet[45] (zumindest habe ich das so interpretiert).

In der letzten Erzählung Traurige Rekorde gipfelt sich die bereits in den vorigen Erzählungen zu beobachtende Manie als Form von beschleunigtem Denken und Sprechen, Rededrang, Ideenflucht, motorischer Ruhelosigkeit, die sich bereits vorher im intensiven Gedankenkreisen um Banalitäten, Perversionen oder ermüdenden und nichtssagenden Theorien manifestieren, die sich in immer kürzenden Abständen bereits aufgegriffenen Themen zuwenden, um dann wenige Zeilen später mit einem anderen Thema verknüpft zu werden oder ruckartig abzubrechen, um sich einem völlig anderen Thema zuzuwenden.

Manisches Denken – zerstückeltes Lesen

Für mich war dies ein zerstückeltes Lesen, ein abgehacktes Lesen, das sich nicht mehr im Fluss befindet, sondern um die eigenen manischen und wahnhaften Gedanken kreist und daher begrenzt ist, auch wenn es sich aufgrund seiner Gedankenfülle und den vielen Verweisen auf literarische Texte, Philosophen, Künstler und andere historische Personen auszudehnen scheint. Ist solch ein Schreiben die Gegenwart der Literatur? Oder könnte dies eine neue Art des Literaturschaffens sein?

Literaturschaffende als manisch denkende Schizophrene

Die Herangehensweise ist sehr interessant, also das Krankheitsbild der Schizophrenie auf die Literatur und das Erzählen anzuwenden (von meiner These ausgehend, die beweisbar ist, trotzdem aber nicht stimmen muss), denn Realität und Fiktion bedingen sich seit jeher und es gehört zum basalen Krankheitsbild der Schizophrenie, dass Realität und Fiktion verschwimmen, somit die Grenze zwischen Ich und Umwelt aufgehoben scheint und es sogar weitere Symptome wie Stimmenhören, akustische Halluzinationen und Veränderungen des Denkens und des Sprechens gibt.

Das ist in der Tat ein sehr interessanter Gedanke, der sich gut integrieren lässt in einzelne Erzählungen sowie in ein „schizophrenes“ Gesamtbild, das ich in Die fernen Orte des Versagens abgebildet sehe. Natürlich ist meine These meinen eigenen Gedankengängen entsprungen. Ich habe auf die mir im Buch begegnenden Begriffe und Handlungen insofern reagiert und mir eine eigene Meinung auf Basis meines Wissens zurechtgelegt. Wahr oder falsch – das funktioniert hier nicht. Denn ich bin mit meiner These nun gleichfalls als Stimme in die von mir eingangs angesprochene Echokammer eingetreten.

Zum Begriff des Nebels in der Echokammer

Ich nahm die vielen Stimmen in der Echokammer wie durch Nebel wahr. Nebel, das ist tatsächlich auch ein Begriff, der mit Traumata verbunden ist und sich durch Stillschweigen durch die nachfolgenden Generationen in vielfältiger Art und Weise in den Nachkommen manifestieren kann. Es gibt viele Bücher über Traumata der sogenannten Nebelkinder und über die transformierten und weitergetragenen Traumata.

„Nebelkinder – das sind die in den 1950er bis 70er Jahren des vorigen, aber nicht vergangenen Jahrhunderts geborenen Kinder der sogenannten Kriegskinder des Nationalsozialismus. Deren emotionales Erbe liegt im Verschweigen und in der Übertragung von Traumata erlittener Gewalt und verdrängter Schuld der Großelterngeneration. Nebel erzeugt eine obskure Stille und zugleich eine Omnipräsenz des nicht zu Durchschauenden. Er trennt die Nebelkinder von den Projektionen der durch Verlustängste und Verwundungen gekennzeichneten Eltern und hüllt sie zugleich in ihnen ein.“[46]

Auch dieser Begriff lässt sich mit Schizophrenie, dem Sinn des Erzählens und Traumata und natürlich auch mit Intertextualität und Individualität in Beziehung setzen. An dieser Stelle kann ich weiterführende Gedanken mit Notieren der dazugehörigen Begriffe nur andeuten und muss aus Zeitgründen leider auf weitere Ausführungen verzichten.

Wie bin ich auf Schizophrenie gekommen

Über die Natur des Zufalls lässt sich ja bekanntlich diskutieren. Ich hatte ursprünglich nicht vor, das Thema Schizophrenie aufzugreifen. Es ist kein Thema, mit dem ich mich beschäftigen will und ich bin auch nicht mit dem Thema vertraut. Ich hatte vor, mich auf die Intertextualität zu konzentrieren, daher auch der Einstieg über Roland Barthes und die Echokammer. Doch dann wurde mir in einer dieser nervigen Onlinewerbeanzeigen der Film Die wundersame Welt des Louis Wain (engl. The Electrical Life of Louis Wain – es lebe die deutsche Übersetzung!) vorgeschlagen. Naja, ich mag Katzen und Benedict Cumberbatch, der Film war kostenfrei zugänglich, warum also nicht.

Louis Wain war ein britischer Künstler, der von 1860 bis 1939 lebte. Er wurde vor allem für seine Darstellungen von anthropomorphen Katzen bekannt, wobei seine Werke sich durch lebendige Farben und surreal-anthropomorphe Darstellungen von Katzen auszeichnen. Wain litt später in seinem Leben an Schizophrenie. Dies führte zu einem dramatischen Wandel in seinem künstlerischen Stil. Trotz seiner persönlichen Schwierigkeiten trug er bedeutend zur populären Kultur durch seine einzigartigen Katzenillustrationen bei.

Verbindendungen schaffen durch literarische Relationen

Doch die Zusammenfassung wollte ich nur am Rande mitteilen, der Verständnis halber. Um ehrlich zu sein, gefiel mir der Film auch in mehrfacher Hinsicht nicht wirklich. Aber es geht mir sowieso um etwas anderes und zwar um Inspiration oder mit der Sprache der Figur des Louis Wain (Benedict Cumberbatch) um Elektrizität. Es gibt zwei Dialoge in dem Film (ich werde sie aber in der deutschen Fassung notieren), die ich auch bezüglich der Frage nach dem Warum des Erzählens in Die fernen Orte des Versagens sehen kann oder zumindest kann ich eine Relation aufrufen. Das muss aber nichts heißen. Es handelt sich schließlich um meine ganz eigenen Überlegungen, die durch Figuren aus einem Film inspiriert wurden.

Louis Wain: Es gibt eine Redensart, die lautet: Es gibt keine Zeit, nur die Gegenwart. Das heißt, man hat keine Zeit. Sie ist zu flüchtig. Tatsächlich habe ich die Hypothese, dass uns die Elektrizität durch die Zeit treibt, wir tauschen einfach die Vergangenheit gegen die Zukunft, kraft unserer Elektrizität. Jedoch ist dieser Prozess vollkommen umkehrbar. Sich an Vergangenes zu erinnern ist nichts anderes als sich Zukünftiges vorzustellen. Und beides unterscheidet sich nicht vom Leben.“[47]

Die Flüchtigkeit der Zeit durch Verbindung überwinden

Das Jetzt ist ein Knotenpunkt, von dem aus sich Literatur aus mit den Leben vieler Menschen verbindet. Autoren schreiben Bücher. Bücher werden gelesen und erhalten Bedeutung im Leben anderer. Eine Verbindung entsteht über das geschriebene Wort und den darin enthaltenen Sinn, er muss vielleicht nicht einmal in seiner Intention überspringen, konzentriert man sich allein auf die durch die Verschriftlichung entstandene Verbindung. Intertextualität. Schreiben ist demnach eine Kunst, genauso wie das Malen, mit dem Louis Wain Katzenbilder geschaffen hat.

Herb: Wieso denken Sie, wollte Emily, dass Sie weiterhin Bilder malen, Mister Wain?
Louis Wain: Um Menschen zu helfen. Um ihnen die Bilder zu zeigen.
Herb: Vielleicht. Und zweifellos haben sie das getan. Doch ich habe eine ganz andere Theorie.
Ich denke, sie wollte, dass sie weiterhin malen, damit sie nicht allein sind. Wenn sie malen, Mister Wain, treten sie mit anderen Menschen in Verbindung und schenken ihnen ein Stück von sich selbst. Aber: Die anderen treten auch in Verbindung mit ihnen und diese Elektrizität die sie beschreiben, die sie in Anwesenheit Emilys spürten, das nenne ich Liebe, Mister Wain. Und sie ist immer noch hier. [48]

Das Erzählen und das Nicht-erzählte verbinden

Literatur ist eine Form der Kommunikation. Sie ermöglicht Austausch. Wenn man schreibt, tritt man mit anderen Menschen in Verbindung und zeigt etwas von sich selbst und auch die Leser treten in Verbindung mit den Autoren und dem, was sie geschrieben haben. Geht man davon aus, dass beim Erzählen „grundsätzlich von der falschen Prämisse ausgegangen wird, es ließe sich etwas erzählen, wenn es doch immer das Nicht-Erzählte ist, das seine Vormachtstellung behauptet“[49], dann erscheint Erzählen absurd. Zumindest für Philipp, der davon ausgeht, dass Plot und Handlung nur zur Übertölpelung der Leser dienen, die sich nur „von einer mühsam zusammengepressten Erzähllogik blenden lassen“ sollen, um sich nicht auf die Geschichten zu konzentrieren, die nie erzählt wurden.[50]

Aber steckt nicht vielleicht die Essenz der nicht erzählten Geschichten in der tatsächlich erzählten Geschichte? Sind vielleicht die nicht erzählten Geschichten Motor für das Erzählen der letztlich erzählten Geschichte und haben daher Anteil an ihnen? Wird nicht vielleicht das Nicht-Erzählte in Erzählen transformiert und gelangt darum in die Reichweite sehr viel mehr Menschen, als in seiner nicht erzählten Form? Gehören das Erzählen und das Nicht-Erzählen zusammen und besitzen eine individuelle Bedeutung für jeden Einzelnen?

Beschluss zu Frank Witzels Die fernen Orte des Versagens

Ist der Sinn des Erzählens Liebe, Liebe zum Selbst, die sich über weit verzweigte Netze immer weiter ausbreitet und sich dabei ausdehnt auf die Vergangenheit und Zukunft, dabei immer von diesem einen flüchtigen gegenwärtigen Punkt aus geschaffen werden kann, die wir als Gegenwart bezeichnen? Und wie wäre diese Form der Liebe mit meiner These und der Schizophrenie in Beziehung zu setzen? Ist es nicht gerade Vielstimmigkeit in literarischem Schreiben inbegriffen? Müssen Autoren schizophren sein, um sich in die vielen Rollen und Figuren hineinzuversetzen, die sie in ihrem kreativen Prozess erschaffen?

Oder stellt das literarische und vielstimmige Schreiben Optionen dar, durch Erzählungen auch die dahinterstehenden und mit ihm verbundenen Nicht-Erzählungen des Individuellen indirekt in den Schreibprozess einfließen zu lassen und sie doch auf ihre individuelle Weise im Allgemeinen aufgehen zu lassen? Auch in Krankenhäusern gibt es Individualität, auch Literatur kann immer noch Genialität hervorbringen. Gegen die negative Auffassung von Philipp, die er meines Erachtens vor dem Beginn einer sich langsam ausbreitenden Psychose im Angesicht dieses Kritikersatzes hat, also die Auffassung, Literatur sei nur zur Unterhaltung da, setze ich in diesem gegenwärtigen und flüchtigen Moment entgegen:

Literatur entsteht aus Liebe zum Individuellen und zur Literatur. Und diese Liebe verbindet Menschen durch Literatur über alle Zeiten hinweg. Wenn Erzählen eine anthropologische Universalie oder Konstante ist, dann ist auch die Liebe zum Erzählen durch Menschen universell und konstant.

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Quellen:

Sharpe, Will: The Electrical Life of Louis Wain [Film]. Vereinigtes Königreich: Feature Film, 2021.
Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens, Berlin 2023.

Zusätzlich verwendete Literatur:

Barthes, Roland: Über mich selbst. Übersetzt von Jürgen Hoch. München 1978.
Berndt, Frauke/Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013 (Grundlagen der Germanistik 53).
Draesner, Ulrike: Sieben Sprünge bis zum Rand der Welt, München 2016.
Meister, Jan Christoph: Erzählen: Eine anthropologische Universalie? In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hg. von Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin/Boston 2018, S. 88-112.
Mi.Bo./Eigenstetter, Monika: Schizophrenie. In: Spektrum. Lexikon der Psychologie. Heidelberg 2000, online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/schizophrenie/13481#:~:text=Schizophrenie%2C%20Gruppe%20psychotischer%20St%C3%B6rungen%2C%20die,(%E2%80%9Cfr%C3%BChzeitige%20Verbl%C3%B6dung%E2%80%9D) (zuletzt aufgerufen am 12.01.2024).
Prosinger, Annette: Alice Miller und das Drama des begabten Kindes. In: Welt, veröffentlicht am 15.10.2013, online unter: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article120928668/Alice-Miller-und-das-Drama-ihres-begabten-Kindes.html (zuletzt aufgerufen am 11.1.2024).
Steierwald, Ulrike: Purpurne Zeichen. Poetische Qualität und erschütternder Realismus verknüpfen Ulrike Draesners „Die Verwandelten“ mit Ovids sprachlichen Metamorphosen der Gewalterfahrung. In: literaturkritik.de vom 2. April 2023, online unter: https://literaturkritik.de/draesner-die-verwandelten-purpurne-zeichen,29615.html (zuletzt aufgerufen am 13.01.2023).


[1] Barthes, Roland: Über mich selbst. Übersetzt von Jürgen Hoch. München 1978, S. 81. [2] Berndt, Frauke/Tonger-Erk, Lily: Intertextualität. Eine Einführung. Berlin 2013 (Grundlagen der Germanistik 53), einführend S. 17-33. [3] Ebd., S. 37 [4] Ebd., S. 49. [5] Ebd. [6] Ebd., S. 51. [7] Ebd. [8] Draesner, Ulrike: Sieben Sprünge bis zum Rand der Welt, München 2016, S. 19. [9] Frank Witzel: Die fernen Orte des Versagens, Berlin 2023, S. 20. [10] Ebd., S. 50. [11] Ebd., S. 55. [12] Ebd., S. 77. [13] Ebd. [14] Ebd., S. 80. [15] Ebd., S. 84. [16] Prosinger, Annette: Alice Miller und das Drama des  begabten Kindes. In: Welt, veröffentlicht am 15.10.2013, online unter: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article120928668/Alice-Miller-und-das-Drama-ihres-begabten-Kindes.html (zuletzt aufgerufen am 11.1.2024). [17] Witzel: Die fernen Orte des Versagens, S. 13. [18] Ebd. [19] Ebd., S. 14. [20] Ebd. [21] Ebd. [22] Ebd. [23] Ebd., S. 15. [24] Ebd. [25] Ebd., S. 14. [26] Ebd., S. 16. [27] Ebd. [28] Ebd., S. 18. [29] Meister, Jan Christoph: Erzählen: Eine anthropologische Universalie? In: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Hg. von Martin Huber und Wolf Schmid. Berlin/Boston 2018, S. 88-112, hier S. 88. [30] Ebd. [31] Witzel: Die fernen Orte des Versagens, S. 12. [32] Ebd. [33] Mi.Bo./Eigenstetter, Monika: Schizophrenie. In: Spektrum. Lexikon der Psychologie. Heidelberg 2000, online unter: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/schizophrenie/13481#:~:text=Schizophrenie%2C%20Gruppe%20psychotischer%20St%C3%B6rungen%2C%20die,(%E2%80%9Cfr%C3%BChzeitige%20Verbl%C3%B6dung%E2%80%9D) (zuletzt aufgerufen am 12.01.2024). [34] Witzel: Die fernen Orte des Versagens, S. 338. [35] Ebd., S. 288. [36] Ebd. [37] Ebd. [38] Ebd. [39] Ebd., S. 338. [40] Ebd., S. 232. [41] Ebd., S. 246. [42] Ebd., S. 246. [43] Ebd., S. 312-313. [44] Ebd., S. 171-188. [45] Ebd., S. 271. [46] Steierwald, Ulrike: Purpurne Zeichen. Poetische Qualität und erschütternder Realismus verknüpfen Ulrike Draesners „Die Verwandelten“ mit Ovids sprachlichen Metamorphosen der Gewalterfahrung. In: literaturkritik.de vom 2. April 2023, online unter: https://literaturkritik.de/draesner-die-verwandelten-purpurne-zeichen,29615.html (zuletzt aufgerufen am 13.01.2023). [47] Sharpe, Will: The Electrical Life of Louis Wain [Film]. Vereinigtes Königreich: Feature Film, 2021.: 00:41:22-42:06. [48] Sharpe: The Electrical Life of Louis Wain, 1:33:15-1:34:34. [49] Witzel: Die fernen Orte des Versagens, S. 78. [50] Ebd.

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