Zuletzt bearbeitet am 15. Dezember 2025
Der Titel verweist auf den Inhalt, denn es geht in Genki Kawamuras Roman Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden (原題: 世界から猫が消えたなら) von 2012 auch um eine Katze namens Cabbage. Im Grunde handelt es sich bei dem Roman um ein Gedankenexperiment, das die japanische Tradition des Memento mori kreativ erzählt und uns Leserinnen und Leser zu einer intensiven Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen einlädt. Was ist eigentlich wirklich wichtig im Leben? Was können wir loslassen? Was nicht und warum?
Der Roman fand international eine große Resonanz, wobei die deutsche Übersetzung von Ursula Gräfe uns Kawamuras poetische Erzählung überLeben, Tod und die Bedeutung scheinbar alltäglicher Dinge auch hierzulande zugänglich. Insofern handelt es sich um eine Allegorie und welches Tier könnte wohl besser in einer allegorischen Darstellung zum Memento mori dienen, als eine Katze? Dazu gleich mehr.
Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden ist lesenswert, weil…
👉 …es eine Erzählung über Vergänglichkeit und die Kostbarkeit des Moments bietet, die zum Nachdenken über die eigenen Prioritäten anregt.
👉 …die fantastische Prämisse – ein todkranker Postbote kann sein Leben verlängern, indem er Dinge aus der Welt verschwinden lässt – eine kreative Auseinandersetzung mit dem Thema ist.
👉 …die Katze als stiller Begleiter und zugleich Symbol für bedingungslose Zuneigung eine emotionale Tiefe schafft, mit der sich insbesondere Tierbesitzer:innen identifizieren können.
👉 …Kawamuras klarer, unprätentiöser Stil typisch für japanische Gegenwartsliteratur ist und durch seine Schlichtheit sehr eindringlich ist.
👉 …es universelle Fragen nach Erinnerung, Beziehungen und dem, was zurückbleibt, auf zugängliche und doch tiefgründige Weise stellt.
Ein kleiner Ausschnitt aus If Cats Disappeared From The World
Sometimes, when you rewatch a film after a long time, it makes a totally different impression than it did the first time you saw it. Of course, the movie hasn’t changed.
It’s you that’s changed, and seeing the same film again makes that impossible to forget.
If my life were a film, it would have to find a way of showing my changing perspective. That’s to say, how I see my own life has changed over time. I would feel affection for scenes where I’d originally cried. The past love interest is now long forgotten.
What I’m remembering now are all the good times I had with my mother and father. Only the good times …
When I was three years old, my parents took me to the movies the first time. We saw E.T. It was pitch black inside the theater, and the sound was so loud. The theater was filled with the buttery salty smell of popcorn. On my right sat my father, on my left was my mother. Sandwiched between my parents in the dark theater, I couldn’t have escaped even if I’d wanted to. I just looked up at the huge screen and watched. But I remember almost nothing about the movie.
The only thing I remember is that scene where the boy, Elliott, rides through the sky with E.T. on his bike. It’s a powerful memory. It made me want to shout, or cry, or something … It sems to me that’s what movies are all about. I can still remember the impression it made on me—it was overwhelming. I held on tight to my father’s hand and he held mine tightly in return.
A few years ago a digitally re-mastered version of E.T. was showing on late-night television. I hate watching movies on TV, with the constant interruptions from adverts, so was about to turn it off, but once I started I was gripped.
About twenty-five years had gone by since I first saw the film but I still found myself as moved by the same scenes as I had been as a child. I couldn’t stop myself from crying. But that still doesn’t mean that the experience was exactly the same as it had been when I was three.
For one thing, twenty-five years later I knew I’d never fly through the air like they do in the movie. And it’s been years since I spoke to my father, who back then was sitting next to me holding my hand tightly. Meanwhile, my mother, who sat on my left in the theater, is no longer in this world. So I suppose I know two things I didn’t know then. I can’t fly, and what I had then has gone forever.
What did I gain growing up, and what did I lose? I can never resurrect the thoughts and feelings I had in the past. When I think about that, I feel a wave of sadness so strong that the tears won’t stop.
Aus: Genki Kawamura: If Cats Disappeared from the World. Translated from Japanese by Eric Selland. Tokyo 2012, S. 100-103.
Deutsche Übersetzung der Passage Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden
Manchmal, wenn man einen Film nach langer Zeit noch einmal sieht, hinterlässt er einen völlig anderen Eindruck als beim ersten Mal. Natürlich hat sich der Film nicht verändert. Du bist es, der sich verändert hat, und denselben Film noch einmal zu sehen macht das unmöglich zu vergessen.
Wenn mein Leben ein Film wäre, müsste er einen Weg finden zu zeigen, wie sich meine Perspektive verändert hat. Das heißt, wie ich mein eigenes Leben sehe, hat sich mit der Zeit gewandelt. Ich würde Zuneigung für Szenen empfinden, bei denen ich ursprünglich geweint hatte. Die frühere Liebe ist nun längst vergessen.
Woran ich mich jetzt erinnere, sind all die schönen Zeiten, die ich mit meiner Mutter und meinem Vater hatte. Nur die schönen Zeiten …
Als ich drei Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zum ersten Mal mit ins Kino. Wir sahen E.T. Es war stockdunkel im Kinosaal, und der Ton war so laut. Das Kino war erfüllt vom buttrig-salzigen Duft von Popcorn.
Rechts von mir saß mein Vater, links meine Mutter. Eingekeilt zwischen meinen Eltern im dunklen Kino hätte ich nicht fliehen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich schaute einfach zur riesigen Leinwand hinauf und sah zu. Aber ich erinnere mich an fast nichts von dem Film.
Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist diese Szene, in der der Junge, Elliott, mit E.T. auf seinem Fahrrad durch den Himmel fliegt. Es ist eine starke Erinnerung. Sie ließ mich schreien wollen, oder weinen, oder irgendetwas … Mir scheint, genau darum geht es bei Filmen. Ich kann mich noch immer an den Eindruck erinnern, den er auf mich machte – er war überwältigend. Ich hielt die Hand meines Vaters ganz fest und er hielt meine fest im Gegenzug.
Vor ein paar Jahren lief eine digital überarbeitete Version von E.T. im Spätabendprogramm im Fernsehen. Ich hasse es, Filme im Fernsehen zu sehen, mit den ständigen Werbeunterbrechungen, und wollte gerade abschalten, aber sobald ich angefangen hatte, war ich gefesselt.
Etwa fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit ich den Film zum ersten Mal gesehen hatte, aber ich fand mich trotzdem von denselben Szenen bewegt wie damals als Kind. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Aber das bedeutet noch nicht, dass die Erfahrung genau dieselbe war wie damals, als ich drei war.
Zum einen wusste ich fünfundzwanzig Jahre später, dass ich niemals durch die Luft fliegen würde wie im Film. Und es ist Jahre her, dass ich mit meinem Vater gesprochen habe, der damals neben mir saß und meine Hand festhielt. Währenddessen ist meine Mutter, die links von mir im Kino saß, nicht mehr auf dieser Welt. Also kenne ich wohl zwei Dinge, die ich damals nicht wusste. Ich kann nicht fliegen, und was ich damals hatte, ist für immer verloren.
Was habe ich beim Erwachsenwerden gewonnen, und was habe ich verloren? Ich kann die Gedanken und Gefühle, die ich in der Vergangenheit hatte, niemals wiedererwecken. Wenn ich daran denke, spüre ich eine Welle von Traurigkeit, so stark, dass die Tränen nicht aufhören wollen.
Was es mit der Filmmetapher aus Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden auf sich hat
Die Passage aus Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden verdeutlicht das zentrale Thema des Romans: Wie die Dinge um uns herum – hier der Film E.T., den der Protagonist erst als Kind und dann als Erwachsener sieht – erst durch unsere Erinnerungen und Beziehungen ihre wahre Bedeutung erhalten. Der Protagonist erkennt, dass E.T. nicht wegen der Geschichte selbst wertvoll ist, sondern weil er mit der Hand seines Vaters verbunden ist, mit der Anwesenheit seiner verstorbenen Mutter. Genauso zeigt der Roman, dass wenn Dinge verschwinden, nicht nur die Objekte selbst verloren gehen, sondern die gesamten Erinnerungen und Beziehungen, die daran hängen. Es ist eine schmerzhafte Lektion über Vergänglichkeit: Wir können nicht fliegen, und was wir hatten, ist für immer verloren – es sei denn, wir erkennen seinen Wert, solange es noch da ist. Diese Thematik der Erinnerung an Objekte erinnert mich an Oben Erde, unten Himmel von Milena Michiko Flašar.
Jedenfalls (und darum geht es auch) hat jeder von uns solche Berührungspunkte. Ich bin früher mit meinen Freunden „an jedem verdammten Sonntag“ ins Kino gegangen. Wir waren sogar an einem Sonntag in dem Film An jedem verdammten Sonntag. Ich erinnere mich gerne an diese Zeit zurück, weil ich die Regelmäßigkeit unserer Kinobesuche mochte, etwas Bleibendes in einer sich wandelnden Welt. Aber es ging bei den wöchentlichen Kinobesuchen gar nicht unbedingt um die Filme, sondern um das Beisammensein. Und wie wir uns nachher über den Film austauschen konnten – das Reden über das Gesehene. Es ist sehr interessant, die Sache einmal von dieser Warte aus zu betrachten.
Zusammenfassung Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden
Ein junger Postbote erfährt, dass er an einem Hirntumor erkrankt ist und nur noch wenige Tage zu leben hat. Am nächsten Tag erscheint der Teufel in seiner Wohnung – als sein Doppelgänger – und unterbreitet ihm einen Deal: Er darf weiterleben. Doch für jeden weiteren Tag verschwindet eine Sache aus der Welt. Zunächst erscheinen die Opfer akzeptabel: Telefone, Filme, Uhren. Doch mit jedem Verschwinden erkennt der Protagonist, wie eng diese Dinge mit seinen Erinnerungen, Beziehungen und seiner Identität verwoben sind. Als der Teufel schließlich verlangt, dass alle Katzen verschwinden sollen – einschließlich seiner geliebten Katze Cabbage –, muss er sich der fundamentalsten Frage stellen: Was macht ein Leben lebenswert?
Übrigens gibt es auch If Cats disappeared from the World mit englischen Untertiteln aus dem Jahr 2016. Hier der Trailer:
Zum Autor Genki Kawamura
Genki Kawamura wurde 1979 geboren und ist Schriftsteller und ein erfolgreicher Filmproduzent in Japan. Er produzierte mehrere bedeutende Anime-Filme, darunter den weltweiten Erfolg Your Name (君の名は。) von Makoto Shinkai. Sein Debütroman Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden wurde in Japan über eine Million Mal verkauft und 2016 verfilmt. 2025 erschien One Hundred Flowers als englische Übersetzung des bereits 2019 in Japan erschienenen 百花 (Hyakka). Kawamura verbindet in seinem Schaffen visuelle und literarische Erzählkunst und zeigt ein feines Gespür für emotionale Geschichten, die sowohl populär als auch künstlerisch anspruchsvoll sind. Und er hat auch am 12. März Geburtstag wie ich. Das macht ihn mir natürlich auch gleich sympathisch, obwohl so etwas ja nichts heißt.
Memento Mori in der bildenden Kunst
Die barocke Vanitas-Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts erhob das Memento Mori zur eigenständigen Kunstgattung. Niederländische und flämische Meister schufen Stillleben, die mit symbolträchtigen Objekten arbeiteten:
- Der Totenschädel als direktestes Symbol der Sterblichkeit
- Verwelkende Blumen für die Vergänglichkeit der Schönheit
- Erlöschende Kerzen für das endende Leben
- Uhren und Sanduhren für die verrinnende Zeit
- Seifenblasen für die Fragilität des Daseins
- Verfaulende Früchte für den Verfall alles Organischen
Ein Meisterwerk dieses Genres ist Philippe de Champaignes Vanitas (um 1671), das einen Totenschädel, eine Tulpe und eine Sanduhr zeigt – drei Zeitalter des Lebens in drei Objekten. Auch auf Adriaen van Utrechts Stillleben mit Blumenvase und Totenkopf aus dem Jahr 1642 sind die genannten typischen Motive vorhanden. Vanitas bedeutet Eitelkeit und lässt sich insofern deuten, als dass der Mensch sich nicht so viel auf sich einbilden soll, weil er vergänglich ist.
Von Adriaen van Utrecht / Atelier/Werkstatt von Adriaen van Utrecht / Ehemals zugeschrieben an Pieter de Ring / Ehemals zugeschrieben an Pieter van de Venne – Eigenes Werk, user:Andreagrossmann, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1172077
Adriaen van Utrecht Stillleben mit Blumenvase und Totenkopf, ca. 1642, Öl auf Leinwand, 67 × 86 cm
Literaturwissenschaftliches Interesse: Memento mori
Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden lässt sich als modernes Memento Mori lesen, das die jahrhundertealte philosophische Tradition der Vergänglichkeitsbetrachtung in eine zeitgenössische, konsumgeprägte Welt überträgt. Vielleicht hat jemand eines dieser frühneuzeitlichen Gemälde vor Augen, auf denen verwelkte Blumen, tote Hühner, kaputte Uhren, verfaultes Obst oder abgebrannte Kerzen abgebildet sind. Es handelt sich dabei um sogenannte Vanitas-Stillleben, auf der die Nichtigkeit des Menschen abgebildet ist. Es handelt sich also um eine Kunstgattung aus der Epoche des Barock (ca. 1585–1730), die das Thema der Vergänglichkeit durch bestimmte Symbole präsentiert. Oftmals finden sich auf diesen Gemälden auch Schädel. Und wer hat jetzt nicht Hamlet und das berühmte Zitat „Sein oder nicht sein“ im Ohr? (Dazu gleich etwas mehr) Memento mori bedeutet auf Lateinisch in etwa „Gedenke des Todes“. Im Gegensatz zum Vanitas-Motiv, das mit einer bestimmten Epoche in Verbindung gebracht wird, existiert das Memento mori schon seit der Antike in vielerlei Formen. Man denke etwa an Alexander den Großen, der sich für die Nachwelt verewigen wollte oder an Achilles. Im Mittelalter wurde diese Idee von der christlichen Kirche aufgegriffen, um die Gläubigen an die Vergänglichkeit des irdischen Lebens und die Wichtigkeit der Seelenheilung zu erinnern. Die berühmten Totentänze (Danses macabres) des 14. und 15. Jahrhunderts zeigten den Tod als gleichmachende Kraft, die Kaiser und Bettler gleichermaßen holt.
Memento Mori in der Literatur
Shakespeare und Hamlet
Shakespeares Hamlet (um 1600) bietet eine der berühmtesten literarischen Memento-Mori-Szenen der Weltliteratur. In der Friedhofszene des fünften Akts hält Hamlet den Schädel des Hofnarren Yorick in Händen:
Erster Totengräber. Das Wetter über den unklugen Schalk! Er goß mir einmal eine Flasche Rheinwein über den Kopf. Dieser Schädel da war Yoricks Schädel, des Königs Spaßmacher.
Hamlet. Dieser? (Nimmt den Schädel.)
Erster Totengräber. Ja, ja, eben der.
Hamlet. Ach, armer Yorick! – Ich kannte ihn, Horatio, ein Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen. Er hat mich tausendmal auf dem Rücken getragen, und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor! Mir wird ganz übel. Hier hingen diese Lippen, [446] die ich geküßt habe, ich weiß nicht wie oft. Wo sind nun deine Schwänke, deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Ist jetzt keiner da, der sich über dein eigenes Grinsen aufhielte? Alles weggeschrumpft?
Aus: William Shakespeare: Hamlet. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Herausgegeben von Dietrich Klose. Stuttgart 2001, 5. Akt, 1. Szene, S. 119.
Diese Szene verdichtet die Memento-Mori-Thematik: Der Schädel ist für Hamlet nicht anonym, sondern gehörte einem geliebten Menschen. Hamlet erkennt, dass selbst Schönheit, Witz und Lebendigkeit – verkörpert durch Yorick – zu Staub werden. Danach wird Hamlet noch auf Alexander den Großen und Cäsar zu sprechen kommen:
Zum Beispiel so: Alexander starb, Alexander ward begraben, Alexander verwandelte sich in Staub; der Staub ist Erde; aus Erde machen wir Lehm: und warum sollte man nicht mit dem Lehm, worin er verwandelt ward, ein Bierfaß stopfen können?
Shakespeare hat die soziale Gleichmachung des Todes radikal durchdacht und nimmt sich historische Größen, deren Namen wiederhallen und präsent sind, doch sind ihre Körper Staub. Im Übrigen ist das auch ein Konzept, das Kleist in seiner kurzen Novelle Das Erdbeben in Chili literarisch ausformuliert hat.
Die japanische Parallele: Mono no aware
Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden aktualisiert diese alte Tradition für das 21. Jahrhundert. Statt Totenschädel und verwelkender Blumen verwendet Kawamura moderne Objekte: Telefone, Filme, Uhren. Die Frage bleibt dieselbe – was bleibt, wenn alles vergeht? –, aber die Antwort ist persönlicher, intimer geworden.
Wie Hamlet mit Yoricks Schädel wird der Protagonist nicht mit abstrakter Sterblichkeit konfrontiert, sondern mit der konkreten Vergänglichkeit der Dinge und Menschen, die sein Leben ausmachen. Der Unterschied: Während Hamlet in melancholischer Betrachtung verharrt, vollzieht Kawamuras Protagonist aktiv Verluste und erkennt dadurch den Wert des Verbleibenden. Die Katze wird zum modernen Vanitas-Symbol – ein lebendiges Memento Mori, das gleichzeitig Trost und Mahnung ist.
Kawamuras moderne Synthese
Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden aktualisiert die Tradition des Memento Mori bzw. auch die Vanitas-Symbolik für das 21. Jahrhundert. Statt Totenschädel und verwelkender Blumen verwendet Kawamura moderne Objekte: Telefone, Filme, Uhren. Die Fragen, die sich Künstler des Barocks und sicherlich auch Shakespeare stellten – was bleibt, wenn alles vergeht? – sind geblieben. Doch die Antwort ist ins Private verschoben, ist persönlicher und intimer geworden.
Da lässt sich natürlich ein Vergleich mit Hamlet und Yoricks Schädel wagen, allerdings wird der Protagonist in Kawamuras Werk nicht direkt mit Sterblichkeit konfrontiert, sondern mit der konkreten Vergänglichkeit der Dinge und Menschen, die sein gesamtes Leben ausmachen. Während Hamlet in melancholischer Betrachtung verharrt (wobei „harren“ hier ein überhaupt für das Werk sinnstiftender Begriff ist), vollzieht Kawamuras Protagonist aktiv Verluste und erkennt durch ihr Verschwinden den Wert des Verbleibenden.
Und die Katze wird zum modernen Vanitas-Symbol – ein lebendiges Memento Mori, das gleichzeitig Trost und Mahnung ist. Und das führt uns zum Gedankenexperiment Schrödingers Katze!
Schrödingers Katze in Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden
Vielleicht hat Shakespeare als genialer Dichter vor seiner Zeit schon für Hamlet eine Katze im Stück eingeplant und sie dann doch lieber gegen Yoricks Schädel ausgetauscht, weil er nicht völlig aus dem Rahmen fallen wollte. Wie dem auch sei, ich finde die Parallele wirklich sehr passend und komme nicht umhin, den Gedanken aufzugreifen und weiter auszuformulieren. Denn es schließt sich hier ein faszinierender Kreis zur Quantenphysik: Erwin Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment von 1935 postuliert eine Katze in einer verschlossenen Kiste, die sich in einem Zustand der Überlagerung befindet – gleichzeitig tot und lebendig, bis jemand die Kiste öffnet und durch die Beobachtung den Zustand kollabieren lässt.
In Kawamuras Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden wird dieses Paradox existenziell gewendet: Die Katze Cabbage existiert und existiert nicht zugleich, sobald der Teufel das Verschwinden aller Katzen fordert. Der Protagonist steht vor einer metaphysischen Entscheidung, die Schrödingers physikalisches Dilemma spiegelt. Solange er nicht entscheidet, schwebt seine Katze zwischen Anwesenheit und Abwesenheit – zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein könnte.
Doch Kawamura geht weiter: Während Schrödingers Katze ein abstraktes Beispiel für Quantenmechanik ist, wird Katze Cabbage zur Verkörperung einer zutiefst menschlichen Erkenntnis. Die Katze ist nicht nur lebendig oder tot – sie ist bedeutsam durch die Beziehung, durch die Erinnerungen, durch die täglichen Rituale. Ihr mögliches Verschwinden zwingt den Protagonisten zu realisieren, dass Existenz nicht nur ein physikalischer Zustand ist, sondern ein Netz aus Verbindungen.
Zwischen Sein und Nichtsein
In beiden Fällen – bei Schrödinger wie bei Kawamura – geht es letztlich um die Rolle des Beobachters: Was macht etwas real? Ist es die bloße Existenz oder die bewusste Wahrnehmung, die liebevolle Aufmerksamkeit? Die Katze in der Kiste ist theoretisch; Cabbage auf dem Sofa ist Leben selbst. Und die Entscheidung, ob Katzen verschwinden oder bleiben, wird zur ultimativen Frage: Ist ein Leben ohne das, was wir lieben, überhaupt noch ein Leben?
So verbindet Kawamura barocke Vanitas-Symbolik mit quantenphysikalischer Unbestimmtheit zu einer zeitgenössischen Reflexion über Verlust, Präsenz und die fragile Realität dessen, was uns wertvoll ist.
Weitere Impulse: Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden
Interessant war für mich auch die narrative Struktur des Romans: Durch die episodische Abfolge der verschwindenden Objekte entsteht eine Form der inversen Akkumulation – statt aufzubauen, wird abgetragen, wodurch das Wesentliche sichtbar wird. Überdies hat eine Woche sieben Tage – das erinnert an den biblischen Schöpfungsakt – nur eben rückwärts und zu dem durch den Teufel höchstselbst initiiert.
Die Doppelgänger-Figur des Teufels kann darüber hinaus auch als dialogisches Selbst interpretiert werden. Man könnte also behaupten, dass Kawamura diese Figur nutzt, um die inneren Konflikte des Protagonisten, der mit seinem baldigen Ableben konfrontiert wird, zur diskutieren. Und der Pakt mit dem Teufel erinnert natürlich auch an die westlichen Erzählmuster des faustischen Pakts – wobei Differenzen zu erörtern wären.
Genki Kawamuras Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden gehört meiner Meinung nach zu jenen Büchern, die ihre Wirkung nicht durch dramatische Wendungen in der Handlung entfalten, sondern durch die Möglichkeiten der subjektiven Reflexion. Der Roman ist nicht einfach nur ein Konsumgut und zur Unterhaltung leicht zu lesen, sondern wie der Protagonist können Lesende über der Lektüre ins Grübeln kommen. Man könnte nun natürlich behaupten, dass der Roman für einen Adventskalender aufgrund der Thematik eher ungeeignet ist. Doch ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Darüber hinaus eignet sich die Lektüre nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern das ganze Jahr über.
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Bildquellen
- Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden: Genki Kawamura: If Cats Disappeared from the World. Translated from Japanese by Eric Selland. Tokyo 2012.
- Adriaen_van_Utrecht-_Vanitas_-_Still_Life_with_Bouquet_and_Skull_klein: Adriaen van Utrecht Stillleben mit Blumenvase und Totenkopf, ca. 1642, Öl auf Leinwand, 67 × 86 cm