Tür 16 – Alina Bronsky mit Pi mal Daumen

Lieblingsbuch der Unabhängigen 2024

16. Dezember – Literarischer Adventskalender

Pi mal Daumen von Alina Bronsky ist ein Buch, das mich direkt angesprungen ist – ich musste es kaufen. Ich habe es an einem Abend durchgelesen, vielleicht, weil es mich persönlich berührt hat. Es treffen der 16-jährige hochbegabte Oscar und die Mittfünfzigerin Moni während ihres Mathematikstudiums an einer deutschen Uni aufeinander. Das ist nicht nur der Beginn einer besonderen Freundschaft, sondern auch eine Reise beider Figuren zu ihrem wahren Selbst.

Kleine Einführung zu Pi mal Daumen

Es geht in Pi mal Daumen um Identität, um Mitgefühl, um Intelligenz, um das Einstehen für andere, um Machtmissbrauch, um Autoritätsgehabe, um die Konsequenzen falscher Schlussfolgerungen, um Mathematik und die akademische Welt, um die Chance auf Bildung und wer sie letztlich wirklich hat – es geht um das Erkennen des eigenen Selbst und anderer Personen. Besonders lustig finde ich die Spitzen auf solch »pseudowissenschaftliche« Studiengänge wie Germanistik oder Erziehungswissenschaften, auch wenn ich ja irgendwann in diesem Leben den literaturwissenschaftlichen Dr. phil im Perso stehen haben werde. Dabei können interdisziplinäre Ansätze durchaus funktionieren. In Anlehnung an meine These weiter unten ließen sich diverse Headlines formulieren wie »Sein, Nichtsein und Schrödingers Katze: Paradoxe Erzählwelten der Jahrhundertwende« oder »Zwischen Sein und Superposition: Schrödingers Katze und Literatur« oder »Widerspruch und Dasein: Schrödingers Katze als literarisches Motiv in Figurendialogen«.

Pi mal Daumen von Alina Bronsky ist Lieblingsbuch der Unabhängigen 2024.

Aber ich kann Oscars Bemängelungen nachvollziehen. Doch teilweise ist es vielleicht schwierig, seine Gedanken gegenüber seinen Mitmenschen nachzuvollziehen, weil er sich meist als intelligenter und besser betrachtet, was auch in diversen Vergleichen sichtbar wird und arrogant wirkt. Allerdings wird dies meines Erachtens nach letztlich entschärft, weil er auf seine Art ziemlich einsam ist. In der Sendung SRF Literaturclub vom 12.11.2024 wurde darüber diskutiert, dass die Figuren überzeichnet seien. Hm. Um auf etwas hinzuweisen, muss man es sichtbar machen. Überzeichnung ist Sichtbarmachung. Komik funktioniert mit sichtbargemachten Überzeichnungen. Keiner lacht über spröde Dinge. Inwiefern das Buch dann zur Infantilisierung der deutschen Leserschaft beiträgt, kann ich nicht beurteilen. Ich versuche mich vorurteilsfrei an jedes Buch zu wagen, obwohl ich auch schon an meine Grenzen gestoßen bin – das sind dann die Bücher, die ich nicht weiterlesen kann, weil mir das Lesen aufgrund der Satzstruktur einfach nur wehtut oder aber die Story öde ist. Das ist aber mit meiner momentanen Lektüre von W.G. Sebald nicht der Fall.

Pi mal Daumen von Alina Bronsky ist lesenswert, weil …

👉 der dargebotene Querschnitt durch das deutsche Bildungssystem blinde Flecken der institutionellen Didaktik aus der Perspektive Oscars aufzeigt, die durchaus wahr und lesenswert sind.
👉 das Buch auch ein Mutmacher ist für all diejenigen, die vielleicht in ihrem Leben ebenfalls nicht die richtige Unterstützung erhalten haben und daher ihre Träume erst in einer späteren Lebensphase erfüllen können.
👉 die Figuren authentisch und lebensnah gezeichnet sind und man lernt, dass der erste Eindruck eben täuschen kann und man sich immer selbst ein Bild von einem Menschen machen sollte.
👉 die Stichproben in Fachbereiche deutscher Universitäten aus Oscars Augen unterhaltsame und witzige Anekdoten darstellen, die zum Lachen anregen und sich teilweise auch auf den Alltag übertragen lassen.
👉 wichtige Themen angeschnitten werden, wie zum Beispiel die Finanzierung des Studiums neben Kindererziehung und Arbeit und inwiefern welche Bevölkerungsgruppen für welche Form von Bildung prädestiniert sind.

Die Sache mit der anderen Wahrnehmung in Pi mal Daumen

Wenn ich Oscars Wahrnehmung gleich als anders bezeichne, dann meine ich das nicht abwertend. Aber als ich das Buch in meiner Weihnachtssitzung für Leseimpulse vorschlug, da fragte jemand, was denn anders sei. Das stimmt schon. Wenn ich von einer anderen Art der Wahrnehmung rede, dann meine ich eine erweiterte Sichtweise in Bezug auf einige Aspekte bzw. eine begrenzte Sichtweise in Bezug auf bestimmte Aspekte, die mit der Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt zu tun haben. Oscar ist auch Synästhetiker, für ihn sind Zahlen farbig. Oscar jedenfalls liebt schöne Dinge, er braucht Kommunikation auf Augenhöhe, er erträgt es nicht, wenn Autoritätspersonen ihre Macht missbrauchen, für ihn muss alles seine Richtigkeit haben, er verabscheut kindische Abkürzungen, meidet Gruppenchats aus Seminaren, bleibt lieber für sich. Dabei wird aber auch deutlich, dass er im sozialen Kontakt mit anderen Problemen hat und man erfährt, dass seine Eltern ehemalige Schulfreunde bezahlt haben oder er auch Vorurteile gegenüber Moni hat, weil sie nicht in sein Schema eines Menschen passt, der Mathematik studiert. In der folgenden Szene soll ein Einblick in diese andere Art des Denkens gewonnen werden. Oscar passt auf den kleinen Quentin auf, einen der drei Enkel von Moni, und spricht ihn auf seine Mathematikhausaufgaben an.

Eine Szene zum Einstimmen aus Pi mal Daumen von Alina Bronsky

Er zog ein abgegriffenes Blatt aus seinem Rucksack und brachte es mir auf die Couch. Es handelte sich um einen Mathetest. Das Kind war offenbar bereits in der dritten Klasse. Unter den Aufgaben waren sparsame Zahlen aufgeschrieben worden, dazu ziemlich viele Anmerkungen mit Rotstift. Darunter stand eine Fünf plus, die lächerlichste aller Noten.
»Ich soll die Berichtigung machen.« Er zog laut die Nase hoch, und ich wandte mich angeekelt ab. »Aber ich weiß nicht, was ich berichtigen soll.«
Ich las mir das Gekritzel durch. Es waren einige Rechen- und ein paar Sachaufgaben.
»Ist doch alles richtig«, sagte ich.
»Frau Perelmann hat Punkte abgezogen, weil der Lösungsweg fehlt.«
Das kam mir bekannt vor. »Warum hast du ihn nicht aufgeschrieben?«
»Hab im Kopf gerechnet. Frau Perelmann hat gesagt, ich hab abgeschrieben.«
»Welche Noten haben denn deine Banknachbarn?«
Schulterzucken. »Weiß nicht.«
Ich drehte das Blatt um. »Sie hat ihre eigenen Punkte falsch zusammengezählt. Du müsstest selbst mit diesen horrenden Abzügen eine Drei plus kriegen.«
»Egal.« Quentin pulte wieder an der Orchidee auf der Fensterbank rum.
»Aber das ist nicht korrekt. Wenn sie nicht mal zweistellige ganze Zahlen addieren kann und dir daraufhin eine schlechte Note gibt, ist das absurd. Am Ende kommst du wegen ihrer Rechenschwäche nicht aufs Gymnasium.«
»Komm ich auch nicht«, sagte Quentin. »Ich bin bescheuert. Sie weiß es.«
Ich hatte kein Problem damit, dass andere Menschen dumm waren. Die meisten konnten weder rechnen noch klar argumentieren, es war eine Tatsache, mit der ich schon lange lebte. Ich hatte nur Probleme damit, wenn dumme Menschen so taten, als dürften sie über klügere Menschen bestimmen.
»Ich schick dich nach Hause, Kleiner, wenn du mich weiter damit nervst.« Moni war irgendwann nach Hause zurückgekehrt, und Quentin war da bereits von seinen Eltern abgeholt worden. Ich dagegen hatte immer noch die Fünf von seinem Mathetest vor Augen. Das Schlimme war, dass Moni meine Empörung einfach nicht teilen wollte.
Sie räumte die Küche auf, während ich wiederholt darstellte, was ich von Quentins Lehrerin hielt. Dann wurde Moni endlich böse – allerdings nicht auf Frau Perelmann, sondern auch mich. »Ich kann es nicht noch einmal hören Kleiner.« Sie wrang einen Putzlappen so heftig, aus, dass es in alle Richtungen spritzte. »Ja, die Frau kann nicht rechnen. Aber man darf sie nicht darauf hinweisen. Ich habe sie einmal beim Elterngespräch gefragt, ob sie mit Absicht einen Fehler in der Neunerreihe an der Tafel eingebaut hat. Seitdem hasst sie uns alle.«
»Das verstehe ich.« Ich hielt mein Handy mit dem abfotografierten Text hoch. »Sie muss Quentin trotzdem korrekt bewerten.«
»So funktioniert die Welt nicht, Kleiner. Für Frau Perelmann sind wir Proleten.«
»Ihr seid Proleten.«, sagte ich. »Aber Quentin hat die richtigen Ergebnisse. Meine Mutter hätte diese Lehrerin zerfetzt.«
Alina Bronsky: Pi mal Daumen. Köln 2024, S. 109-110.

Zusammenfassung der Handlung von Pi mal Daumen

Der 16-jährige Oscar ist hochbegabt und studiert an der Universität Mathematik. Neben seiner Intelligenz ist er – wie man sagen könnte – gesellschaftlich privilegiert, kommt aus gutem Hause, hat einen Adelstitel, die Familienmitglieder besetzen angesehene Positionen in der Gesellschaft. Oscar besitzt aufgrund seiner Hochbegabung eine andere Wahrnehmung als viele andere Menschen

Oscar hat jedenfalls eine vielversprechende Laufbahn vor sich, denn seine Eltern haben für ihn den für außerhalb der Norm denkende Menschen durch das Schulsystem geebnet. Er hat bereits seine Karriere in der Wissenschaft vorgeplant. Moni Kosinsky ist Mitte 50 und will sich ihren Traum vom Mathematikstudium heimlich erfüllen. Sie schminkt sich intensiv, trägt hohe Absätze und Leopardenmusterkleidung, nimmt ihre Enkel als Aufsicht in die Vorlesung mit und hat einige Nebenjobs. Die Unterschiede zwischen beiden Hauptfiguren könnten größer nicht sein. Und doch gibt es einen gemeinsamen Nenner, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt.

Und was ist mit Moni Kosinsky?

Moni wird aufgrund ihrer äußeren Erscheinungen in den Vorlesungen sogar für eine Putzfrau gehalten. Sie traut sich selber nichts zu, auch weil sie nur nebenbei Lernen kann, immerhin arbeitet sie in verschiedenen Jobs und passt ständig auf ihren Enkel auf, weil ihre Tochter es alleine nicht schafft. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Oscar erzählt, der irgendwann auch auf Ungereimtheiten stößt, weil Moni zum Beispiel den renommierten neuen Mathematikprofessor kennt und bei Tests teilweise sogar besser abschneidet als er selbst. Uns als Leserinnen und Lesern fallen diese Ungereimtheiten natürlich auch auf – warum sollte jemand in Monis Alter unbedingt noch das Mathematikstudium nachholen wollen? Oscar beginnt Nachforschungen und stößt auf interessante Informationen. Und da ist man dann auch wieder bei der generationalen Thematik, Familiengeheimnissen und nicht ausgelebten Begehren.

Informationen zur Autorin Alina Bronsky

Alina Bronsky ist eine deutsche Schriftstellerin, die vor allem für ihre Romane bekannt ist, in denen sie oft humorvoll und scharf gesellschaftliche Themen beleuchtet. Sie wurde 1978 in Jekaterinburg (Russland) geboren und zog im Jugendalter nach Deutschland. Zu ihren bekanntesten Werken gehören Scherbenpark, das Buch wurde mittlerweile auch verfilmt, sowie Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, das 2011 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Weitere bekannte Titel sind Baba Dunjas letzte Liebe, eine Geschichte über das Leben in der Nähe von Tschernobyl (das ist tatsächlich auch ein Thema, das in Lichtungen von Iris Wolff kurz thematisiert wird) und Der Zopf meiner Großmutter, das mit humorvoller Leichtigkeit Familienkonflikte beschreibt. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und genießen internationale Aufmerksamkeit, auch als Schullektüre oder Hörbücher​. Pi mal Daumen steht momentan immer noch auf der Spiegel-Bestsellerliste und ist Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen 2024.

Mathematik – eine Definition der anderen Art

Die Mathematik ist die universelle Sprache der Logik. Ihre Quintessenz liegt in ihrer universellen Fähigkeit zur Mustererkennung, Abstraktion von Problemen und dem Finden von Lösungen durch logische Strukturen. Am Ende ist Mathematik eine Sprache zur Beschreibung und Erklärung der Welt.

Sie ist ein kreatives Werkzeug und dient, um:

  1. Zusammenhänge zu erkennen: Mathematik hilft, Verbindungen zwischen scheinbar unterschiedlichen Konzepten herzustellen, sei es in der Natur, Technik oder den Sozialwissenschaften.
  2. Abstraktion zu ermöglichen: Sie vereinfacht komplexe Probleme durch Modelle und Symbole, die allgemeine Prinzipien repräsentieren.
  3. Vorhersagen zu machen: Mathematik ermöglicht Prognosen, z. B. in der Wissenschaft, Wirtschaft oder Soziologie
  4. Kreativität und Präzision zu vereinen: Sie bietet sowohl Spielraum für kreative Problemlösungen als auch strenge Regeln zur Sicherung der Richtigkeit.

Eine Textpassage aus Pi mal Daumen zum Gedankenexperimentieren

Ich bin keine Mathematikerin oder Physikerin, aber hier und da habe ich dann doch etwas aufgeschnappt. Von daher möchte ich noch eine Passage aus Pi mal Daumen mit dem Gedankenexperiment Schrödingers Katze in Beziehung setzen. Zuerst der Text, dann die Theorie, dann die These.

»Macht Moni jetzt eigentlich einen zweiten Versuch, das Studium abzuschließen?«, fragte Mister Brown.
Ich kniff die Augen zusammen. »Sagen Sie es mir.«
»Woher soll ich das wissen, Kleiner?«
[…]
»Entweder sie macht es, oder sie macht es nicht,« sagte ich.
Alina Bronsky: Pi mal Daumen. Köln 2024, S. 270.

Was ist Schrödingers Katze – eine deutlich einfache Erklärung

Schrödingers Katze ist ein Gedankenexperiment von Erwin Schrödinger, das dieser 1935 entwickelte, und bei dem eine paradoxe Überlagerung von Zustanden beschrieben wird: Die Katze im Experiment ist gleichzeitig lebendig und tot, bis eine Messung sie in einen eindeutigen Zustand zwingt. Die Idee ist ein Kernprinzip der Quantenmechanik, die beschreibt, dass Teilchen (oder Systeme) in einer Superposition existieren können – also gleichzeitig in mehreren Zuständen, die sich widersprechen, bis eine Beobachtung stattfindet. Ich persönlich denke ja, man könnte auch sagen, bis man seine Aufmerksamkeit auf einen der beiden Zustände richtet. Da wäre man dann auch beim Doppelspaltexperiment. Einfach ausgedrückt ist meine These entsprechend: Wenn Mister Brown fragt, ob Moni ihr Studium abschließt und Oscar dann antwortet, vielleicht ja, vielleicht nein, dann ist in Oscars Antwort Schrödingers Katze impliziert, weil es um zwei noch nicht eingetretene Zustände geht. Es sind also zwei theoretische Überlegungen, die vielleicht »sind« oder »nicht sind«, die vielleicht »sein werden« oder »nicht«. Das ist quasi die Essenz der Quantenüberlagerung. Gezeigt wird mit dem Gedankenexperiment auch, wie unsere Wahrnehmung und Beobachtung der Realität oft eine definitive Klarheit erzwingt, die im eigentlichen Zustand der Dinge vielleicht gar nicht existiert. Da wäre man dann in einem erweiterten Modus noch bei der Macht der Imagination.

Um noch ein banales Beispiel zu nennen: Denke ich, dass die von mir geliebte Person mich wieder liebt, wird es so sein. Denke ich, dass die von mir geliebte Person mich nicht mag, wird dies so sein. Im Ausgangszustand weiß ich es nicht – das ist die Katze in den Zuständen tot oder lebendig. Aber ich kann den Endzustand mit meiner Aufmerksamkeit lenken.

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