19. Dezember – Literarischer Adventskalender 2024
Heute steht die Novelle Brigitta von Adalbert Stifter für einen Einblick bereit. Adalbert Stifters Brigitta steht online auch auf Projekt Gutenberg zur Verfügung. Die Novelle stellte der österreichische Dichter bereits 1840 fertig, überarbeitete sie intensiv, woraufhin sie dann 1844 veröffentlicht wurde. Eigentlich sollte an dieser Stelle ein anderes Buch auftauchen, doch dann kam die zufällige Eingebung wie so oft dazwischen.
Wieso es heute unbedingt Stifters Brigitta sein musste
Ich besitze ein Konvolut an alten Reclambändchen, zu denen Brigitta gehört. Sie fiel mir in die Hände und ich war noch unwillig, mich mit dem Mehr an Aufwand auseinanderzusetzen, wo ich doch schon alle Türchen vorbereitet hatte! Also bat ich um eine weitere Eingebung – soll ich mich da jetzt auch noch dransetzen? Mein Blick fiel auf ein Zitatbändchen im Regal mit dem Titel Gute-Nacht-Gedanken großer Dichter, das ich irgendwann einmal von einem kostenlosen Grabbeltisch mit nach Hause genommen und seitdem keines Blickes mehr gewürdigt hatte. Ich schlug es auf: Goethe, Rilke, Schiller, Busch – was man so kennt. Ein Blick ins Namensverzeichnis gab mir Klarheit: Adalbert Stifters Brigitta wurde zitiert in der Kategorie »Nichts Menschliches ist mir fremd«. Klar, es hätte ja nicht eines seiner vielen anderen Werke sein können, musste es jetzt ausgerechnet Brigitta sein! Ganz davon abgesehen, dass ich nun grummselig geschlagen das Mehr an Arbeit auf mich nahm (weil es eindeutiger nicht ging), irritierte mich aber die Art der Darstellung im Gedichtband.
Innere Schönheit
In dem Angesichte eines Häßlichen
ist für uns oft eine innere Schönheit,
die wir nicht auf der Stelle
von seinem Werte herzuleiten vermögen,
während uns oft die Züge
eines andern kalt und leer sind,
von denen alle sagen, daß sie die
größte Schönheit besitzen.
Adalbert Stifter (1805-1868)
Wer nun die Novelle nicht kennt, der wird verleitet, ein reimloses Gedicht über den Vergleich zwischen innerer und äußerer Schönheit zu vermuten, vielleicht sogar ein Zitat des Dichters aus dem Vorwort oder Nachwort zu einem Roman, mit dem er Stellung bezieht zum Inhalt oder den Figuren. Tatsächlich gehört der Auszug in die einleitenden Worte der Novelle, die auf den Inhalt zuarbeiten, die Leserschaft auf das sie erwartende Thema vorbereiten und Spannung für die literarische Inszenierung des mit diesen Worten Angekündigten schüren.
Der Abschnitt aus Stifters Brigitta liest sich als Fließtext ganz anders:
In dem Angesichte eines Häßlichen ist für uns oft eine innere Schönheit, die wir nicht auf der Stelle von seinem Werte herzuleiten vermögen, während uns oft die Züge eines andern kalt und leer sind, von denen alle sagen, daß sie die größte Schönheit besitzen.
Aus: Adalbert Stifter: Brigitta. Mit einem Nachwort. Stuttgart 1962 (Universal-Bibliothek Nr. 3911), S. 3.
Fatal – finde ich – ist solch ein Herausreißen aus dem literarischen Kontext durch Umformung und Versetzung in ein völlig anderes Themenfeld, hier die Gute-Nacht-Gedanken großer Dichter. Ich bezweifle, dass Adalbert Stifter beim Verfassen seiner Brigitta entsprechende Inhalte als Gute-Nacht-Gedanken gesehen hat. Und was dann der Auszug im Abschnitt mit dem Titel »Nichts Menschliches ist mir fremd« zu suchen hat, wo er doch (im Angesicht der Auseinandersetzung mit der Novelle) viel eher unter »Sieh, das Gute liegt so nah« hingemusst hätte, kann ich mir auch nicht erklären. Vielleicht lässt es sich aber mit der allzu menschlichen Handlung vorzeitiger Schlussfolgerungen aufgrund von Äußerlichkeiten in Einklang bringen. DAS jedenfalls habe ich selbst am eigenen Leib oft genug erfahren dürfen. Und der Versatz zeigt zudem wieder einmal, dass alles, ja wirklich alles aus seinem ursprünglichen Kontext herausgerissen und zweckentfremdet werden kann. Nicht unerwähnt lassen muss ich allerdings: Ich habe das auch schon gemacht, mindestens in meinem Beitrag zu Thomas Manns Mario und der Zauberer, wo ich ein Zitat von Nietzsche über Kunst und Wahrheit einfach mal für meine Argumentation nutze.
Die Erweiterung der Textpassage zur inneren Schönheit aus Brigitta
Auf die aus dem Fließtext der Novelle gerissenen Gute-Nacht-Gedanken folgt allerdings noch das Gegenstück, die ich nicht missen möchte, hier als eine Art Richtigstellung hinzuzufügen:
Ebenso fühlen wir uns manchmal zu einem hingezogen, den wir eigentlich gar nicht kennen, es gefallen uns seine Bewegungen, es gefällt uns seine Art, wir trauern, wenn er uns verlassen hat, und haben eine gewissen Sehnsucht, ja eine Liebe zu ihm, wenn wir oft noch in späteren Jahren seiner gedenken: während wir mit einem anderen, dessen Wert in vielen taten vor uns liegt, nicht ins reine kommen können, wenn wir auch jahrelang mit ihm umgegangen sind. Daß zuletzt sittliche Gründe vorhanden sind, die das Herz herausfühlt, ist kein Zweifel, allein wir können sie nicht immer mit der Waage des Bewußtseins und der Rechnung hervorheben und anschauen.
Aus: Adalbert Stifter: Brigitta. Mit einem Nachwort. Stuttgart 1962 (Universal-Bibliothek Nr. 3911), S. 3.
Brigitta von Adalbert Stifter ist lesenswert, weil …
👉 die Novelle mit präziser Sprache die Darstellung der Figur in Einklang bringt mit der Konzeption der Figuren.
👉 in ihr die ästhetische Verbindung zwischen Landschaft und Seelenzustand der Liebenden meisterhaft inszeniert ist.
👉 sie zeitlose Themen wie die Frage nach wahrer Schönheit eindrucksvoll an der Lebens- und Liebesgeschichte zweier Figuren präsentiert.
👉 sie mit ihrer poetischen Schlichtheit eine tiefgreifende Reflexion über Schein und Sein, über das, was wirklich zählt in einer Beziehung und im Leben möglich macht.
👉 die Lektüre auch eine individuelle Interpretation bezüglich der Wahrnehmung von Schönheit zulässt, was eine Reflexion bei der Leserschaft auslösen kann.
Eine Zusammenfassung der Handlung von Brigitta
Bei Adalbert Stifters Brigitta handelt es sich um eine Novelle, die sich mit Themen wie innerer Schönheit, menschlicher Reife und der heilenden Kraft der Natur auseinandersetzt. Der Erzähler besucht seinen Freund, den Major, der als angesehener Verwalter eines großen Landguts in einer abgelegenen Gegend Ungarns lebt. Der Major widmet sich mit großer Hingabe der Landwirtschaft, zu denen beispielsweise Viehzucht, Obstanbau oder die Teilnahme an Versammlungen mit anderen Gutsbesitzern der Umgebung zählen. Gemeinsam mit dem Erzähler erfahren wir mehr über die Beziehung des Majors zu der auf dem Nachbargut wohnenden Brigitta, die als häßlich beschrieben wird. In einem Rückblick wird das ganze Ausmaß ihrer Leidensgeschichte offenbar, wenn man erfährt, dass sie aufgrund ihres Äußeren sogar von ihrer Mutter geschmäht und nicht als würdig genug erachtet wurde, in die Gepflogenheiten der Gesellschaft eingeführt zu werden. Sie lernt bei einer Abendgesellschaft einen schönen Jüngling kennen, Stephan Murai, der von entzückenden Frauen umschwärmt wird, allerdings nur Augen für die auf den ersten Blick hinsichtlich ihres Äußeren unpassend erscheinenden Brigitta hat. Es folgt eine Hochzeit und die Geburt des gemeinsamen Sohnes, doch erliegt Stephan den Verlockungen einer anderen Schönheit, woraufhin Brigitta die Scheidung verlangt und Stephan das Land verlässt. Der Erzähler stellt immer wieder fest, dass der Major für Brigitta große Zuneigung hegen muss, wobei dies auch anderen Bediensteten aufgefallen ist, man jedoch vermutet, dass Brigitta aufgrund ihrer nicht vollzogenen Scheidung wegen des verschwundenen Ehemannes Stephan nicht wieder heiraten könne. Die Ereignisse überschlagen sich, als eine der Figuren in Lebensgefahr gerät.
Die anonyme Interpretation aus meiner Reclamausgabe
Ich finde es sehr spannend, die Kommentare und Anmerkungen in gebrauchten Büchern zu lesen. Eine ausführliche Analyse zu diesem Thema habe ich bereits an einer Widmung und Textmarkierungen in Nabokovs Lolita vorgenommen. Und auch in meinem Exemplar von Stifters Brigitta findet sich direkt hinter dem Umschlag eine anonyme Stellungnahme zur Symbolik, die ich hier ebenfalls aufführen möchte.
„Natur ist nicht nur Spiegel der Seele, sondern sie prägt den Menschen. Brigitta prägt die Natur, die Natur prägt Stephan Murai und dadurch kommen beide zueinander. Schönheit der Seele, des Herzens prägt die Natur. Schönheit (s. Wilhelm Meister) liegt bei Brigitta auch im Herzen.“
Bevor ich jetzt auch noch mein Exemplar von Goethes Wilhelm Meister rauskrame oder bei Platon oder Kant »Schönheit« nachschlage, hebe ich mir diese Impulse für später auf. Aber eines muss ich auf jeden Fall noch loswerden. Und zwar wende ich mich der Interpretation von Rosemarie Hunter-Lougheed zu, die schreibt: „Der Erkenntnisprozeß des Erzählers, der ihm die volle Einsicht in das wahre Wesen des Freundes erst viel später, nach seiner Parzival-Frage, gewährt, schreitet stetig fort.“[1] Parzival ist ein grandioser mittelalterlicher höfischer Versroman von Wolfram von Eschenbach, in dem der tumbe Parzival vom Narren zum Gralskönig avanciert. Er stellt dem König der Fischer, seinem Onkel Anfortas, der unter einer schwelenden Wunde leidend langsam dahinsiecht, die Frage ›œheim, waz wirret dir?‹ (Parzival Buch 16, 795.29; Oheim, was quält dich?). Genaugenommen ist das Thema um titelgebende Fragen wie Parzival-Frage oder Gretchen-Frage auch einen eigenen Beitrag wert. Doch für hier zeige ich einfach den Bezug des Begriffs Parzival-Frage zu Stifters Brigitta. Er passt zu einer Szene, in welcher der Erzähler sich mit einer Frage an den Major wendet:
Aber auch auf der Stelle, wo der Major gestanden war, hatte ich ein leichtes Geräusch vernommen, und wie ich hinblickte, sah ich, daß er sich halb umgewendet hatte und an seinen Wimpern zwei harte Tropfen hingen. Ich ging gegen ihn und fragte ihn, was ihm sei.
Adalbert Stifter: Brigitta. Mit einem Nachwort. Stuttgart 1962 (Universal-Bibliothek Nr.3911), S. 67.
Informationen zum Dichter Adalbert Stifter
Adalbert Stifter (1805–1868) wirkte in der Epoche des Biedermeier und war ein bedeutender österreichischer Schriftsteller, Maler und Pädagoge. Seine Werke zeichnen sich durch eine detailreiche Sprache sowie Darstellung von Landschaften und Verbundenheit zur Natur aus. Stifter thematisierte in seinen Erzählungen oft moralische Fragen, die Suche nach Harmonie und die innere Stärke des Menschen. Geboren in Oberplan (heute Tschechien), studierte Stifter in Wien und widmete sich zunächst der Malerei, bevor er sich der Literatur zuwandte. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Der Nachsommer, Witiko und Bunte Steine. Trotz seines literarischen Erfolgs führte Stifter ein von persönlichen Tragödien und gesundheitlichen Problemen geprägtes Leben. Sein Werk wird bis heute für die präzise und klaren Darstellungsweise, die ihn als scharfen Beobachter gesellschaftlicher Verhältnisse und der menschlichen Psychologie und Verhaltensweisen kennzeichnet. Er wird neben der naturgetreuen Darstellung von Landschaften auch für die komplexe Ergründung menschlicher Emotionen geschätzt.
Ein Vorgeschmack auf den Inhalt von Adalbert Stifters Novelle Brigitta – der Major
Ich werde die Zitate teilen, und zwar Einblicke über die Figur des Majors und Brigitta und Stephan hier bereitstellen und zwar in ebendieser genannten Reihenfolge.
In Unteritalien, beinahe in einer ebenso feierlichen Öde, wie die war, durch die ich heute wandelte, hatte ich ihn zum erstenmal gesehen. Er war damals in allen Gesellschaften gefeiert, und obwohl schon fast fünfzig Jahre alt, doch noch das Ziel von manchen schönen Augen; denn nie hat man einen Mann gesehen, dessen Bau und Antlitz schöner genannt werden konnte, noch einen, der dieses Äußere edler zu tragen verstand. Ich möchte sagen, es war eine sanfte Hoheit, die um alle seine Bewegungen floß, so einfach und so siegend, daß er mehr als einmal auch Männer betörte. Auf Frauenherzen aber, ging die Sage, soll er einst wahrhaft sinnverwirrend gewirkt haben. Man trug sich mit Geschichten von Siegen und Eroberungen, die er gemacht haben soll und die wunderbar genug waren. Aber ein Fehler, sagte man, hänge ihm an, der ihn erst recht gefährlich mache, nämlich, es sei noch niemand, selbst der größten Schönheit, die diese Erde trage, gelungen, ihn länger zu fesseln, als es ihm eben beliebte. Mit aller Lieblichkeit, die ihm jedes Herz gewann und das der Erkorenen mit siegreicher Wonne füllte, benahm er sich bis zu Ende, dann nahm er Abschied, machte eine Reise und kam nicht wieder. — Aber dieser Fehler, statt sie abzuschrecken, gewann ihm die Weiber nur noch mehr, und manche rasche Südländerin mochte glühen, ihr Herz und ihr Glück, sobald als nur immer möglich, an seine Brust zu werfen: Auch reizte es sehr, daß man nicht wußte, woher er sei und welche Stellung er unter den Menschen einnehme. Obwohl sie sagten, daß die Grazien um seinen Mund spielen, setzten sie doch hinzu, daß auf seiner Stirne eine Art Trauer wohne, die der Zeiger einer bedeutenden Vergangenheit sei — aber das war am Ende das Lockendste, daß niemand diese Vergangenheit wußte. Er soll in Staatsbegebenheiten verwickelt gewesen sein, er soll sich unglücklich vermählt, er soll seinen Bruder erschossen haben — und was dieser Dinge mehr waren.
Aus: Adalbert Stifter: Brigitta. Mit einem Nachwort. Stuttgart 1962 (Universal-Bibliothek Nr.3911), S. 5-6.
Ein Vorgeschmack auf den Inhalt von Adalbert Stifters Novelle Brigitta – Brigitta
Es liegt im menschlichen Geschlechte das wundervolle Ding der Schönheit. Wir alle sind gezogen von der Süßigkeit der Erscheinung und können nicht immer sagen, wo das Holde liegt. Es ist im Weltall, es ist in einem Auge, dann ist es wieder nicht in Zügen, die nach jeder Regel der Verständigen gebildet sind. — Oft wird die Schönheit nicht gesehen, weil sie in der Wüste ist oder weil das rechte Auge nicht gekommen ist — oft wird sie angebetet und vergöttert und ist nicht da: aber fehlen darf sie nirgends, wo ein Herz in Inbrunst und Entzücken schlägt oder wo zweit Seelen aneinander glühen; denn sonst steht das Herz stille, und die Liebe der Seelen ist tot. Aus welchem Boden aber diese Blume bricht, ist in tausend Fällen tausendmal anders; wenn sie aber da ist, darf man ihr jede Stelle des Reimes nehmen, und sie bricht doch an einer andern hervor, wo man es gar nicht geahnt hatte. Es ist nur dem Menschen eigen und adelt nur den Menschen, daß er vor ihr kniet — und alles, was sich in dem Leben lohnt und preist, gibt sie allein in das zitternde beseligte Herz. Es ist traurig für einen, der sie nicht hat oder nicht kennt oder an dem sie kein fremdes Auge finden kann. Selbst das Herz der Mutter wendet sich von dem Kinde ab, wenn sie nicht mehr, ob auch nur einen einzigen Schimmer dieses Strahles an ihm zu entdecken vermag. So war es mit dem Kinde Brigitta geschehen. Als es geboren ward, zeigte es sich nicht als der schöne Engel, als der das Kind gewöhnlich der Mutter erscheint. Später lag es in dem schönen goldenen Prunkbettchen und in den schneeweißen Linnen mit einem nicht angenehm verdüsterten Gesichtchen, gleichsam als hätte es ein Dämon angehaucht. Die Mutter wandte, von sich selber unbemerkt, das Auge ab und heftete es auf zwei kleine schöne Engel, die auf dem reichen Teppiche des Bodens spielten.
Aus: Adalbert Stifter: Brigitta. Mit einem Nachwort. Stuttgart 1962 (Universal-Bibliothek Nr. 3911), S. 39-40
Ein Vorgeschmack auf den Inhalt von Adalbert Stifters Novelle Brigitta – Stephan Murai und Brigitta
Als sich nach einiger Zeit wieder einmal eine Gelegenheit ergab, mit ihr [Brigitta] allein zu sprechen, deren manche früher schon ungenützt vorüber gegangen waren, nahm er [Stephan Murai] sich den Muth, er redete sie an und sagte, daß ihm erscheine, daß sie ihm abgeneigt sei – und wenn dies so wäre, so habe er die einzige Bitte, sie möchte ihn doch kennen lernen, vielleicht sei er doch ihrer Aufmerksamkeit nicht ganz unwert, vielleicht habe er Eigenschaften, oder könne sich dieselben erwerben, die ihm ihre Hochachtung gewännen, wenn auch nichts, das er noch heiliger wünschte.
„Nicht abgeneigt, Murai“, antwortete sie, „o nein, nicht abgeneigt; aber ich habe auch eine Bitte an Sie: tun Sie es nicht, tun Sie es nicht, werben Sie nicht um mich, Sie würden es bereuen.“
„Warum denn, Brigitta, warum denn?“
„Weil ich,“ antwortete sie leise, „keine andere Liebe fordern kann, als die allerhöchste. Ich weiß, daß ich häßlich bin, darum würde ich eine höhere Liebe fordern, als das schönste Mädchen dieser Erde. Ich weiß es nicht, wie hoch, aber mir ist, als sollte sie ohne Maß und Ende sein. Sehen Sie – da nun dies unmöglich ist, so werben Sie nicht um mich. Sie sind der einzige, der danach fragte, ob ich auch ein Herz habe, gegen Sie kann ich nicht falsch sein.“
Sie hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht Leute herzugekommen wären; aber ihre Lippe bebte vor Schmerz.
Daß Murais Herz durch diese Worte nicht beschwichtigt, sondern nur noch mehr entflammt wurde, begreift sich. Wie einen Engel des Lichtes verehrte er sie, er blieb zurückgezogen, sein Auge ging an den größten Schönheiten, die ihn umringten, vorüber, das ihre mit sanfter Bitte zu suchen. So war es unabänderlich fort. Auch an ihr begann nun die dunkle Macht und die Größe des Gefühls in der verarmten Seele zu zittern. An beiden erschien es offen. Die Umgebungen begannen das Unglaubliche zu ahnen, und man erstaunte unverhohlen. Murai legte seine Seele entschieden vor dem Angesichte aller Welt dar. Eines Tages, in einem einsamen Zimmer, da die Musik, zu deren Anhörung man zusammengekommen war, von ferne her erscholl, da er vor ihr stand und nichts redete, da er ihre Hand faßte, sie sanft gegen sich ziehend, widerstand sie nicht, und da er sein Angesicht immer mehr gegen sie neigte, und sie seine Lippen plötzlich auf den ihrigen empfand, drückte sie süß entgegen. Sie hatte noch nie einen Kuß gefühlt, da sie selbst von ihrer Mutter und ihren Schwestern nie geküßt worden war – und Murai hat nach vielen Jahren einmal gesagt, daß er nie mehr eine solche reine Freude erlebt habe, als damals, da er zum ersten Male diese vereinsamten unberührten Lippen auf seinem Munde empfand.
Der Vorhang zwischen den beiden war nun zerrissen, und das Schicksal ging seine Wege.
Aus: Adalbert Stifter: Brigitta. Mit einem Nachwort. Stuttgart 1962 (Universal-Bibliothek Nr. 3911), S. 47-49
[1] Rosemarie Hunter-Lougheed: Adalbert Stifter: Brigitta. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Band 2. Stuttgart 1990 (Universal-Bibliothek Nr. 8414[5]), S. 41-97, hier S. 73.
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