Martina Clavadetscher – Die Schrecken der Anderen: Erzähltheorie, Figuren und Realität

Zuletzt bearbeitet am 31. August 2025

Martina Clavadetscher ist mit Die Schrecken der Anderen ein erzählerisches Glanzstück gelungen, das sich mit erzähltheoretischen Kriterien untersuchen lässt und mit einer besonderen Intention verbunden ist:

„Aus der näheren Geschichte wie Zweiter Weltkrieg in der Schweiz hört man sehr wenig, obwohl es da natürlich auch sehr viel zu erzählen gäbe. Das sind die unliebsamen Geschichten. Aber meine Arbeit als Autorin ist es natürlich, diese unliebsamen Geschichten in Fiktion zu packen und dann vermittelbar zu machen.“[1]

Mich fasziniert neben den historischen und aktuellen Themen, dass die Figuren fast schon ein Bewusstsein für ihr Konstruiert-sein haben und ihre Rollenfunktion im narrativen Geflecht der Erzählung andeuten. Und als Literaturwissenschaftlerin kam ich beim Lesen nicht umhin, zwischen dem Erzählten und der darunterliegenden Erzählstruktur hin- und her zu switchen. Insofern war es nicht unbedingt der Inhalt an sich, der mich fesselte, sondern die narrativen Aspekte und die Methoden, die ich am Text abarbeiten konnte. Das hat sehr viel Spaß gemacht. Für mich relevant sind in diesem Beitrag Begriffe wie MacGuffin, Verbundenheit, Zufall, Handlungsmotivierung, Dulden, Hinsehen und Erzählen.

Inhaltsverzeichnis

Worum geht es in Martina Clavadetschers Die Schrecken der Anderen?

Der Roman beginnt mit einem verstörenden Fund: Beim Eislaufen stößt ein Junge auf dem gefrorenen Ödwilersee auf eine Leiche, die man später als Antony McGuffin identifiziert. Im fiktiven und scheinbar idyllischen Ödwilerfeld am Fuß des Frakmont-Gebirgszugs verbindet Martina Clavadetscher die Provinzatmosphäre mit düster-schwelenden gesellschaftlichen Untertönen. Denn mit dem Fund der Leiche und dem Frühlingsbeginn zeigen sich vermeintlich verdrängte Gräueltaten in neuem Gewand.

In die Ermittlung hineingeschubst wird Polizeiarchivar Schibig, der am Tatort die „Alte“ namens Rosa trifft und mit ihr Nachforschungen beginnt. Diese führen zum wohlhabenden Erben Kern, der auf im Dachgeschoss seiner Villa einen manipulativen und fast hundertjährigen Mutterdrachen pflegt und sich in Kreisen männlicher Finanzmacht sowie Geheimgesellschaften im Gasthof „Adler“ umtreibt.

Die Wahrheit hinter diesen Figuren öffnet Tore zu konservativ-nazistischen Legenden, die bis in die Gegenwart nachwirken. Clavadetscher inszeniert eine Auseinandersetzung mit der unliebsamen Vergangenheit, die sich niemand richtig ansehen will – mit einer Vergangenheit, in der Dulden und Schweigen sowie Akzeptieren des Unfassbaren Grausamkeiten möglich machten und sich bis heute halten. „Dulden kennt keinen Widerstand, denkt er. Deswegen ist Dulden die scheinheiligste Form von Verbrechen.“ (Clavadetscher, Martina: Die Schrecken der Anderen. München 2025, S. 167) Und Clavadetscher zeigt, dass diese unliebsame Vergangenheit in die Gegenwart ragt.

Auch wenn Die Schrecken der Anderen in einer fiktiven Gegend in der Schweiz spielt, so ist das Dargestellte angelehnt an reale Orte und den schwelenden Hass, die Gewalt und den Sprachzerfall, die allesamt länderübergreifende Themen sind.

Der MacGuffin als Handlungskatalysator

Dass der Tote aus dem See Anthony McGuffin heißt und bezeichnende Ähnlichkeit mit dem von Alfred Hitchcock geprägten MacGuffin als einem diegetischen Element, das die Handlung vorantreibt, hat, ist kein Zufall.

Der MacGuffin ist eine Art Zaubertrick, weil etwas verpackt und vorgegaukelt wird. Anton Fuxjäger erklärt in seinem Fachartikel: „Der MacGuffin ist für den Autor insofern ‚unwichtig’ bzw. bloß ein ‚Vorwand’, eine ‚Finte’, ein ‚Trick’, ein ‚Dreh’, ein ‚gimmick’, als ebendieser Autor statt des konkret gewählten MacGuffins auch etwas anderes einsetzen und dabei doch weitestgehend die gleiche Geschichte erzählen könnte. Daraus ergibt sich jedoch nicht, daß der MacGuffin auch für den Rezipienten ‚unwichtig’ bzw. ‚nichts’ ist.“[2]

Man könnte auch sagen: Der Autor bzw. hier die Autorin braucht einen Aufhänger, der die Handlung in Gang setzt – wie das Fallen von Dominosteinen. Die Figur Rosa konstatiert: „Aber an vielen Anfängen taucht eben eine Leiche auf. Damit sie endlich hinschauen. Und damit sie nicht mehr wegschauen können bis zum Ende.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 54-55).

Der Witz liegt ja gerade darin, dass Martina Clavadetscher den M(a)cGuffin als leblose Figur eingebaut hat, die im wahrsten Sinne des Wortes „auftau(c)ht“. Das ist in mehrfacher Hinsicht sehr interessant.

Auch Rosa weiß, dass das Auftauchen von Dingen viel bewirken kann:

„Wenn etwas auftaucht, das schon als vergessen galt, kann das ganz schön lästig sein für einige – für andere hingegen ist das vielleicht sogar ein Glücksfall; so oder so: es wirft Fragen auf und das sollten wir nutzen […]“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 39).

Diese Aussage stimmt mit der Funktion der Leiche McGuffin innerhalb der Handlung in Die Schrecken der Anderen überein. Um nun meine Begeisterung für diesen Toten zu erklären, muss ich auf noch etwas detaillierter auf den MacGuffin als diegetisches Element eingehen.

Die Figuren mit dem MacGuffin zum Hinsehen bewegen

Selbst wenn die Figur Antony McGuffin nicht so heißen würde wie das durch Hitchcock geprägte diegetische Element MacGuffin, würde es nichts an seiner künstlichen Konstruktion im erzählerischen Geflecht ändern – es handelt sich um eine Figur, die aus der imaginierten Gedankenwelt Martina Clavadetschers stammt. Sie hat der Figur diesen Namen zugewiesen. Mir erscheint es logisch, dass dies absichtlich geschah, obwohl ich es natürlich nicht konkret weiß. Aber es erfüllt den Zweck: Die Figuren sehen genauer hin, weil der tote M(a)cGuffin aufgetaucht ist – der Fund bringt die Geschichte in Gang.

Für Autoren ist so ein MacGuffin austauschbar, für das Publikum ist er meist unwichtig, aber für die Figuren selbst hat dieses „leere“ Objekt eine besondere Wichtigkeit. Wäre das nicht so, dann würden sie „nichts“ tun. Insofern ist der MacGuffin ein expliziter Verweis auf die künstliche Konstruktion der Handlung. Die Alte im Roman weiß das, wenn sie feststellt: „Der Tote im Eis ist nur ein Puzzleteil. Er ist ein Grund, genauer hinzuschauen und sich nicht in der Vergangenheit zu verkriechen.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 149). Auf die Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Realität werde ich noch genauer eingehen.

Der MacGuffin als metanarratives Element?

Es gibt in der Erzähltheorie eine ganze Reihe an nicht einheitlich verwendeten Begriffen für das Was der Erzählung und das Wie der Handlung. Dazu gehören unter anderem récit, discours, histoire, discourse, story, fabula oder sjužet. Histoire/Erzählung (das „Was passiert?“) und discours/Handlung (das „Wie wird es erzählt?“).

Der M(a)cGuffin in Die Schrecken der Anderen lässt sich nun mindestens in diese zwei Ebenen einordnen.

Eher Erzählung/histoire:

  • Weil der M(a)cGuffin ein Element des Faktischen Geschehens ist – die Figuren verfolgen ihn, suchen danach, reagieren darauf.
  • Er existiert innerhalb der Welt der Geschichte, unabhängig davon, wie sie erzählt wird.

Eher Handlung/discours:

  • Der MacGuffin existiert nicht primär für die „wirkliche“ Handlung innerhalb der Welt, sondern für die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird.
  • Seine Funktion liegt darin, die Erzählung voranzutreiben, die Aufmerksamkeit zu lenken oder Erwartungen des Publikums zu steuern, ohne dass seine materielle oder inhaltliche Bedeutung wirklich zählt.

Insofern kann ich die Figur McGuffin nicht nur als Mensch innerhalb der erzählten Realität erkennen, sondern auch als Figur in der Handlung sowie als theoretisches Konstrukt – als metanarratives Werkzeug des Erzählens. Es kommt darauf an, wie man sich einen Text ansieht, mit welcher Intention man ihn liest.

Figurennarratologische Aspekte in Die Schrecken der Anderen

Narratologie ist der Fachbegriff für eine Disziplin der Literaturwissenschaft, die sich mit den Strukturen und Mechanismen des Erzählens befasst. Insbesondere in den letzten Jahren hat sich die Forschung vermehrt den Figuren zugewandt, sodass sich das Feld der Figurennarratologie gebildet hat, in der den fiktiven Bewohner von Erzählwelten hinsichtlich ihrer spezifischen Ontologie untersucht werden. „Ein fiktionales Medium beschreibt genau dann eine Figur, wenn es zu der Vorstellung einlädt, dass das Beschriebene ein Mensch (oder ein quasi-menschlicher Gegenstand) ist.“[3]

So unterscheidet man generell zwischen der internen Perspektive (die Darstellung einer realen Person) und der externen Perspektive (Darstellungsmittel des Mediums). Figuren sind Teil der erzählten Welt und gehören insofern auch zur Narratologie, doch besitzen sie spezifische Merkmale, weil sie (oft) wie Menschen aussehen, reden und handeln. Sie besitzen eine eigene Psychologie und besitzen Weltwissen, sogar Wissen aus unserer Realität können Figuren besitzen und sogar in einer Welt leben, die der unsrigen ähnelt. Zudem erfüllen die Figuren gewisse Funktionen in der Erzählung, diese sind an die Handlung gebunden. Der MacGuffin, also die tote Figur McGuffin treibt als Katalysator die Handlung voran, bringt Schibig und Rosa zusammen, forciert Ermittlungen, die letztlich aber ganz andere Dinge ans Licht bringen, die mit der Realität in Verbindung stehen.

Theorien von Figuren in Die Schrecken der Anderen

Rosa hat als Figur schon lange darauf wartet, mit ihren Ermittlungen und Erkenntnissen weitermachen zu können. Es ist der Fund von McGuffin, der ihr die Gelegenheit gibt: „Bei undurchsichtigen Geschichten geht es oft um Ausdauer. Und um die richtigen Handlungsträger. Es braucht immer einen Helfer wie auch einen – und obwohl sie das Wort nicht denken mag, tut es sie es trotzdem – Helden.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 55)

Held und Helfer, das sind Worte, die in vielen Erzähltheorien relevant sind, wenn es um die Rolle der Figur geht. Rosa scheint das zu wissen, wenn sie diese Begriffe narrativer Figurenkonzepte der Handlungsmotivierung anspricht. Und immerhin sind die „Nebenfiguren der Geschichte [ihre] Spezialität“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 70).

Das Wissen, dass sie in ihren Gedanken oder in Gesprächen preisgibt gehört eigentlich der Autorin Martina Clavadetscher (die im Übrigen auch Germanistik, Linguistik und Philosophie studiert hat und mit literaturwissenschaftlichen Konzepten vertraut ist).

1. Figurenrollen: Held und Helfer im Strukturalismus bei Vladimir Propp

Bereits 1928 hat Vladimir Propp in seiner Morphologie des Märchens die Strukturgesetze russischer Volksmärchen untersucht und wiederkehrenden Funktionen der Figuren analysiert. Er fand heraus, dass Figuren innerhalb dieses Genres keine psychologischen Individuen sind, sondern verschiedene Rollen innehaben, die bestimmte Funktionen im Handlungsverlauf erfüllen.

  • Held: zentraler Handlungsträger, der auf eine Aufgabe ausgerichtet ist (Mangel beheben, Schurken besiegen, Braut gewinnen).
  • Helfer: unterstützt den Helden, oft in Form des „magischen Helfers“ oder „Spenders“ (z. B. Tier, Gegenstand, Zauberwesen).
  • Weitere Rollen: Bösewicht, falscher Held, Prinzessin (bzw. begehrtes Objekt), Auftraggeber.

Einführende Informationen bietet zum Beispiel Literaturwissenschaftliche Begriffe online.[4] Man muss bedenken, dass Propp nur das Genre der russischen Volksmärchen analysiert hat, doch seine Erkenntnisse, dass Figuren als zentrale Konzepte Funktionen als Erzählbausteine erfüllen und daher austauschbar sind, weil sie nicht über individuelle Charaktere definiert werden, ist zentral für weitere narratologische Arbeiten um die Relevanz der Figur in Erzähltexten. Darüber hinaus funktioniert diese „Rollenzuweisung“ auch in anderen Medien und literarischen Genres, allerdings gibt es mittlerweile weitere Konzepte für verschiedene Genres und Medien.

2. Campbells Heldenreise (mythologisch-psychologischer Ansatz)

Joseph Campbell (The Hero with a Thousand Faces, 1949) entwickelte den Monomythos, die universale Struktur des „Heldenmythos“, stark beeinflusst von C. G. Jung. Hier sind Figuren Archetypen des kollektiven Unbewussten.

  • Held: archetypische Figur, die einen Transformationsprozess durchläuft (Aufbruch – Prüfung – Rückkehr).
  • Mentor – die Helferfigur erscheint bei Campbell als Mentor und kann verschiedene Typen abbilden:
    • der Mentor (weise Figur, z. B. Gandalf aus LotR),
    • der Gefährte/Ally (z. B. Samweis Gamdschie aus LotR),
    • übernatürliche Hilfe (Zauberkraft, Götter).
  • Weitere Rollen: Herold, Schwellenhüter, Trickster, Gestaltwandler, Schatten (Antagonist).

Zentrales Konzept: Archetypen nach Jung. Figuren verkörpern innere Kräfte, die der Held in seiner Entwicklung integriert.

Übertragen auf Clavadetschers Roman: Rosa fungiert als klassische Mentorin für Schibig – sie besitzt das Wissen über vergangene Ereignisse und führt ihn durch den Erkenntnisprozess. Schibig durchläuft eine Art Heldenreise: Vom passiven Polizeiarchivar mit Panikattacken wird er zum aktiven Ermittler, der sich den „Schrecken der Anderen“ stellen muss. Der Transformationsprozess zeigt sich darin, dass er lernt hinzusehen statt wegzuschauen. Kern dagegen sieht sich selbst als Held, obwohl er eher die Rolle des Antagonisten oder falschen Helden einnimmt, wohingegen der alte Mutterdrachen auf dem Dachboden eine zwielichtige Helferfigur ist. Diese Rollen ließen sich auch weiter ausbauen.

3. Narratologie (Genette, Stanzel, Chatman)

Die klassische Narratologie untersucht nicht nur den Plot, sondern auch die Vermittlungsformen und die Figurenkonstellation. Figuren werden hier als Akteure im narrativen Ensemble verstanden.

  • Held: meist Träger der internen Fokalisierung, oft Erzählinstanz oder Zentrum des Figurenensembles.
  • Helfer: Nebenfigur, die das Handlungsgeschehen unterstützt, aber selten Perspektivträger.
  • Weitere Rollen: Antagonist, Gegenspieler, Erzähler (heterodiegetisch/autodiegetisch), Nebenakteure.

Zentrales Konzept: Figuren sind durch Funktion im Ensemble und Fokalisierung definiert – wer sieht, wer spricht, wer handelt.

In Die Schrecken der Anderen wechselt die Fokalisierung hauptsächlich zwischen Schibig und Kern. Beide werden als Perspektivträger etabliert, wodurch sich zwei parallele Handlungsstränge entwickeln. Rosa bleibt trotz ihrer Wichtigkeit meist extern fokalisiert – wir erfahren ihre Gedanken seltener direkt. Diese narrative Struktur verstärkt ihre Rolle als mysteröse Helferfigur, deren Wissen erst nach und nach preisgegeben wird. Inwiefern Schibig und Kern als Held bzw. Antiheld bezeichnet werden können, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen.

4. Kognitionswissenschaftliche Ansätze

Die Kognitionswissenschaft fragt: Wie werden Figurenrollen mental repräsentiert und verstanden? Geschichten aktivieren beim Konsumieren bekannte Schemata und Frames, die Rezipienten beim Einordnen des Gelesenen unterstützen.

Bei der Konzeption von Figuren sind spezifische Wissensmengen und Wissensformen involviert: „Autorinnen und Autoren beziehen sich in der Konzeption ihrer Figuren in aller Regel auf psychologisches und anthropologisches sowie literarisches Wissen, das heißt auf psychologische und anthropologische Annahmen, die in ihrer Zeit und ihrem kulturellen Umfeld geläufig sind, sowie gegebenenfalls auf in der literarischen Tradition vorgeprägte Figurentypen. Außerdem haben Figuren eine intendierte Funktion innerhalb der Gesamtkomposition des Werks, und diese Funktion besteht vielfach in der Vermittlung eines spezifischen Wissens, also darin, Auffassungen etwa über Moral, Gesellschaft oder Geschichte mitzuteilen.“[5]

Kurz gesagt: Figuren agieren nach Maßstäben, die allgemein bekannt sind.

„Für die Figurentheorien dieser Richtung ist kennzeichnend, dass sie erstens den literarischen Text mitsamt seinen Figuren nicht, wie es viele strukturalistische Ansätze tun, isoliert als ein eigenständiges Zeichensystem betrachten, sondern ihn als Bestandteil eines Kommunikationsprozesses zwischen Autor und Lesern auffassen; dass sie zweitens dabei ihr Hauptinteresse der Seite der Rezeption zuwenden und dass sie drittens den Rezeptionsprozess unter Rückgriff auf die kognitionswissenschaftliche Forschung zu modellieren suchen.“[6]

Das bedeutet für die Begriffe Held und Helfer

  • Held: Wird als zentraler Handlungsträger mit klaren Zielen konstruiert. Er ist der Fokus der Handlung und der mentalen Simulation.
  • Helfer: Funktioniert als unterstützende Figur, die Ressourcen, Wissen oder Handlungsmöglichkeiten bereitstellt, um das Ziel des Helden zu erreichen.
  • Idee: Rollen wie Held und Helfer sind kognitive Schemata, die es ermöglichen, Handlungen vorherzusehen, Figurenbeziehungen zu verstehen und narrative Dynamik nachzuvollziehen.

Zentrales Konzept: Figurenrollen entsprechen kognitiven Schemata (z. B. „Held mit Ziel – Helfer als Unterstützung – Gegner als Blockade“).

Angewendet auf Clavadetschers Figuren: Schibig aktiviert beim Leser das Schema „Ermittler sucht Wahrheit“, das wir aus Krimis kennen. Wir folgen seinen Denkprozessen und Entdeckungen. Rosa entspricht dem Schema „weise Alte mit Geheimwissen“, das kulturell tief verankert ist. Kern hingegen bricht diese Erwartungen: Er sieht sich als Held, handelt aber nach dem Schema des Antagonisten. Diese Brechung erzeugt beim Lesen Irritation und macht die Komplexität der Figuren sichtbar.

Figuren im Kontext von Handlung und Konstellation betrachten

Jens Eder hat Figuren im Film analysiert, wobei sich seine Ergebnisse auch für die Untersuchungen literarischer Texte fruchtbar machen lassen. „Die Figurenkonstellation ordnet die einzelne Figur in ein Netz von Beziehungen zu anderen Charakteren ein: Hierarchien, Handlungsfunktionen, Ähnlichkeiten und Kontraste, Werte, Interaktionen und Kommunikationen. Figuren stehen als Haupt- oder Nebenfiguren in einer Aufmerksamkeitshierarchie; als Protagonisten oder Antagonisten in einem Netz von Handlungs- und Konfliktbeziehungen; als Helden oder Schurken in einem Wertesystem; als Parallel- oder Kontrastfiguren im Vergleich zueinander. Die Position einer Figur innerhalb dieses Netzwerks, ihre Isolierung oder Zuordnung zu bestimmten Figurengruppen trägt wesentlich zu ihrer Charakterisierung bei und beeinflusst ihre Relevanz als Träger übergeordneter Themen und Aussagen des Films. Figurenkonstellationen weisen typische Muster auf, vom Ein-Personen-Film bis zum Ensemblefilm.“[7]

So sind an den Helden „bestimmte Erlebnisversprechen und implizite kommunikative Abmachungen verbunden“[8], die sich aus Vorstellungen des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses speisen oder aus intertextuellem Wissen über „Figurentypen, Genres und einzelne populäre Figuren“[9], die beim Konsum wie Folien auf die Figuren projiziert werden.

Ein Held ist insofern konkret ein struktureller Figurentyp, weil er sich innerhalb eines Werkes einer bestimmten Position innerhalb einer Figurenkonstellation zuordnen lässt.[10] Der strukturelle Figurentyp ist nur einer von vieren, die Jens Eder aufstellt. Allerdings können Figuren, auch Helden und Helfer auch mehreren Typen zugeordnet sein.

4. verschiedene Figurentypen

1. Inhaltliche Typen: Zeichnen sich aus durch ihre Konstellation äußerer, innerer und sozialer Eigenschaften.

2. Strukturelle Typen: Z.B. Held und Gegenspieler, sind durch ihre Position und Funktion innerhalb von Figurenkonstellation und Narration bestimmt.

3. Soziale Typen: Stammen aus dem Umgang mit der sozialen Realität und werden dort öfter angewendet (Metzger, aufopferungsvolle Mutter usw.)

4. Mediale Typen: Stammen aus dem Umgang mit medialen Artefakten (Cowboys, Indianer, Verrückter Wissenschaftler, Femme Fatale). Sind als mentale Prototypen im kollektiven kulturellen Gedächtnis vorhanden und stehen in Wechselwirkung miteinander.

Konkret in Die Schrecken der Anderen:

  • Rosa kombiniert den sozialen Typ der „weisen Alten“ mit dem medialen Typ der „Detektivin im Ruhestand“
  • Kern vereint den sozialen Typ des „Industriellenerben“ mit dem medialen Typ des „korrupten Mächtigen“
  • Schibig entspricht dem sozialen Typ des „Beamten“ und dem medialen Typ des „widerwilligen Ermittlers“
  • Kerns Mutter verkörpert den medialen Typ der „bösen Stiefmutter/Hexe“ und gleichzeitig den historischen Typ der „NS-Sympathisantin“

Die Mehrschichtigkeit der Figuren macht sie komplex und verhindert die Einordnung in ein simples Gut-Böse-Schema. Allerdings kommt es immer auf die zugrundeliegende Theorie und Perspektive an.

Die Figuren und ihre Rollen in Die Schrecken der Anderen

FigurRolle im RomanFigurenrolle nach ProppKognitionswissenschaftliche Perspektive
Der Tote im Eis – McGuffinAuslöser der Handlung, KatalysatorMacGuffin / AuslöserHandlungsmotivator; aktiviert andere Figuren und Leser; kognitives Schema: „Ereignis löst Handlung aus“
SchibigPolizeiarchivar, Ermittler, entwickelt sich aktivHeld / ProtagonistZentraler Agens; Träger von Zielen; Leser simulieren seine Perspektive, erfassen Handlung und Motivation
RosaAlte Dame, erkennt Zusammenhänge, SchlüsselfigurHelfer / MentorUnterstützende Figur; liefert Wissen, Ressourcen und Perspektiven; kognitives Schema: „Helfer unterstützt Held“
KernEinflussreicher Erbe, Widerstand gegen WahrheitGegner / Antagonist oder HeldBlockiert Ziele des Helden; kognitives Schema: „Antagonist erzeugt Konflikt“, sieht sich selbst aber als Held
Kerns MutterKontrollierende alte Dame, manipulativGegenspieler / falscher HeldManipulative Figur; erzeugt Spannung und Hindernisse; Leser erkennen Absichten und Machtstruktur
Kerns Frau (Hanna)Durch Rituale manipuliert, aber strategischNebenfigur, OpferrolleUnterstützt oder behindert Ziele je nach Handlung; kognitives Schema: „Nebenfigur beeinflusst Dynamik zwischen Held und Antagonist“

Autoren schaffen Strukturen in der Figuren-„Realität“

Es ist kein Zufall, dass ein Toter gleich zu Beginn im zugefrorenen Ödwilersee von einem Schlittschuh fahrenden Jungen gefunden wird. Die Figuren wissen selbst, dass „eben doch alles verbunden ist“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 277), selbst dann, wenn es zunächst nicht so aussieht. Somit kann es auch kein Zufall sein, dass seit 35 Jahren die Eisschicht des Ödwilersees endlich wieder so dick gefroren ist, dass sie für die Öffentlichkeit freigegeben wurde. (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 8) Der Junge, der die handlungsmotivierende Leiche namens McGuffin im Ödwilersee entdeckt, will eigentlich nur ein Video drehen und Klicks kassieren. „Er will die Methangasblasen finden. Er will das Feuer speien lassen. Er will die Stichflamme filmen. Er will das Video hochladen. Er will berühmt werden.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 7). Handlungen sind wie Perlen an einer Schnur, die nacheinander aufgereiht eine Kausalkette ergeben, die im Roman zum Leichenfund führen und die man, wenn man will, bis zur Entstehung der Berge, Moorlandschaften, des Örtchens Ödwil zurückverfolgen kann. Diese Kausalkette an Ereignissen wird von den Figuren aber nicht als „konstruiert“ oder linear betrachtet, sondern das ist die Realität, in der sie leben und gewisse Ereignisse als Zufälle erleben. Und „es gleicht sowieso einem Wunder, dass der Leichnam an die Oberfläche kam, normalerweise“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 70) ist dem nämlich nicht so.

Wir als Rezipierende wissen dagegen, dass die Figurenwelt von der Autorin Martina Clavadetscher erschaffen wurde. Und wir wissen bzw. können erahnen (je nach Wissensstand), dass sie sich an Begebenheiten der jüngeren Vergangenheit orientiert und diese einbezogen hat.[11] Von diesem externen Standpunkt aus sind die im Roman erzählten Ereignisse KEINE Zufälle. Alles ist vorherbestimmt, weil Martina Clavadetscher es so wollte.

Punkte und Leerstellen zu einem narrativen Netz verbinden

Es gibt den Begriff der Handlungsmotivation oder Handlungsmotivierung, die ähnlich wie die psychologische Motivation eines Menschen auf die Zukunft ausgerichtet ist, auf den Fortgang der Geschichte, sogar auf das Ende – die weiter oben erwähnte Perlenkette wäre eine Analogie für die narrative Handlungsmotivation, die sich an handelnden Figuren orientiert oder an einem Netz mit Knotenpunkten. Ich werde auf den Begriff noch gesondert eingehen.

„Hauptsache, du hörst zu, auch wenn das, was wir jetzt erzählen, für dich [gemeint ist Schibig] bestimmt nicht neu ist, weil es in Büchern und Archiven nachlesbar ist – aber diese verstreuten Episoden lassen sich eben zu einem narrativen Netz verbinden. Wenn man sie verbindet.
Boll nickt und wird sachlich:
– Also gut, nennen wir sie Geschichten aus der Geschichte, die ich hier gerne nochmals erzähle, weil sie offenbar noch nicht deutlich genug erzählt wurden: […]“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 230)

Es sind die Figuren, die das narrative Netz, die Struktur der Erzählung bestimmen; sie sagen es selbst. Das bedeutet, das Erzählen Verbindungen stiftet aus der Vergangenheit in die Gegenwart, von der Fiktion in die Realität und umgekehrt – und zwar über Menschen im realen Leben, über Figuren in Romanen. Verantwortlich für die Umsetzung sind Autor:innen als Übersetzer:innen des Imaginierten Realen ins Fiktive und wieder zurück über das Medium Buch in die Imagination der Leser:innen. Sie nehmen das Gelesene auf, können auf Basis ihres Wissens Rückschlüsse ziehen und diese kognitiv einordnen. Insofern darf man Rosa glauben:

„– die Leerstellen,
sagt sie nun und Schibig wiederholt:
– Die Leerstellen?
– Blind geworden für die Leerstellen,
– Sagt die Alte nochmals, und Schibig schaut, als verstünde der nicht, weil er diesem Gedankensprung beim besten Willen nicht folgen kann. Blind geworden für das große Ganze vielleicht oder blind geworden für ein Wunder, denkt er weiter, oder für die Gegenwart als Gegenstück zur passiven Vergangenheit; denn was auf Papier übrig bleibt, reicht ihm nicht mehr aus – die kräftige und handelnde und gestaltende Gegenwart, ja, dafür ist er blind geworden, aber doch nicht für die Leerstellen, wobei das möglicherweise ja alles ein und dasselbe war, grübelt Schibig weiter.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 74-75)

Der „Kern“ in die Schrecken der Anderen

 „Das also war des Pudels Kern!“[12] – das ist durch (oder seit?) Goethes Faust zum geflügelten Wort geworden. Im Drama verwandelt sich Mephistopheles zunächst in einen schwarzen Pudel, der Faust nach Hause folgt. Später nimmt er seine wahre Gestalt an, woraufhin Faust erstaunt des „Pudels Kern“ erkennt. Es bedeutet also, dass der wahre Grund, das Entscheidende, das Wesentliche nun zum Vorschein kommt.

Wie komme ich von Goethe zu Clavadetschers Die Schrecken der Anderen?

Zum einen heißt die Figur, die den zweiten großen Erzählstrang ausfüllt Kern. Zum anderen sagt Rosa etwas Vergleichbares: „Wir sammeln die Zufälle, wir gehen von außen nach innen, bis wir auf den Kern stoßen, flüstert die Alte […].“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 124)

Natürlich ist hier implizit schon ein deutlicher Verweis vorweggenommen. Es geht (dem Wesen eines Krimis entsprechend) um die Aufdeckung von Etwas, um das Zeigen der Wahrheit hinter einer Fassade. Insofern ist die Verbindung passend – es ist eben alles miteinander verbunden.

Der Figur Kern sind insofern mindestens drei Bedeutungen eingeschrieben:

  • wörtlich: eine so benannte Figur, die im Roman auftritt.
  • metaphorisch: sofort Assoziation zu „des Pudels Kern“, zum verborgenen Wesentlichen, zum inneren Kern.
  • poetisch: der Name trägt schon in sich die Bedeutungsschwere von Innerlichkeit, Wahrheit, vielleicht auch etwas, das freigelegt werden muss.

An der Figur Kern macht Autorin Martina Clavadetscher zugleich die Metapher des Kerns in mehrfacher Weise sichtbar. Schibig und die Alte sammeln abduktiv Zufälle und setzen sie zu einem großen Bild zusammen, in dem auch die Figur Kern den Mittelpunkt darstellt. Der Einflussreiche Kern ist eine gespaltene Figur und ein Opportunist. Ihn kennzeichnen die Gier nach Macht und Expansion, er verkehrt in mächtigen Kreisen, ist jedoch geplagt, ist krank, sieht nicht richtig, hat eine Beziehungskrise mit seiner Frau und eine bösartige und pflegebedürftige Mutter unter dem Dach, die als Lady McBeth im Hintergrund die bis in die NS-Vergangenheit reichenden Strippen zieht und unbedingt einen Erben will. Man muss jetzt aber wissen, dass Kern vom Naturell her eher ein Mitläufer ist, ein Dulder, eher passiv als aktiv und „nicht zum Handeln motiviert“ ist.

Motivierung und Motivation in Die Schrecken der Anderen

Ich habe bereits die sogenannte Handlungsmotivierung angesprochen. Mathías Martínez definiert den Begriff in seinem Werk zur Erzähltheorie wie folgt:

„Die Motivierung des Geschehens, so wurde gesagt, integriert das dargestellte Geschehen zum sinnhaften Zusammenhang einer Geschichte. Es sind drei Arten von narrativer Motivierung zu unterscheiden.“[13]

  • Kausale Motivierung erklärt ein Geschehen durch Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Sie umfasst „nicht nur Figurenhandlungen, sondern auch Geschehnisse – nicht intendierte Handlungsfolgen, Gemengelagen sich überkreuzender Handlungen, gänzlich nichtintentionales Geschehen oder auch Zufälle.“[14]

Einschlägige Beispiele kausale Motivierung:

  • Romeo und Julia: Romeo glaubt, Julia sei tot (Missverständnis, Zufall) → er trinkt Gift → Julia erwacht → sie tötet sich → große Trauer.
  • Tatort/Krimi allgemein: Ein Mord (Ursache) ruft Ermittlungen hervor (Wirkung). In diesem Sinne entspricht Die Schrecken der Anderen von der Grundstruktur her einem Krimi.
  • Finale Motivierung begründet ein Geschehen durch das angestrebte Ziel oder den Zweck: „Die Handlung final motivierter Texte findet vor dem mythischen Sinnhorizont einer Welt statt, die von einer numinosen Instanz beherrscht wird. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an festgelegt, selbst scheinbare Zufälle enthüllen sich als Fügungen göttlicher Allmacht.“[15]

Einschlägige Beispiele finale Motivierung:

  • Ödipus (Sophokles): Ödipus soll das Schicksal erfüllen, seinen Vater töten und seine Mutter heiraten – alle Zufälle führen nur in diese Richtung – er ist seinem Schicksal ausgeliefert, es gibt kein anderes Ende.
  • Star Wars: Lukes Weg ist „vorbestimmt“, er soll das Gleichgewicht in der Macht wiederherstellen – die Macht motiviert das Geschehen final.
  • Kompositorische/ästhetische Motivierung folgt künstlerischen Kriterien, kann handlungsfunktional oder irrelevant sein, oft besteht eine semantische Relation zwischen Motiv und Teilen der Handlung. „Diese umfasst die Funktion der Ereignisse und Details im Rahmen der durch das Handlungsschema gegebenen Gesamtkomposition und folgt nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien.“[16]

Einschlägige Beispiele kompositorische/ästhetische Motivierung:

  • Dostojewskis Schuld und Sühne: Raskolnikow hat wiederkehrende Träume, die kausal nicht notwendig sind, sondern symbolisch. Zudem stützen sie die Struktur der Handlung.
  • Märchen: Das kennt man: 3 Schwestern, 3 Ringe, 3 Prüfungen usw. Die magische Zahl 3 ist ästhetisch-kompositorisch motiviert und kausal betrachtet nicht notwendig.
  • Film Noir: Regen, Schatten, Neonlichter – sie sind für die Handlung nicht zwingend notwendig, aber sie erzeugen eine besondere Stimmung und Ästhetik, die zum Genre passt.

Motivierung, Motivation und Figurenpsychologie

Wer sich jetzt denkt, dass der Begriff Motivierung ihn irgendwie an psychologische Gegebenheiten erinnert, der hat gar nicht Unrecht. Mich irritiert also, wenn Armin Schulz in der Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive von „Motivationsarten“[17] spricht. Diesen ist dort ein ganzes Kapitel gewidmet.[18] Für mich ist der Begriff der Motivation einer konkreten Intention eines Menschen zugeordnet. Die Motivation entspricht der Handlung, die aus inneren Befindlichkeiten heraus erfolgt. Der Begriff Motivierung dagegen entspricht für mich einem wissenschaftlichen Terminus, mit dem ich Literatur bzw. konkret Figuren hinsichtlich ihrer Handlung analysieren kann.

Darum halte ich es wie Wolf Schmid:

„Von Motivation sprechen wir in Bezug auf den Helden und seine Beweggründe, seine psychische und emotionale Aktivität, die seinem Handeln zugrunde liegen.

Natürlich kann die Motivierung der Handlung eines Werks in der bestimmten Motivation einer dargestellten Figur bestehen. So spielt in Dostoevskijs Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie) Rodion Raskol’nikovs Motivation zum Mord an der alten Pfandleiherin eine zentrale Rolle in der Motivierung der Handlung des Romans. Gleichwohl fallen die beiden Begriffe nicht zusammen.“[19]

Genau. Nun will ich alles noch in Beziehung setzen zu den Figuren in Martina Clavadetschers Die Schrecken der Anderen – das funktioniert sehr gut mit der Figur Kern.

Der Held Kern in Die Schrecken der Anderen

Kern bezeichnet sich selbst als „Held“ und er wird auch ab und an von anderen Figuren so benannt.  Immerhin ist diesem vermeintlichen „Helden“ – wie er sich selbst teilweise sieht und „zufällig“ auch manchmal von anderen Figuren bezeichnet wird. „Du verdammter Held“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 79) nennt ihn Elster Junior.

Die Enzyklopädie des Märchens definiert mitunter den Helden so:

„Zum einen ist der H. nicht auf einen Typus reduzierbar, zum anderen bekleidet jeder H.entyp hist, und sozial wandelnde Funktionen, wenn auch seine jeweilige Gestalt anthropol. konstante Züge aufweist.“[20] So ist eine Definition stark vereinfachend, weil es in jedem literarischen Genre eine Heldenfigur geben kann, die aber nach den der Gattung zugrundeliegenden Strukturen eine andere Rolle innehat. Es gibt mythische und epische Helden, legendarische Helden, Märchenhelden und zauberkundige Helden[21], doch wird auch in neueren Romanen den Protagonisten dieser Titel zugewiesen, auch wenn er keine mythischen Aufgaben erfüllen muss, wie man sie aus mittelalterlichen Heldenepen kennt.

Das Kindler Lexikon definiert insofern: „Held [gr. he¯´rōs = Tapferer, Held, Halbgott], auch: Hauptperson, ä Protagonist, Heros; Zentralfigur in dramatischen und epischen Texten, die als exemplarischer Handlungsträger zumeist repräsentative Funktionen erfüllt und maßgeblich die Lenkung der Sympathie des ä Lesers beeinflusst. Dabei ist ›H.‹ kein wertneutraler Begriff, sondern die Bez. enthält noch graduell ›heroische‹ Konnotationen aus ihrer historischen Wortbedeutung. Soweit in der heutigen Lit. wissenschaft der Begriff nicht ganz zugunsten der neutraleren Synonyme aufgegeben wird, versucht man, durch verschiedene Oppositionen das Gestaltungsspektrum des H.en zu beschreiben: positiver vs. negativer

H.; aktiver vs. passiver H.; einzelner vs. kollektiver H.“[22]

Die Figur Kern ließe sich als Held analysieren und zwar auch im Rückgriff auf Erzählschablonen von mittelalterlichen Heldengeschichten, wobei meiner Meinung die Verbindung nicht nur im Begriff an sich besteht, sondern auch in dem im Roman angelegten „Mythos“. Dieser in den Erzählungen der Figuren angelegt und überall sonst in Die Schrecken der Anderen greifbar, doch kann diese Facette hier nur andeuten, weil sich um ein sehr breites Feld handelt.

Kern: Handlungsmotivierung und Motivation

Ich hatte schon erwähnt, dass die Figuren zu wissen scheinen, dass sie in ein größeres Ganzes involviert sind und sie sich manchmal der Konstruiertheit ihres Seins bewusst sind. Auch Kern hat eine Ahnung, dass er zu einer größeren und ihn umgebenden Struktur gehört, wie man seinen Gedankengängen entnehmen kann:

„Dritte Etage rechts, ich kann das, ich muss sogar, denkt Kern nochmals und fühlt sich festgeschrieben in einem stereotypen Handlungsstrang. In Wahrheit mag er diese Entwicklung nicht und schon gar nicht sein vermeintliches Motiv, das sich aus Eifersucht, Leidenschaft oder ähnlichen Beweggründen zusammenzusetzen scheint.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 112)

Man kann beobachten, wie die Figur Kern mit der Erzählkonstruktion der Autorin in Konflikt gerät, weil er sich „festgeschrieben in einem stereotypen Handlungsstrang“ fühlt. Ihm gefällt das Motiv der Eifersucht nicht. Man muss dazu wissen, dass Kern Eheprobleme hat. Die Luft ist raus, seine Frau Hanna wird nicht schwanger und weil unbedingt – laut der steinalten pflegebedürftigen Mutter auf dem Dachboden – ein Erbe hermuss, trifft Hanna sich mit anderen Männern. So auch mit McGuffin! Ah, nun schließt sich ein Kreis, nicht wahr?!

Kern sieht Hanna bei einem ihrer Ausflüge und folgt ihr, wartet, bis sie nach ein paar Stunden wieder ins Auto steigt und wegfährt, nur um dann selbst bei dem Unbekannten zu klingeln. Antony McGuffin lässt Kern in seine Wohnung. Er spürt, dass er „[s]tetig, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 113) gedankenlos die Treppe hinaufgeht. Er ahnt, was er tun muss bzw. sollte, es wäre „der ideale Zeitpunkt, jetzt, die Dinge heldenhaft in die Hand zu nehmen“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 117). Doch Kern gefällt das Motiv nicht (Eifersucht, Leidenschaft, ähnliche Beweggründe). Das ist verständlich – es sind „platte oder stereotypische“ Motive, Allerwelts-Motive. Eifersucht, Leidenschaft, Rache – das sind die bekannten Motive der ganz großen Stories: Troja, Nibelungen, Shakespeare, Emily Brontë. Ist Kern enttäuscht, dass er nicht aus einem „besseren“ Beweggrund handeln soll? Ob Kern wirklich zum Mörder wird, ist allerdings nur angedeutet.

Die Figur Kern und ihr Bewusstsein für Erzählstrukturen

Kern spürt, dass er einer Handlungsmotivierung folgt, die nicht seine eigene Wahl zu sein scheint.

„Kern nähert seinen Finger dem Klingelknopf. Im selben Augenblick bezweifelt er, einen freien Willen zu besitzen, er wundert sich, woher diese Mechanik überhaupt kommt, ein losgelöster Impuls, als würde der Entscheid tief in seinen Hirnzellen gefällt oder als würde er nach wie vor unablässig gefällt, in jeder Millisekunde in sein Innerstes hineingehauen, hartnäckig hineingehobelt, bis sein Ganzes die Struktur einer Handlung enthält. Oder dieser Strang des Schicksalsfadens schlummert seit Anbeginn in ihm; es ist ein fatales Programm mit überzeugender Befehlskette, die ihn da hineinredet, ihn unablässig in eine Richtung schleust wie Zuchtvieh, wie die armen Schweine seines Großvaters damals, die durch einen schmalen Korridor aus Metallzaun links und Metallzaun rechts ins Schlachthaus getrieben wurden, obwohl die Tiere durchaus spürten, was sie dort in der blutigen Maschinerie erwartete.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 112-113)

Der Vergleich mit dem Metallzaun und dem Vieh, das ins Schlachthaus getrieben wird, ist passend zur Situation der Figuren. Gleichzeitig wird hier auf die finale Motivierung hingewiesen – das Vieh landet in der Wurst, die Figur landet da, wo sie laut Martina Clavadetscher als Autorin hinsoll.

Sehr interessant ist darüber hinaus auch, dass Kern aufgrund seines Handelns seine Rolle anders einordnen kann:

„Nur Helden sind verflucht zu handeln, dachte er nun, und wie zur Ergänzung fiel ein neuer Satz in seine Gehirnmühle, wenn Handeln ein Fluch ist, dachte Kern, wenn Handeln ein Fluch ist, dann war er keinesfalls der Held, sondern das Gegenteil, das verfluchte Gegenteil davon, dachte Kern bewegungslos, […]. (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 188)

Man könnte also sagen, dass die Begriffe Held und Helfer (wie auch alle anderen Rollenfunktionen) nicht nur abhängig von der Erzählstruktur sind, sondern auch von der internen Perspektive – die Sicht der Figuren auf sich selbst.

Zeit und Raum – parallel geschaltet in Romanen

Im Roman ragen verschiedene Zeitschichten ineinander. Das gilt für die Sagen- und Mythenerzählungen wie auch Anspielungen auf lokal bekannte Ereignisse oder kollektiv Historisches. Vergangenes ist gegenwärtig und wird zur Zukunft.

Zum fiktiven Geschehen im Roman kommt noch die Ebene des realen Wissens hinzu. Durch Wiedererkennung kollektiver Wissenselemente können Leserinnen und Leser ihnen bekanntes Wissen in Beziehung zum aktuellen Geschehen setzen. Wenn Kerns Mutter zum Beispiel sagt: „Ich habe lange genug gewartet, ich muss helfen, die Winterhilfe muss an den richtigen Ort, ich bin die Letzte, die Fahne hoch, ja, die Reihen dicht geschlossen, so marschiert morgen die ganze Welt“, (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 201) dann stimmt sie das im Nationalsozialismus bekanntes Lied an. Angeblich hat es der SA-Mann Horst Wessel, der nach seinem Tod zum NS-Märtyrer wurde, erfunden. Meine Oma musste das Lied morgens vor der Schule singen.

Figuren aktivieren Wissen für die Leser:innen

Ich hatte eingangs Martina Clavadetscher zitert:

„Aus der näheren Geschichte wie Zweiter Weltkrieg in der Schweiz hört man sehr wenig, obwohl es da natürlich auch sehr viel zu erzählen gäbe. Das sind die unliebsamen Geschichten. Aber meine Arbeit als Autorin ist es natürlich, diese unliebsamen Geschichten in Fiktion zu packen und dann vermittelbar zu machen.“[23]

Es geht um das Reagieren auf diese aktuellen und schwelenden Ereignisse in Politik und Gesellschaft, weil lange Zeit geschwiegen und geduldet wurde. An den Figuren wird diese reale Dramatik inszeniert und sichtbar erzählt. Da sich Die Schrecken der Anderen auf aktuelle Begebenheiten in der Schweiz bezieht, kann ich als Deutsche wenig zu den lokalen Begebenheiten beisteuern. Aber es stimmt, dass die fiktive Welt von Romanen parallel zu unserer Realität aufgebaut ist. Dazu gehören die mit dem Nationalsozialismus verbundene Historie und auch reale Orte mit ihren Mythen und Sagen. Sicher können viele Leserinnen und Leser aus der Schweiz mit bestimmten Darstellungen im Roman etwas anfangen, etwa dem Kapuzen-Vorfall. Ich konnte diesen Vorfall zunächst nur mit den rassistischen Aktivitäten des Ku-Klux-Klans in den USA in Verbindung bringen.

In den Anmerkungen am Ende von Die Schrecken der Anderen befinden sich Auflösungen der verwendeten historischen Begebenheiten, unter denen auch „der Auftritt als Ku-Klux-Klan an der Fasnacht in Schwyz und die anschließende Strafverfolgung gegen zwölf Männer im März 2019“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 332) genannt sind.

Figuraler Wissenstransfer in die Schrecken der Anderen

Als weiteres Beispiel nehme ich den Bezug zum Ku-Klux-Klan. Die Schrecken der Anderen verbindet Fiktion und Realität, aktiviert bei Rezipienten vorhandenes Wissen und macht historische wie aktuelle gesellschaftliche sowie politische Themen erfahrbar.

Ein besonders erschreckendes Beispiel für die Verbindung von Fiktion und Realität zeigt sich im Ku-Klux-Klan-Vorfall von 2019 in der Schweiz. Eine derartige Verkleidung ruft nicht nur die gewalttätigen Ursprünge des KKK in den USA in Erinnerung – Unterdrückung, Lynchjustiz und systematischen Rassismus –, sondern verweist auch auf die verschwiegenen Aspekte der Schweizer NS-Vergangenheit und extremistischer Untergrundgruppen. Durch die Inszenierung der Figuren im Roman wird diese Dramatik erfahrbar: Leserinnen und Leser erkennen historische Kontinuitäten und können die Handlungen der Figuren in Beziehung zum realen Wissen und gesellschaftlichen Kontext setzen. Die Fiktion aktiviert vorhandenes Wissen über Gewalt und Rassismus, macht das Tabuisierte sichtbar und verdeutlicht die dringende Notwendigkeit, sich auch dringend mit menschenfeindlichen Ideologien auseinanderzusetzen.

Die Kapuzensache in Die Schrecken der Anderen

Der Vorfall wird im Rahmen von Schibig und Rosas Ermittlungen wichtig, weil die beiden Lars befragen, einen Jungen, der mehrfach ziellos umherlaufend am Ödwilersee gesehen wurde – dem Ort des Leichenfunds. Er ist zudem auch in die Kapuzensache involviert.

„Die Kapuzensache

Abends während der traditionellen Feierlichkeiten, die den Höhepunkt des Karnevals bedeutete, war auf dem Hauptplatz eine Gruppe aufmarschiert, eine gespenstische Erscheinung aus vergangen geglaubten Zeiten, aus den amerikanischen Südstaaten, um genauer zu sein, mit Fackeln und weißen Kutten, darauf ein weißes Kreuz auf rotem Grund, in dessen Zentrum ein Blutstropfen und darunter unmissverständlich die Buchstaben KKK zu sehen waren. Über den Köpfen trugen die Gestalten weiße, spitze Kapuzen – die Gesichtsmasken des Klans mit den schwarzen Augenlöchern. Der Rauch der Fackeln zog zum Himmel. Die Fotografien und Videoaufnahmen des Aufmarschs, die später im Internet zu finden waren, vermittelten eine sonderbare Lähmung unter den Feiernden. Der Auftritt hatte den Effekt eines kollektiven Schicksals, weswegen nur wenige den Mut fanden, einzuschreiten und die Gruppe mit eindringlichen Worten zum Abzug zu verleiten. Die Polizei wollte nicht ausrücken, da gemäß ihrer Angabe keine offene Gewalt im Spiel gewesen sei. Auf medialen Druck hin wird nun doch gegen die Beteiligten ermittelt, und ein Prozess ist nicht auszuschließen, falls es in dieser Sache überhaupt einen Tatbestand vorzuweisen gäbe, wie Juristen lauten ließen. Gewisse politische Stimmen sehen den Vorfall als kindischen Einzelfall und beteuern, dass dieser Scherz zwar geschmacklos ausgefallen sei, aber trotz allem eine Maskerade bleibe, die der hiesigen Narrenzeit entsprungen sei.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 101-102)


Figuren lernen aus literarischen Darstellungen

Der Roman fokussiert sich im Sinne der Frage „Wie zeigt man etwas, das eigentlich längst alle sehen?“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 130) auf die Sichtbarmachung von dem, was alle sehen, worüber aber bisher geschwiegen wurde.

Und an die Handlung in Die Schrecken der Anderen und die Ermittlungsarbeit der Figuren angeknüpft ist die Möglichkeit, dass Leserinnen und Leser aus dem Gelesenen lernen können und Schweigen brechen. So argumentieren auch Rosa und Schibig:

„– Das Aufdecken der Geschichte ist eines,
sagt die Alte.
– Hinschauen, ein Zweites. Aber wir wissen alle, das Schwierigste ist ein Drittes, und zwar daraus zu lernen und entsprechend zu handeln – der Blick in die Zukunft.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 251)

Im Prinzip könnte der Roman im übertragenen Sinne zum MacGuffin werden, der als Katalysator Reaktionen in der Realität forciert, wie Antony McGuffin im Roman.

„Erstens und das wissen Sie schon: Alles ist miteinander verbunden. Und zweitens: Auf Bergpfaden darf man keine Steine hangabwärts werfen, auch keine Kiesel, gar nichts. Sie wissen schon, selbst wenn etwas Winziges in Bewegung gerät, wenn es zufällig auf einen größeren Stein trifft, der dann auf einen Brocken trifft, entsteht ein Zusammenspiel, eine Kettenreaktion.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 174)

Clavadetschers Roman wäre dann ein Stein des Anstoßes für die Sichtbarmachung von Missständen und eine Transformation der Gesellschaft hin zu mehr Menschlichkeit im Miteinander.

Fazit zu Die Schrecken der Anderen von Martina Clavadetscher

Martina Clavadetscher gelingt es in Die Schrecken der Anderen, erzählerische Konstruktion und historische Tiefenschichten so miteinander zu verweben, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, Inhalt und Form, Figur und Funktion immer wieder durchlässig erscheinen. In dieser Doppelbödigkeit liegt die besondere Stärke des Romans: Er führt vor, wie das Erzählen ein Netz knüpft, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Fiktion einander durchdringen, und macht damit sichtbar, dass auch „unliebsame Geschichten“ untrennbar mit unserer Gegenwart verbunden sind.
So zeigt Die Schrecken der Anderen, dass Erzählen nicht bloß Wiedergabe, sondern immer auch ein Akt des Sichtbarmachens und Erinnerns ist – ein literarisches Verfahren, das Leerstellen füllt, verdrängte Wahrheiten freilegt und uns als Lesende auffordert, nicht wegzusehen, sondern die Verbindungen zu erkennen.

Ich schließe den Beitrag mit passenden Worten aus dem Roman:

„Die Stille umarmt sie. Sie tröstet wie gemeinsame Trauer tröstet. Und wie Schibig so sein zerzaustes Gegenüber anschaut, die wilden Locken, die faltige Stirn, ihre freundlichen Augen, so ist er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob diese Geschichte nicht genauso gut auch der Alten widerfahren sein könnte – oder noch umfassender, ob diese Geschichte am Ende nicht jedermanns, jederfraus, jederkinds Geschichte sein könnte. In jedem Land. Und zu jeder Zeit. Weil niemand jemals aus dem Schrecken der anderen lernt.“ (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 182-183)

Weitere Informationen: Können Menschen aus Geschichten anderer lernen?

Ja. Geschichten sind eine der ältesten Formen menschlicher Wissensvermittlung – lange bevor es Bücher, Schulen oder das Internet gab, wurden Erfahrungen, Werte und Warnungen in Form von Erzählungen weitergegeben. Die verschiedenen Gattungen und Genres richtigen sich dabei an verschiedene Alters- und Gesellschaftsgruppen.

Es gibt mehrere Ebenen, auf denen das Lernen geschieht:

  1. Emotionale Ebene
    Geschichten lösen Gefühle aus. Indem man miterlebt, wie jemand anderes scheitert oder Erfolg hat, spürt man Empathie. Diese emotionale Beteiligung verankert Erkenntnisse tiefer, als es reine Fakten könnten.
  2. Identifikation
    In einer Geschichte erkennen wir uns selbst oder unsere Situation wieder. Diese Identifikation macht abstrakte Erfahrungen greifbar und zeigt mögliche Handlungswege.
  3. Soziale Orientierung
    Geschichten transportieren Werte, Normen und kulturelle Muster. Sie geben Orientierung, was in einer Gemeinschaft als richtig oder falsch gilt, und helfen dabei, den eigenen Platz zu finden.
  4. Fehlervermeidung
    Indem man in Geschichten sieht, welche Konsequenzen bestimmte Entscheidungen hatten, kann man selbst klüger handeln, ohne dieselben Fehler machen zu müssen.
  5. Inspiration und Motivation
    Geschichten von Mut, Durchhaltevermögen oder Kreativität können dazu anregen, selbst Neues auszuprobieren oder Schwierigkeiten zu überwinden.

Allerdings: Nicht jeder lernt gleich gut aus Geschichten. Manche Menschen brauchen eigene Erfahrungen, um etwas wirklich zu begreifen. Außerdem hängt es davon ab, wie offen jemand zuhört und ob er bereit ist, aus dem Erzählten Schlüsse für das eigene Leben zu ziehen.

FAQ zu „Die Schrecken der Anderen“ von Martina Clavadetscher

Worum geht es in Die Schrecken der Anderen?

Der Roman beginnt als Krimi: Ein Junge findet beim Schlittschuhlaufen eine Leiche im zugefrorenen Ödwilersee. Polizeiarchivar Schibig wird abkommandiert, die Leiche zu bewachen. Doch was als einfacher Kriminalfall beginnt, entwickelt sich zu einer vielschichtigen Erzählung über Vergangenheitsbewältigung, Fremdenhass und die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Schweiz.

Wer ist Martina Clavadetscher?

Martina Clavadetscher ist eine preisgekrönte Schweizer Autorin und Dramatikerin, die den Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Sie studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie und gilt als eine der renommiertesten deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart.

Warum heißt der Tote McGuffin?

Der Name ist eine bewusste Anspielung auf Alfred Hitchcocks „MacGuffin“ – ein narratives Element, das die Handlung vorantreibt, ohne selbst von zentraler Bedeutung zu sein. McGuffin fungiert als Handlungskatalysator: Sein Fund setzt die gesamte Erzählung in Gang.

Welche erzählerischen Techniken verwendet Clavadetscher?

  • Wechselnde Fokalisierung: Hauptsächlich zwischen Schibig und Kern
  • Metanarrative Elemente: Figuren reflektieren über ihre Rollen im Erzählgefüge
  • Intertextualität: Bezüge zu Goethe („des Pudels Kern“), Hitchcock und anderen
  • Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart: Historische und fiktive Ereignisse greifen ineinander

Was bedeutet die metanarrative Dimension?

Die Figuren sind sich teilweise ihrer Konstruiertheit bewusst. Kern spürt, dass er „festgeschrieben in einem stereotypen Handlungsstrang“ ist. Rosa spricht von „Helden“ und „Helfern“ wie von narrativen Konzepten. Diese Selbstreflexivität macht die künstliche Konstruktion der Erzählung sichtbar.

Welche Rolle spielt der Nationalsozialismus im Roman?

Der Roman behandelt die oft verdrängte Geschichte der NS-Sympathien in der Schweiz. Kerns Familie hat Verbindungen zur NS-Zeit, und unter der Oberfläche der scheinbar neutralen Schweiz brodelt noch immer rechtsextremes Gedankengut.

Wie war die Schweiz tatsächlich in die NS-Zeit verstrickt?

Historisch war die Schweiz komplexer positioniert als das Bild der „neutralen“ Nation suggeriert:

  • Die studentische Neue Front (gegründet 1930, 75 Mitglieder) und die Nationale Front (750 Mitglieder) schlossen sich 1933 zu einem „Kampfbund“ zusammen
  • Rund 2000 Schweizer kämpften freiwillig in der Waffen-SS
  • Die von Bund und Kantonen verfügten Ausweisungen betrafen insgesamt 1504 Nationalsozialisten und 1803 Angehörige
  • „Die Schweiz brach geltendes Neutralitätsrecht, übernahm eine rassistische Gesetzgebung aus Deutschland und blockierte nach dem Krieg lange die Restitution jüdischer Vermögen“

Was war der Bergier-Bericht?

Der Bergier-Bericht war eine umfassende historische Untersuchung der Schweizer Rolle im Zweiten Weltkrieg, die in den 1990er Jahren für heftige Kontroversen sorgte. In der Debatte um das Schulbuch wurden auch Konflikte innerhalb des fünfköpfigen wissenschaftlichen Beirates des Buches öffentlich, was zeigt, wie umstritten die Aufarbeitung bis heute ist.

Was ist die zentrale Botschaft?

Eine zentrale Botschaft in Clavadetschers Die Schrecken der Anderen ist die Dekonstruktion des Duldens als scheinheiligste Form des Verbrechens. Jede und jeder kann sich beim Lesen selbst fragen, wann bei Missständen weggesehen wurde, Gewalt und Diskriminierung geduldet und akzeptiert werden. Der Roman kritisiert die passive Haltung gegenüber Ungerechtigkeit und zeigt, wie wichtig es ist, hinzusehen statt wegzuschauen.

Welche literarische Tradition vertritt Clavadetscher?

Clavadetscher macht unterschwellige gesellschaftliche Strömungen, die vermeintlich zur abgeschlossenen Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar. Zugleich fragt sie nach der Verantwortung der Literatur und der Rolle, die sie bei der Aufklärung und Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Missständen machen kann. Insofern steht sie in der Tradition von Literatur, die gesellschaftliche Probleme thematisiert.

Warum ist der Roman aktuell relevant?

Die Autorin zeigt, wie sich Geschichte wiederholen kann, wenn man nicht aus ihr lernt. In Zeiten erstarkender rechtspopulistischer Bewegungen ist diese Botschaft hochaktuell. Insofern ist in der Handlung auch eine Warnung angelegt, nicht zu Vergessen, was eins geschah und dahinter stehende Mechanismen wie Dulden und Schweigen.

Was macht den Roman literarisch besonders?

Die geschickte Verbindung von Krimi-Plot mit ernsten gesellschaftlichen Themen, die metanarrativen Elemente und die komplexe Figurenzeichnung heben ihn von einfachen Genreromanen ab. Clavadetscher gelingt es, Unterhaltung und gesellschaftliche Reflexion zu verbinden.

Verwendete Literatur

Clavadetscher, Martina: Die Schrecken der Anderen. München 2025.

«Die Schrecken der anderen» von Martina Clavadetscher. SRF News vom 13.07.2025. Tagesschau, online unter: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/die-schrecken-der-anderen-von-martina-clavadetscher?urn=urn:srf:video:f69a8f10-4d90-4caf-bfda-faeed4ba08b7, (zuletzt aufgerufen am 31.08.2025), 21:32-21:52.

Fuxjäger, Anton: Der MacGuffin: Nichts oder doch nicht? Definition und dramaturgische Aspekte eines von Alfred Hitchcock angedeuteten Begriffs. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft 52(2)/2006, S. 123-154.

Kindt, Tom/Köppe, Tilmann: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2022.

Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Die Tragödie Erster Teil. Herausgegeben von Wolf Dieter Hellberg. Stuttgart 2014 (Reclam XL. Text und Kontext. Nr. 19152).

Horn, Katalin: Held, Heldin. In EM 6. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New Yok 1990, Sp. 721-745.

Jannidis, Fotis/Spörl, Uwe/Fischer, Fischer: Vladimir Propp: Morphologie des Märchens 1928. In Literaturwissenschaftliche Begriffe Online, online unter: https://www.li-go.de/_pages/wissensbereiche/prosa/propp.html (zuletzt aufgerufen am 31.08.2025).

Jappe, Lilith; Krämer, Olav; Lampart, Fabian: Einleitung, Wissen, Figurenwissen. In: Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurengestaltung. Hg. von Lilith

Jappe/Olav Krämer und Fabian Lampart. Berlin/Bostin 2012 (linguae & litterae 8), S. 1-35.

Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg 2008.

Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 11., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2019.

Mecklenburg, Michael: Held: In: Metzler Lexikon. Literatur. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. Herausgegeben von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennignhoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 2007, S. 308-307.

Schmid, Wolf: Narrative Motivierung. Von der romanischen Renaissance bis zur russischen Postmoderne. Berlin/Boston 2020 (Narratologia 69).

Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. 2., durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller, Berlin 2015, S. XIV.

Weiterführende Literatur zu erwähnten narratologischen Konzepten:

Vladimir Propp:Morphologie des Märchens (1975)
Joseph Campbell: The Hero with a Thousand Faces (1949)
Deutsch: Der Heros in tausend Gestalten
Gérard Genette: Die Erzählung (1998)
Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans (1979, erste Fassung 1955), online: https://digi20.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb00052419_00001.html
Seymour Chatman: Story and Discourse (1978)
David Herman (Hg.): Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis (1999)
Monika Fludernik: Towards a ‘Natural’ Narratology (1996)

Interdisziplinarität als Anspruch und in Wirklichkeit. Narratologische Institutionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts: https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/77/67


[1] «Die Schrecken der anderen» von Martina Clavadetscher. SRF News vom 13.07.2025. Tagesschau, online unter: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/die-schrecken-der-anderen-von-martina-clavadetscher?urn=urn:srf:video:f69a8f10-4d90-4caf-bfda-faeed4ba08b7, (zuletzt aufgerufen am 31.08.2025), 21:32-21:52. [2] Fuxjäger, Anton: Der MacGuffin: Nichts oder doch nicht? Definition und dramaturgische Aspekte eines von Alfred Hitchcock angedeuteten Begriffs. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft 52(2)/2006, S. 123-154, hier S. 128. [3] Kindt, Tom/Köppe, Tilmann: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2022, S. 98. [4] Jannidis, Fotis/Spörl, Uwe/Fischer, Fischer: Vladimir Propp: Morphologie des Märchens 1928. In Literaturwissenschaftliche Begriffe Online, online unter: https://www.li-go.de/_pages/wissensbereiche/prosa/propp.html (zuletzt aufgerufen am 31.08.2025). [5] Jappe, Lilith; Krämer, Olav; Lampart, Fabian: Einleitung, Wissen, Figurenwissen. In: Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurengestaltung. Hg. von Lilith Jappe/Olav Krämer und Fabian Lampart. Berlin/Bostin 2012 (linguae & litterae 8), S. 1-35, hier S. 1. [6] Ebd., S. 5-6. [7] Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg 2008, S. 147-148. [8] Ebd., S 224. [9] Ebd. [10] Ebd., S. 376. [11] So steht in den Anmerkungen „Weitere historische Begebenheiten, die hier in der Fiktion verwendete wurden:“, woraufhin die im Roman behandelten Themen genannt werden. Dazu zählen zum Beispiel die Deutschen Kolonien der Schweiz, NS-Feiern, Straflager, Spionagetätigkeiten, der Auftritt als Ku-Klux-Klan an der Fasnacht in Schwyz und die anschließende Strafverfolgung und mehr. (Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen, S. 331-332). [12] Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Die Tragödie Erster Teil. Herausgegeben von Wolf Dieter Hellberg. Stuttgart 2014 (Reclam XL. Text und Kontext. Nr. 19152), V. 1323. [13] Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 11., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2019, S. 118. [14] Ebd., S. 118-119. Darüber hinaus ist das mit „Zufällen“ so eine Sache, wie Martínez weiter ausführt: „Ein Ereignis wird nicht etwa deswegen in der Alltagssprache ‹zufällig› genannt, weil es – wie ein Wunder – kausal unmotiviert wäre, sondern weil man sein Zustandekommen in einer gegebenen Situation nicht aufgrund bekannter Regeln vorhersagen konnte; man kann es aber durchaus retrospektiv empirisch-kausal erklären, sobald man den Situationskontext erweitert und die zunächst unbekannten Beweggründe kennengelernt hat. In der Erzählforschung wird die kausale Motivation eines erzählten Geschehens gern als eine unilineare Kausalkette verstanden, in der eine einzelne Ursache ‹notwendig› eine bestimmte Wirkung hervorbringe. Erzählungen stellen jedoch kaum jemals isolierbare Ursache-Wirkungs-Ketten dar, in denen ein einzelnes früheres Ereignis ein späteres notwendig und hinreichend determiniert. Stattdessen beschreiben sie Gemengelagen aus Handlungen und nicht-intendierten Geschehnissen, die insgesamt in Form eines ‹kausalen Feldes› («causal field», Mackie, Cement of the Universe, S. 35) miteinander verflochten sind.“ [15] Ebd. [16] Ebd., S. 122. [17] Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. 2., durchgesehene Auflage. Herausgegeben von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller, Berlin 2015, S. XIV. [18] Ebd., S. 327-332. [19] Schmid, Wolf: Narrative Motivierung. Von der romanischen Renaissance bis zur russischen Postmoderne. Berlin/Boston 2020 (Narratologia 69). S. 6. [20] Horn, Katalin: Held, Heldin. In EM 6. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New Yok 1990, Sp. 721-745, hier Sp 721-722. [21] Ebd., Sp. 721-745. [22] Mecklenburg, Michael: Held: In: Metzler Lexikon. Literatur. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. Herausgegeben von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennignhoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 2007, S. 308-307. [23] «Die Schrecken der anderen» von Martina Clavadetscher, 21:32-21:52.