21. Dezember – Literarischer Adventskalender 2024
Der 2001 veröffentlichte Roman Austerlitz von W.G. Sebald zählt zu den herausragendsten Werken der deutschen Gegenwartsliteratur. Eigentlich hätte an dieser Stelle Dennis Lehanes Shutter Island gestanden, aber durch – nennen wir es technisches Versagen – erschien der Abschnitt schon vor dem heutigen Datum, sodass ich ihn nicht mehr im Adventskalender veröffentliche. Sebald gilt als Meister des fragmentarischen Erzählstils und schafft in diesem Werk eine komplexe Auseinandersetzung mit Erinnerung, Geschichte, Architektur und Identität. Der Roman ist in eine Vielzahl von Erzählsträngen und Perspektiven unterteilt, die sich um die Lebensgeschichte des Protagonisten Jacques Austerlitz drehen.
Ich bin auf Sebald gekommen, nachdem ich mit einer Kollegin über Intertextualität ins Gespräch gekommen bin, weil ich meine Masterarbeit über Intertextualität im Kontext von Rechtstexten um 1500 herum verfasst hatte, sie hat sich in ihrer Abschlussarbeit mit Sebalds Werken auseinandergesetzt. Ich kannte ihn schon vorher, weil ich Schwindel. Gefühle gelesen hatte – und das zu einer Zeit, in der ich selbst von sehr seltsamen Ereignissen heimgesucht wurde, da tat Schwindel. Gefühle sein übriges dazu. Also wie zufällig können Zufälle wirklich sein? Jedenfalls meinte ich dann, man kenne ja Sebald. Und sie sagte daraufhin: Ja, wir kennen ihn, aber sonst kennt ihn kaum jemand. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber Austerlitz von W.G. Sebald bekommt einen Platz in meinem Literarischen Adventskalender 2024.
Austerlitz von W.G. Sebald ist lesenswert, weil …
👉 es eine poetische und tiefgründige Auseinandersetzung mit Erinnerung, Identität und dem Trauma der Geschichte bietet.
👉 einzigartige Verbindung von Prosa, Fotografie und erzählten Erinnerungen eine unvergleichliche intermediale Erfahrung schafft.
👉 es zeigt, wie die Spuren der Vergangenheit das Leben eines Menschen unaufhörlich prägen können und dies an persönlichen Schicksalen gezeigt wird.
👉 die Sprache eine melancholische Schönheit entfaltet, die selbst schwierigste Themen über wohlgeformte Bilder zugänglich macht.
👉 die Lektüre dazu auffordert, über die Mechanismen von Erinnerung, Geschichte und das individuelle und kollektive Gedächtnis nachzudenken und sich mit den langfristigen Auswirkungen von Trauma auseinanderzusetzen.
👉 es eine meisterhafte literarische Erforschung von den Mechanismen des Erinnerns in Angesicht von Verlust, Vergessen und Trauma darstellt.
👉 es Leserinnen und Leser zur Reflektion der Verbindung zwischen Architektur, Erinnerung und Identität sowie dem Schicksal oder Zufälle nachzudenken.
👉 es eine einzigartige Erzählstruktur hat, die Zeit, Raum und erinnerte Gedanken kunstvoll miteinander verwebt.
👉 es die Leserschaft dazu inspiriert, sich den Brüchen und Schatten ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen und sich mit dem eigenen Selbst auseinanderzusetzen.
Verflochtene Erinnerungen und Intertextualität in Sebalds Austerlitz
Intertextualität – die Beziehung von Texten zu anderen Texten – ist eine faszinierende literaturwissenschaftliche, komparatistische und auch interdisziplinäre Methode. Es gibt viele Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Konzept auf vielfache Weise auseinandergesetzt haben. Und gerade die Werke von W.G. Sebald eignen sich zur Erforschung dieser Methodik auf unterschiedlichste Weisen – und sie sind ja auch bereits schon intensiv erforscht worden. Es gibt genug Literatur zu Intertextualitätskonzeptionen in Sebalds Werken. Vielleicht nehme ich so viel schon vor weg. Denn das geniale ist, dass er für die Verästelungen von Erinnerungen, ihrem Verschüttetsein in dunkle Abgründe des Bewusstseins oder dem absichtlichen oder unbewussten Verdrängen, den besonderen Verknüpfungen, die mit verschiedenen und sich überlagernden Sinneseindrücken einhergehen – eben mit allem, was mit Erinnerungen und Identität zusammenhängt (denn Erinnerungen sind an die eigene Identität gebunden, während Erinnerungen an andere Menschen zwar auch an die eigene Identität gebunden sind, aber dennoch nur ein reflexionsartiges Abbild darstellen) Bilder findet. Es sind architektonische Bilder, Bilder von Bauwerken, alten Häusern mit geschlossenen Türen und leeren Fenstern, von zerfallenen Ruinen und verschütteten Gängen, es sind Wege durch Museen und Trödelläden mit Tand und Kram oder als Informations- und Erinnerungsspeicher (wenngleich vorsortiert) dienende Bibliotheken, Wege durch Landschaften. Es sind aber auch Spaziergänge durch Labyrinthe und Städte mit ihren kleinen Gassen und verwinkelten Plätzen, es sind schnellere Fahrten mit Bussen durch vorgezeichnete Linien von Fahrplänen, es sind Zugfahren auf Schienen durch verschiedene Landschaften, die mal dichte und uneinblickbare Wälder bilden, dann wieder grüne gut einsehbare Täler. Wenn er dann von dem aufreißenden Himmel und freundlichen Sonnenflecken schreibt, dann war mir, als öffne sich der Vorhang verdeckter Erinnerung in diesen Momenten. Man kommt beim Lesen nicht drum herum, sich selbst zu fragen: Was sind meine verschütteten Gänge? In welchen Räumen habe ich ein Frösteln verspürt und wusste nicht, warum? Warum fühle ich mich an manchen Orten so wohl? Warum kommt es mir so vor, als würde ich diese Person kennen? Was will ich mir warum nicht ansehen – warum ist das Hinsehen bei manchen Dingen so schwierig und steckt Schmerz dahinter oder Angst?
Ein Einblick in das erinnerungsvernetzte Denken Sebalds am Beispiel eines Zitats aus Austerlitz
Jedenfalls ist Austerlitz mit seinem schlangenringelnden Satzbau auf der schicksalshaften und vom scheinbaren Zufall gelenkten Suche nach Identität, Wissen, Wahrheit und dem eigenen Ich nicht nur Therapie für die Figuren, sondern kann vielleicht sinnstiftende Anstöße für Leserinnen und Leser liefern. Hier eine Auswahl zu treffen, war sehr schwierig, weil alles für sich einzigartig passend gewesen wäre. Im Buch sind passend zu den erzählten Gegebenheiten schwarz-weiß Fotos vorhanden, dazu eine kurze Passage.
In der Hauptsache hat mich von Anfang an die Form und Verschlossenheit der Dinge beschäftigt, der Schwung eines Stiegengeländers, die Kehlung an einem steinernen Torbogen, die unbegreiflich genaue Verwirrung der Halme in einem verdorrten Büschel Gras. Hunderte solcher Aufnahmen hab ich in Stower Grange meist in quadratischen Formaten abgezogen, wohingegen es mir immer unstatthaft schien, den Sucher der Kamera auf einzelne Personen zu richten. Besonders in den Bann gezogen hat mich bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht, genau wie Erinnerungen, sagte Austerlitz, die ja auch inmitten der Nacht in uns auftauchen und die sich dem, der sie festhalten will, schnell wieder verdunkeln, nicht anders als ein photographischer Abzug, den man zu lang im Entwicklungsbad liegenläßt.
W.G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt am Main 2003, S. 116-117.
Informationen zum Autor W.G. Sebald
W.G. Sebald (1944–2001) war ein deutscher Schriftsteller und ist für seine einzigartigen, genreübergreifenden Werke bekannt. Geboren wurde er im bayerischen Wertach, allerdings ließ er sich nach dem Studium der Germanistik und Anglistik in England nieder, wo er als Hochschullehrer an der University of East Anglia tätig war. Sebalds Schreiben verbindet Literatur, Erinnerungsmotiv, Architektur und Wissen aus dem kollektiven Gedächtnis mit individuellen Erinnerungen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Die Ausgewanderten und Die Ringe des Saturn. Diese Bücher behandeln Themen wie Verlust, Identität, Vergänglichkeit und die Folgen des Zweiten Weltkriegs, insbesondere die Holocaust-Erinnerung, die auch in Austerlitz thematisiert werden. Sebalds Texte sind oft mit Fotografien und Dokumenten angereichert, was nicht nur eine einzigartige Ästhetik untermalt, sondern auch die im Text behandelten Aspekte aus einer intermedialen Perspektive heraus stützt. So bilden die Fotografien das im Text erzählte ab und stehen zudem auch für die Momentaufnahme der vergangenen Realität – einem Stück in der Zeit gefrorenen Lebens. Der Schreibstil ist einzigartig und wird oft als melancholisch und introspektiv beschrieben. Seine Werke sind reich an historischen und literarischen Referenzen, und er verwebt Fiktion mit Realität auf eine Weise, die das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart hinterfragt. Er gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts und hat zahlreiche Preise gewonnen wie zum Beispiel den Heinrich-Böll-Preis oder den Joseph-Breitbach-Preis.
Worum geht es in W.G. Sebalds Austerlitz – kleine Zusammenfassung
Der Roman beginnt mit einem Ich-Erzähler, der im Jahr 1960 den Historiker Jacques Austerlitz in Brüssel trifft. Austerlitz lebt ein Leben als angesehener Professor für Architektur, doch sein Leben ist von einer schmerzhaften Unvollständigkeit geprägt. Ihm fehlen seine frühesten Erinnerungen, er weiß nicht, wer seine Eltern sind, da er bei einer Pflegefamilie aufgewachsen ist und fühlt sich entwurzelt und nirgends zugehörig. Austerlitz beginnt seine Erzählung über die Suche nach seiner Identität im Gespräch mit dem Erzähler, sodass auch die Leserschaft immer mehr über seine von Verlust, Trauma und der Suche nach seiner Identität erfährt. Er begibt sich auf die Suche. Dabei wird er geführt von zufällig erscheinenden Begegnungen und einer Reihe von Erinnerungsfragmenten. Durch die Erkundung seines eigenen Lebens, sowie durch intensive Gespräche mit dem Erzähler, gelingt es Austerlitz, das vollständige Ausmaß seiner Vergangenheit zu rekonstruieren, die verbunden ist mit historischen Gräueln des Nationalsozialismus. Im Laufe des Romans kommen immer mehr düstere Wahrheiten ans Licht: Austerlitz erfährt, dass seine Eltern in Konzentrationslagern ums Leben kamen. Die Geschichte seiner Herkunft auf der Suche nach den Erinnerungen seiner Kindheit und seiner Identität führt ihn auf eine Reise an historische Orte wie die Prager Gedenkstätten, die Stationen der Zwangsarbeit und die Erinnerungen an den Holocaust, aber auch an Bahnhöfe, Bibliotheken und öffentliche Gärten. Sein individuelles Schicksal ist verbunden mit dem Kollektiv – alles hängt zusammen. Es geht somit auch um die Frage, ob das Kennen der Wahrheit tatsächlich befreiend wirkt oder ob gerade das Wissen um die Wahrheit noch zerstörerischer sein kann als Unwissenheit.
Ein kleiner Vorgeschmack aus Sebalds Austerlitz
Manchmal, wenn draußen über der Stadt die Wolkendecke aufriß, schossen einzelne gebündelte Strahlen in den Wartesaal herein, die aber meist auf halbem Weg schon erloschen. Andere Strahlen wieder beschrieben merkwürdige, gegen die Gesetze der Physik verstoßende Bahnen, gingen von der geraden Linie ab und drehten sich in Spiralen und Wirbeln um sich selber, ehe sie verschluckt wurden von den schwankenden Schatten. Kaum einen Lidschlag lang sah ich zwischendurch riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, die in die äußerste Ferne führten, Gewölbe und gemauerte Bogen, die Stockwerke über Stockwerke trugen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer weiter hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, so dachte ich mir, sagte Austerlitz, die einen Ausweg suchten aus diesem Verlies, und je länger ich, den Kopf schmerzhaft zurückgezwungen, in die Höhe hinaufstarrte, desto mehr kam es mir vor, als dehnte sich der Innenraum, in welchem ich mich befand, als setzte er in der unwahrscheinlichsten perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort und beugte sich zugleich, wie das nur in einem derartigen falschen Universum möglich war, in sich selber zurück. Einmal glaubte ich, sehr weit droben, eine durchbrochene Kuppel zu sehen, an deren Rändern auf einer Brüstung Farne wuchsen und junge Baumweiden und anderes Gehölz, in das Reiher große, unordentliche Nester gebaut hatten, und ich sah sie ihre Schwingen ausbreiten und davonfliegen durch die blaue Luft. Ich entsinne mich, sagte Austerlitz, daß mitten in die dieser Gefängnis- und Befreiungsvision die Frage mich quälte, ob ich in das Innere einer Ruine oder in das eines erst im Entstehen begriffenen Rohbaus geraten war. In gewisser Hinsicht ist ja damals, als in der Liverpool Street der neue Bahnhof förmlich aus dem Bruchwerk des alten herauswuchs, beides richtig gewesen, und das Entscheidende lag auch gar nicht in der im Grunde mich nur ablenkenden Frage, sondern in den Erinnerungsfetzen, die durch die Außenbezirke meines Bewußtseins zu treiben begannen; Bilder wie jenes zum Beispiel von einem Nachmittag spät im November des Jahres 1968, als ich mit Marie de Verneuil, die ich aus meiner Pariser Zeit kannte und von der ich noch mehr werde erzählen müssen, in dem Schiff der wunderbaren, auf weiter Flur allein sich erhebenden Kirche von Salle in Norfolk gestanden bin und die Worte nicht hereinbrachte, die ich ihr hätte sagen sollen. Draußen war der weiße Nebel aus den Wiesen gestiegen, und stumm sahen wir beide zu, wie er langsam nun über die Schwelle des Portals kroch, ein niedrig sich fortwälzendes, kräuselndes Gewölk, das nach und nach über den ganzen Steinboden sich ausbreitete, immer dichter und dichter wurde und zusehends höher stieg, bis wir nurmehr zur Hälfte aus ihm herausragten und fürchten mußten, es könnte uns bald den Atem nehmen. Erinnerungen wie diese waren es, die mich ankamen in dem aufgelassenen Ladies Waiting Room des Bahnhofs von Liverpool Street, Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende Dinge verbargen, immer das eine im andern, verschachtelt, gerade so wie die labyrinthischen Gewölbe, die ich in dem staubgrauen Licht zu erkennen glaubte, sich fortsetzten in unendlicher Folge. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, alle meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit. […] Ich entsinne mich nur, daß mir, indem ich den Knaben auf der Bank sitzen sah, durch eine dumpfe Benommenheit hindurch die Zerstörung bewußt wurde, die das Verlassensein in mir angerichtet hatte im Verlauf der vielen vergangenen Jahre, und daß mich eine furchtbare Müdigkeit überkam bei dem Gedanken, nie wirklich am Leben gewesen zu sein oder jetzt erst geboren zu werden, gewissermaßen am Vortag meines Todes. […] Und gewiß wären die von mir in kurzer Frist ganz vergessenen Wörter mit allem, was zu ihnen gehörte, im Abgrund meines Gedächtnisses verschüttet geblieben, wenn ich nicht aufgrund einer Verknüpfung verschiedener Umstände an jenem Sonntagmorgen den alten Wartesaal in der Liverpool Station betreten hätte, ein paar Wochen höchstens ehe er im Zuge der Umbauarbeiten für immer verschwand.
W.G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt am Main 2003, S. 197-203.
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