Aurora Venturini – Die Cousinen – Kunst, Sprache, Patriarchat und Frauen

Die Cousinen ist ein Roman der argentinischen Schriftstellerin Aurora Venturini, wobei die spanischsprachige Originalausgabe erstmals 2007 und erweitert 2020 unter dem Titel Las Primas bei Tusquets in Buenos Aires veröffentlicht wurde. Johanna Schwering erhielt 2023 den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 in der Kategorie ›Übersetzung‹. Dadurch wurde ich auf das Buch aufmerksam. Jetzt habe ich es auch gelesen. Und sie hat mich in einem seltsamen Zustand zurückgelassen, diese Lektüre. Was war das? Das war etwas ganz anderes, als alles, was ich bisher gelesen hatte. War es eine Art Tagebuch in Form eines verschriftlichten Gedankenstroms vorgetragen durch die Protagonistin Yuna? Allerdings unterteilt in Kapitel mit thematischen Überschriften. Doch dann gibt es direkte Anreden an die Leserinnen und Leser, die die Tagebuchform oder den Gedankenstrom stören. Nun, interessant, jedenfalls. Radikal und bitter, manchmal süß, aufrichtig bis hin zur vollkommenen existenziellen Durchdringung des Seins, nicht nur der sprechenden Figur selbst und aller anderen darin beschriebenen, sondern auch dem gezeigten Gesellschaftsbild; so habe ich den Text erlebt. Ich habe Fragen an den Text. Die kann ich hier kaum alle beantworten, versuche aber dennoch einen kurzen, offenen und thematisch strukturierten Überblick. Doch zunächst etwas zur Einführung.

Zur Autorin Aurora Venturini

Aurora Venturini wurde 1922 in La Plata, Buenos Aires, Argentinien, geboren. Sie absolvierte ein Studium der Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Nationalen Universität von La Plata und war Beraterin am Institut für Kinderpsychologie und -erziehung (Instituto de Psicología y Reeducación del Menor). 1948 überreichte ihr Jorge Luis Borges persönlich den Initiationspreis (Premio Iniciación) für ihr Buch El solitario. Nach der Befreiungsrevolution ging sie für 25 Jahre nach Paris ins Exil und studierte Psychologie an der Universität von Paris. Dort lebte sie in Gesellschaft von Violette Leduc und wurde eine Freundin von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Eugène Ionesco und Juliette Gréco; in Sizilien pflegte sie die Freundschaft mit Salvatore Quasimodo. Verheiratet war sie mit dem Historiker Fermín Chávez und sie arbeitete als Philosophieprofessorin an der Escuela Normal Antonio Mentruyt in Banfield. Aurora Venturini übersetzte und schrieb kritische Essays über Dichter wie Isidore Ducasse, Conde de Lautréamont, François Villon und Arthur Rimbaud; für die Übersetzungen der beiden letztgenannten Autoren erhielt sie das Eiserne Kreuz, das ihr von der französischen Regierung verliehen wurde. 2007 erhielt sie den Preis der argentinischen Tageszeitung Página/12 für neue Romane für Las primas (Die Cousinen). Sie starb am 24. November 2015 in Buenos Aires im Alter von 92 Jahren.

Eine inhaltliche Zusammenfassung von Die Cousinen

Die zwölfjährige Yuna lebt mit ihrer Familie in ärmlichen Verhältnissen im argentinischen La Plata, das tatsächlich auch der Geburtsort der Autorin ist. Ihre um ein Jahr jüngere Schwester Betina ist schwerstbehindert, die Mutter setzt als Lehrerin auf den Rohrstock und ist durch das Leben verhärmt, während der Vater abwesend und bereits vor langer Zeit verschwunden ist. Betina besucht eine Anstalt für besonders schwere Fälle, Yuna die für „weniger Minderbemittelte als die bei Betina.“ (Die Cousinen, S. 13) In einem Zeichenkurs bemerkt ein Professor ihr Talent und beginnt sie zu fördern, er zieht später sogar als Untermieter bei der Familie ein. Dies hat im weiteren Verlauf der Geschichte noch Folgen. Neben ihrer Leidenschaft zum Malen, das auch eine Art Gefühlsregulation darstellt, eine Form der Kommunikation, mit der Yuna ihrer Umwelt und der Realität begegnet, ist sie zeitlebens bestrebt, ihren Wortschatz zu erweitern, um ihrer minderbemittelten Sprachbegrenzung bestmöglich zu entfliehen. Sie nutzt ein Wörterbuch und lernt dazu. Mit ihrem Maltalent kann Yuna sich allmählich aus der Familienkonstellation lösen. Zum degenerierten Familienverband gehören auch Tanten und die von Yuna als schwachsinnig bezeichneten Cousinen Carina und Petra, die kleinwüchsig ist. Zwischen Yuna und Petra entwickelt sich durch bestimmte Ereignisse ein vertrautes Verhältnis, doch nutzt die „Zwergin“, wie Yuna sie nennt, sie aus. Yuna kann sich später als Künstlerin etablieren und arbeitet zuletzt als Dozentin für Kunst, auch wenn sie der ihr diagnostizierten Minderbemittlung nie vollständig zu entkommen scheint.

Zentrale Themen in Die Cousinen

Es gibt herausragende Themen in Die Cousinen neben den brutalen, authentischen und leisen Spektren, die über die Ich-Erzählerin Yuna mitgeteilt werden. Nun ist Die Cousinen ein Roman über Kunst, über das Malen und auch über Sprache und seine starken Ausdrucksmöglichkeiten. Daneben ist es aber auch ein Roman über die Ausbeutung von Frauen in einem von Männern beherrschten System. Darauf verweisen die degenerierten Strukturen des Familiensystems, in dem Frauen nicht füreinander einstehen und liebevolle Beziehungen weniger gepflegt werden wie auch die darüberstehenden gesellschaftlichen Strukturen. Aber vor allem ist es ein Roman über eine Frau, die sich emanzipiert aus all diesen überwältigend gewalttätigen Umständen, die ihr wahres Ich versucht, zu finden, es immer mehr erkennt, es annehmen will, es zeitlebens versucht und es letztlich schafft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Zu löschen.

Die Relevanz sprachlicher Perspektiven in Die Cousinen

Der Roman ist eine Erzählung aus Ich-Perspektive. Wörtliche Rede und ganze Dialoge kommen in direkter Form nicht vor, sondern alles wird aus der ungefilterten Perspektive Yunas wiedergegeben. Unzensiert könnte man sagen, deutlich, ehrlich, brutal, klar, real, wahrscheinlich ist auch die Kategorisierung von passenden Begriffen Sache der Perspektive. Jedenfalls hat dies den Effekt, dass Leserinnen und Leser auch nur diese eine Perspektive erleben. Es gibt Diskrepanzen zwischen innerem Gedankenstrom bzw. dem von Yuna verschriftlichten Beschriebenen und sprachlicher Figurenrede, die aber verborgen bleibt hinter dem, was Yuna ungefiltert wiedergibt.

Punkt, Komma, das Dazwischen

Dass bei den Zitaten Punkt und Komma fehlen, liegt am Stil der Figur, denn Yuna findet Kommas „ermüdend“ (S. 70), Satzzeichen behindern ihr Denken. Sie denkt und redet also ohne Punkt und Komma:

„Ich sagte ja schon, dass ich im Inneren meiner Psyche Details und Formen erkennen konnte, da war ich ganz anders als die Dumme die nach außen hin ohne Punkt und Komma sprach weil sie bei jedem Punkt und Komma den Faden verlor. Manchmal machte ich einen Punkt oder ein Komma zum Atmen aber ich redete lieber ohne Punkt und Komma um verstanden zu werden und vermied Stilletümpel die meine Unfähigkeit zur mündlichen Kommunikation aufdecken würden denn wenn ich mir selbst zuhörte , verwirrten mit die Geräusche in meinem Kopf und das zischende Fließen der Wörter und dann verstummte ich mit offenem Mund und dachte, dass es dicke Wörter gibt und dünne, schwarze Wörter und weiße, beschränkte und besonnene Wörter und dann noch solche die im Wörterbuch schlagen und von niemandem benutz werden. Hier habe ich zum Beispiel Kommas benutzt. Und Punkte.“ (S. 48)

Mariana Enriquez spricht im Nachwort die „radikale Syntax, die Satzzeichen meidet“[1] an. Der Text sei risikobereit und exzentrisch.

Yuna erarbeitet sich Redegewandtheit

Yuna erarbeitet sich mit Hilfe eines Wörterbuchs einen größeren Wortschatz und versucht auch, sich an Satzzeichen und das Setzen von Pausen zu gewöhnen, sich also dem allgemeinen Sprachgebrauch anzupassen. Schließlich wird sie sogar Kunstdozentin und unterrichtet. Doch trotz all dieser Erfolge, der Arbeit, die sie in ihre Weiterbildung und Entwicklung gesteckt hat, ist der Glaube an die eigene geistige Beschränktheit stets präsent. Vielleicht, weil es ihr seit Kindertagen stets gespiegelt wurde, selbst von ihren Familienmitgliedern. „Tante Ingrazia meinte, dass ich auch minderbemittelt war auch wenn ich meine Anomalie hinter Malen und Hübschsein versteckte. Ich glaube da hatte sie recht …“ (S. 33)

Und dies bleibt bis zuletzt erhalten, etwa wenn sie selbst Seminare gibt und eine anerkannte Dozentin ist. Sie hat alles darangesetzt, „einem extravaganten Zirkus zu entkommen, einem undankbaren Siebengestirn, einer Flut sterbensmüder Flüssigkeiten, ja, ich musste über diesen unglaublichen Haufen Exkremente und Missbildungen triumphieren und das würde ich […].“ (S. 163) Und sie erreicht es, sie hat es mit Willenskraft so weit gebracht, auch wenn letzte Unsicherheiten bleiben, etwa wenn sie vor ihren Schülerinnen und Schülern steht: „[…] und doch war es von Anfang an machbarer als gedacht, vor die Klasse zu treten mit natürlicher Autorität und ohne schlimme Ängste, die jederzeit ausbrechen könnten, sodass die Schüler merken würde, dass wer dort versuchte sie zu belehren eine therapierte Minderbemittelte war und sie sich Vorteil von meinem natürlichen Nachteil verschaffen könnten.“ (S. 162)

Kunst als Ausdrucksform der Seele

Dass Kunst eine Flucht vor der Realität sein kann, habe ich bereits in meinem Beitrag zu The Book of Henry angeführt. Auch für Yuna ist Kunst eine Möglichkeit der Realitätsverarbeitung, der Transformierung von Erlebtem in Farben und Formen, das sie mit dem Malen verarbeiten kann und es ist auch eine Form der Kommunikation mit der Außenwelt. Es ist gerade die ambivalente Figur des Professors, der Yunas Talent entdeckt und sie fördert, weil er Vertrauen in ihre Fähigkeiten hat. „[…] und der Professor von der Kunsthochschule meinte ich würde eine wichtige Malerin werden weil ich wegen meiner leichten Verrücktheit zeichnete und malte wie die extravaganten Künstler unserer Zeit.“ (S. 16) Zudem bewertet er die Yuna diagnostizierte Minderbemittelheit anders: „Der Professor sagte ich wäre nicht zurückgeblieben sondern eine introvertierte Künstlerin und dass ich bald in Buenos Aires ausstellen würde und hier in der Stadt schon zwei Bilder verkauft hatte.“ (S. 23) Er verteidigt sie sogar vor anderen Familienmitgliedern.

Die Ambivalenz, die seiner Figur anhaftet, zeigt sich aber schon früh im Roman. „Yuna hat großes Talent sagte der Professor und das gefiel mit so sehr, dass ich immer wenn er es sagte nach dem Kurs länger blieb um ihm auf den Arm zu springen. Er tadelte mich nie. Aber als meine Brüste anfingen zu wachsen sagte er ich soll ihm nicht mehr auf den Arm springen weil der Mann Feuer ist und die Frau Stroh. Das verstand ich nicht. Aber ich hörte auf zu springen.“ (S. 18)

Der Vergleich ist deutlich und ich komme gleich noch auf die patriarchalen Strukturen zu sprechen. Doch zunächst geht es weiter um Kunst, die ja ein Kernthema im Roman und von Yunas Identität darstellt.

Durch Malen die Realität bewältigen

Sporttreiben, Zocken, Schlafen, Alkohol – es gibt unzählige Möglichkeiten, sich nach aufrührenden Ereignissen zu beruhigen, runterzukommen, sich zu entspannen. Yuna malt.

„Ich widme mich wieder meinen Kartons und male mein Gefühle und Gezweifle und einzigartige Formulierungen über das Leben, das Dasein und den Tod und ich komme zu unheilvollen Schlüssen denn wenn auch der Tod von Tante Nené logisch war doch gewiss nicht der von Carinas Baby oder von Carina die nichts Böses getan hat und überhaupt, denkt doch nur all die Heiligenbildchen der Jungfrau Maria die sich in den Kirchen und Häusern tummeln und auf denen die Muttergottes immer so liebevoll ihr Kind wiegt […] Alles was passiert ist, kann man auf meinen Bildern sehen und das ist die Geschichte einer seltsamen Familie und manchmal denke ich, dass alle Familien irgendwie seltsam sind […]. (S. 65-66)

Yunas Cousine Carina wird von dem verheirateten Nachbarn missbraucht und schwanger. Sie muss sich wegen der Familienehre einer unerlaubten Abtreibung unterziehen und stirbt.

Yunas Bilder und zusammenhängende Ereignisse

Auf der Beerdigung von Carina sitzt Yuna in einem überdachten Wagen, der von einem rotbraunen Pferd gezogen wird, das sie als goldfarben wahrnimmt. Wieder zuhause will sie die schlechten Eindrücke loswerden und malt das goldene Tier, das Bild nennt sie Pegasus. (S. 52)

Nach dem Racheakt Petras an ihrem Nachbarn mal Yuna Alibibilder, damit Petra nicht verdächtig werden kann, weil sie Modell gesessen hat. Die Bilder Nackte Zwergin und Bekleidete Zwergin entstehend nur, weil Yuna nicht schlafen kann, weil sie das verstörende Bild von Petra in der Badewanne sieht, die sich Blut aus der Kleidung wäscht. (S. 84-85)

Bei ihrer Arbeit als Prostituierte wird Petra regelmäßig gewürgt oder hart angefasst, sodass sie blaue Flecken am Körper trägt, die Yuna zum Malen des Bildes Die Magdalenen inspiriert, mit dem sie bei den Menschen die gleiche Verzweiflung hervorrufen will wie bei Petra und ihr. (S. 108-109.)

Das ist nur eine Auswahl, aber sie zeigt, dass Yunas Kunst von ihrem Leben durchdrungen ist, mit Ereignissen verbunden und eine Verarbeitung und Aufarbeitung von Eindrücken, für die sie kein anderes Ventil hat.

Ein letztes Beispiel möchte ich ausführlicher darstellen, weil es die Überleitung zum dritten Themenabschnitt darstellt.

Die literarische und malerische Darstellung einer Abtreibung

„Mit achtzehn Jahren wurden mir die Augen von einer Vierzehnjährigen geöffnet. Das machte mich traurig genauso wie das mit der Abtreibung von der ich träumte und malte. Auf einen großen Karton malte ich eine Weltkarte in der eine Kaulquappe versucht sich gegen einen Dreizack zu wehren der sie aufspießen will und die Kaulquappe wirkt plötzlich wie ein menschlicher Samen, ein hässliches Kind das Minute für Minute hübscher wird bis es ein Baby ist und dann sticht der Dreizack ihm in den Bauch und das Baby schwimmt aus der Weltkarte heraus. Dieses Bild das verschiedene Aspekte des Abenteuers jenes kleinen Wesens zeigte, wurde viel besprochen und die Soziologen nutzten die Gelegenheit mir Fragen zu stellen die ich so beantwortete wie es mir am besten schien um sie zu verwirren. Ich glaube, dass ich sie verwirrt habe. Ich habe all die kindischen Schlussfolgerungen gelesen, zu denen sie gelangt sind. Im Geheimen machte ich mich über sie lustig, über ihr ganzes Getue und ihr Mitleid mit mir.
Als ich meinem Werk seinen Titel gab, verstanden sie wohl ihren Deutungsfehler: Abtreibung. So nannte ich es. Für Abtreibung gewann ich einen Preis.“ (S. 33-34)

Ich werde gleich noch die literarische Abtreibungsszene abbilden. Doch zunächst ist diese Stelle sehr interessant und verdient vertiefende Aufmerksamkeit. Tatsächlich lässt sich hier der intermediale Aspekt, die Darstellung des Bilds im literarischen Werk analysieren und in Beziehung setzen zur Symbolik, worauf Interpretationen folgen – wie es die Soziologen tun. Ich mache auf dieser Webseite nichts anderes! Doch viel interessanter ist, dass Yuna hier als Künstlerin selbst Stellung bezieht zu den Schlussfolgerungen der Experten und diese lächerlich findet, wobei diese sie, nachdem was im Text steht, ebenfalls bemitleiden. Es sind zwei Welten, die hier aufeinanderprallen. Ich habe mich oft gefragt, was wohl mittelalterliche Dichter wie Hartmann von Aue zu in der Forschung genutzten Begriffen wie ‘Doppelwegstruktur’ sagen würden oder inwiefern Widersprüche im Text wirklich Widersprüche sein sollen.

Die literarische Darstellung einer Abtreibung in Die Cousinen.

Im Nachwort erwähnt Mariana Enriquez, dass es in der argentinischen Literatur nicht viele Abtreibungen gibt und Die Cousinen mit der Schutzlosigkeit der Darstellung insofern eine Ausnahme darstellt.

„Komm rein sagte die Ärztin und Carina ging zitternd rein, Tante Nené fragte ob sie auch mitdurfte aber die Ärztin sagte Nein und schloss die Tür zwischen uns.
Die Metallstöße der Gerätschaften wurden stumpfer. Carina weinte nicht. Ich begriff, dass außer der Ärztin noch jemand da war. Nach anderthalb Stunden öffnete sich die Tür und die Ärztin sagte wir könnten jetzt rein. Carina lag noch auf einer Liege und schlief wegen der Betäubung. Die Ärztin rief Tante Nené zu sich und ich hörte wie sie sagte das macht vierzig Pesos. Was für ein Wucher… sagte die Tante Nené.
Ich nahm Carinas hässliche Hand. Sie drückte meine und ich freute mich, dass sie nicht tot war.
Als es ihr besser ging wurde ein Taxi gerufen und wir fuhren zurück zu Tante Ingrazia und Carina nach Hause. Tante Nené stieg nicht mit aus und fuhr mit demselben Taxi zu sich nach Hause. Vorher flüsterte sie uns zu, dass wir niemandem etwas erzählten dürfen weil Abtreibungen gesetzlich verboten sind und wenn das rauskommt, stecken sie uns alle ins Gefängnis von Olmos.“ (S. 38-39)

Es geht letztlich leider nicht gut für Carina aus und sie stirbt. Doch aus dieser Szene und Yunas Bild ergeben sich Gemeinsamkeiten mit der Gesamtheit des Romans, der Darstellung der Frauenfiguren und den gesellschaftlichen Strukturen.

Degenerierte Frauen in einem patriarchalen System

Primär ist es auch ein Roman über benachteiligte, misshandelte, verachtete Frauen und ihren Strategien zum Überleben in einer von Männern beherrschten Welt. Mariana Enriquez schreibt dazu in ihrem Nachwort: „Die Cousinen Yuna und Petra verbünden sich und versuchen, die Missbrauchsreihe zu stoppen, die auch sie selbst nicht ausgespart hat, aber nichts ist gut in diesem pessimistischen und brutalen Roman ohne herkömmliche Heldinnen, diesem Roman volle extremer, kranker, besessener und misshandelter Frauen.“[2]

Ausbeutung von Frauen durch ein patriarchalisches System ist an den Figuren evident. Die schwachsinnige und an den Rollstuhl gefesselte Betina wird von Yunas Professor und ihrem späteren Vormund sexuell missbraucht, Carina wird vom Nachbarn vergewaltigt und stirbt nach der daraus resultierenden Abtreibung, die kleinwüchsige Petra arbeitet als Prostituierte. Doch auch untereinander ist Unterstützung rar, scheint wahre Unterstützung unter Frauen nicht möglich, obwohl doch notwendig. Yuna erkennt das schmerzlich.

Die Funktion der nicht normalen Darstellung der Frauenfiguren

Was hat die „fehlerhafte Darstellung“ der Frauenfiguren mit dem übermächtig-männlichen Systemstrukturen zu tun? – Habe ich mich gefragt. Eine Psychologin diagnostiziert an Betina ein „Seelenleiden“ (S. 9). Sie hat eine „Wirbelsäulenverkrümmung, von hinten und im Sitzen sah sie aus wie ein buckliges Viech mit kurzen Beinen und sehr langen Armen. Die alte Frau, die bei uns die Socken stopfte, meinte meiner Mutter wäre während der Schwangerschaft Leid zugefügt worden, vor allem Bettina.“ (S. 9). Hier wird vermutet, die verkrüppelte Physis hänge zusammen mit Gewalt (vermuteten gewalttätigen Übergriffen durch Männer wohl) zusammen. Vielleicht sogar einer Gewalt, der sich die Mutter ausgesetzt sah, einer Gewalt wie sie Betina später auch durch die Übergriffe des Professors ausgesetzt sieht und sogar selbst schwanger wird.

Yunas Cousine ist Liliputanerin und neunzehn Jahre alt. Yuna berichtet: „Sie reichte mir bis zur Hüfte denn ich bin eins siebzig und schlank und sie ist dick ihr Gesicht sieht aus wie ein köstlicher Apfel. Sie erzählte mir, dass der Gemüsebauer von nebenan am Anfang einmal pro Woche nachts über das Mäuerchen gesprungen kam und dass sie ihn mit dem Oralsex-Trick so verrückt gemacht hatte, dass er jetzt alle zwei Tage oder besser alle zwei Nächte kam und manchmal auch jede Nacht […]. (S. 74)

Ist Petra Liliputanerin, weil sie den Männern mit Oralsex aus einer niedrigeren Position, einer marginalen Perspektive besser dienen kann? Ich formuliere deutlicher: Sie muss sich für Oralsex nicht einmal hinknien, sondern steht aufrecht, der Körper abseits der Norm dient dem Zwecke der männlichen Befriedigung. Und zwar nicht wie bei der körperlichen sexuellen Vereinigung, wo im besten Fall eine Befriedigung in beidseitigem Einvernehmen erfolgt, sondern es handelt sich hier um einen Dienst am Mann, auf Basis seiner Triebbefriedigung. Sind die körperlichen Erscheinungen und die Schwächen im geistigen Zustand der Frauenfiguren nur eine andere Form des strukturellen Machtmissbrauchs im gesellschaftlichen System? Es ist meiner Ansicht nach zumindest eine sehr deutliche Markierung. Doch das ist nicht alles. Denn auch wenn Petra Prostituierte ist, an dem Nachbarn, der ihre Schwestern Carina vergewaltigt und geschwängert hat, die dann nach der missglückten Abtreibung verstorben ist, rächt sie sich an ihm.

Verbandelungen – Gesellschaft, Kunst, System

Geht es nur mir so, oder sind nicht eindeutig Zusammenhänge zu erkennen?! Yunas preisgekröntes Bild Abtreibung gibt es nur, weil Abtreibungen im Geheimen unter prekären Umständen durchgeführt werden müssen. Dennoch hat sie gerade dafür Preis erhalten und somit gesellschaftliche Anerkennung von Experten. Ist das nicht verrückt?! Doch das ändert nichts am System, es ist eher ein Tropfen auf dem heißen Stein – Zischschschsch – pff weg! Es ist kein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wo liegt dafür der Ursprung bzw. wo könnte der Ursprung zu finden sein? Und wer hat eigentlich Vorteile von einem derartigen System? Der Roman spielt in den 1940er Jahren und trotzdem sind die genannten Themen aktuell, in einigen Ländern der Welt mehr als in anderen. Abtreibung ist ein aktuelles Thema. Die Darstellung von systemimmanenten Gräueltaten in der Kunst ist aktuell, denn Kunst greift relevante Diskurse auf und stellt sie verformt dar. Wer aus irgendeinem Grund nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, hat es ohnehin schwer. Das ist zeitlebens aktuell, bedenkt man vor allem die deutsche Vergangenheit mit den Euthanasie-Morden der Nazis! Ich habe erst kürzlich die Gedenkstätte Hadamar besucht und kann den Besuch zu historischen Informationszwecken empfehlen. Das geht alle etwas an!

Und auch Die Cousinen ist gesellschaftskritisch und gesellschaftsrelevant, weil er so wichtige Themen auf eine Weise behandelt, die vielleicht exzentrisch sein mag oder ungewöhnlich, die doch aber gerade aufgrund dieser Darstellung, den Nagel auf den Kopf trifft, die Drastik der Lage dargestellt, die Realität nicht beschönigt und sie so weit es geht ungefiltert aus der Perspektive Yunas zeigt.

Beschluss zu Aurora Venturinis Die Cousinen

Die Cousinen ist ein wichtiges Buch, das dunkle Schatten durch eindringendes Licht verschwinden lassen kann und zwar gerade durch die Brutalität, mit der die Protagonistin erzählt. Die vielleicht als roh oder rücksichtslos gegenüber grammatikalischen Konventionen erscheinende Sprache kann verbunden werden mit der vermeintlichen geistigen Schwäche Yunas, ist aber inhärent auch Zeugnis der Brachialität des gesellschaftlichen Systems und seiner Misogynie befördernden Strukturen. Gerade die rohe Reinform dieser eindrucksvollen Poetik kann in ihrer Hemmungslosigkeit Schwellen übertreten und Brücken über Abgründe schlagen. Ist Kunst also auch ambivalent zu betrachten wie es schließlich die Figur des Professors ist, der einmal der Förderer ist, dann aber auch übergriffiger Vergewaltigter einer Beeinträchtigten, die sich nicht wehren kann? Wird an dieser Figur nicht exemplarisch der ausbeuterische Charakter und die sich bedingenden und ineinandergreifenden Strukturen von Kunst, Wirtschaft und Gesellschaft aufgezeigt? Das kann ich an dieser Stelle nicht weiter erörtern. Wer möchte kann Yunas Emanzipation selbst nachlesen. Sie löscht am Ende schließlich alles Negative, findet ihr Gleichgewicht, ihren Frieden. Vielleicht ist Löschung Friede.

Weiterführende Fragen zum Roman

Wie geht Yuna mit Ekel um, wie mit Scham, wie mit Schuld?

Und wie zeigt sich der Umgang gerade mit negativen Gefühlen in ihrer Kunst?

Welche Gemeinsamkeiten haben die Wörter, die Yuna sich durch das Wörterbuch erschließt?

Inwiefern kann Yuna überhaupt als minderbemittelt bezeichnet werden?

Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei möglicherweise bei den männlichen Figuren im Roman zu beobachten?

Welche Rolle spielen religiöse Konzepte im Roman?

In welchen Szenen wird konkret auf Religion und dazu gehörige Konzepte verwiesen?

Verwendete Literatur

Aurora Venturini: Die Cousinen. Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering. Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez. München 2022.


[1] Enriquez, Mariana: Nachwort. In: Aurora Venturini: Die Cousinen. Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering. Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez. München 2022, S. 186. [2] Ebd., S. 186-191.