5. Dezember – Literarischer Weihnachtskalender 2024
Hinter Tür Nummer 5 verbirgt sich die Studie Eugenische Phantasmen von Dagmar Herzog. Die Weihnachtszeit wird allgemein als eine Zeit der Besinnung und Nächstenliebe bezeichnet. Dagmar Herzogs Eugenische Phantasmen scheint auf den ersten Blick für einen Adventskalender unpassend, doch ist es ein derartig wichtiges Buch, dass ich es hier vorstellen möchte. Die Studie der US-Historikerin befasst sich mit der Geschichte und den Auswirkungen der Eugenik im 20. Jahrhundert insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus. Es beleuchtet, wie eugenische Ideen nicht nur in der NS-Zeit, sondern auch in demokratischen Gesellschaften verbreitet und angewandt wurden. Darüber hinaus wird die Rolle von Sexualität, Reproduktion und gesellschaftlichen Normen in diesem Zusammenhang untersucht. Das ist kein angenehmes Thema. Es ist aber ein Thema, das uns alle irgendwie betrifft, um das wir, die einen mehr, die anderen weniger, nicht herumkommen.
Die blinden Flecken deutscher Vergangenheit
Gerade hinsichtlich der Euthanasie-Thematik gibt es in Deutschland noch so viele Leerstellen. Alle sind dazu aufgefordert, sich mit blinden Flecken der eigenen Vergangenheit – und auch der Gegenwart – auseinanderzusetzen. Vielleicht wird es Stimmen geben, die fragen, warum ich so ein Buch zur Weihnachtszeit empfehle. Nicht Aufgearbeitetes und Verdrängtes, die blinden Flecken unserer Vorfahren haben nun einmal die Angewohnheit eben nicht schön zu sein! Und gerade zur Weihnachtszeit, dieser besinnlichen Zeit, in denen uns Gemeinschaft suggeriert wird und Zusammenhalt und Liebe, da wird es Zeit, sich mit Unangenehmem auseinanderzusetzen, es anzunehmen, es anzusehen, hinzusehen. Klarheit. Inklusion, das ist ein oft genanntes Thema in diesen Tagen, doch wie inklusiv, doch wie sieht es wirklich aus? Dürfen wirklich ALLE mitmachen? Womit könnte unsere rückständige Inklusionspolitik in verschiedenen Gesellschaftsbereichen zusammenhängen? Was hat Darwins Evolutionstheorie nach dem Prinzip Survival of the Fittest mit der Unterteilung von Menschen in wertes und unwertes Leben zu tun? Warum ist das Thema immer noch und gerade in Zeiten wie diesen dringlich und wichtig? Einige Antworten liefert diese umfassende und erkenntnisreiche Studie von Dagmar Herzog. Grundlegende Informationen bietet auch die Recherche Euthanasie im NS-Staat: Die Vernichtung lebensunwerten Lebens des Journalisten Ernst Klee.
Du solltest Eugenische Phantasmen von Dagmar Herzog lesen, weil …
👉 es die ideologischen Verflechtungen von Eugenik und Sexualität historisch fundiert beleuchtet.
👉 es zeigt, wie wissenschaftliche Theorien politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert wurden.
👉 Dagmar Herzog eindrucksvoll darlegt, wie Psychologie und Eugenik wechselseitig beeinflusst wurden.
👉 das Buch die Nachwirkungen dieser Diskurse in der Gegenwart kritisch hinterfragt.
👉 es einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Verbindung zwischen Wissenschaft und Machtstrukturen leistet.
Wen das Thema interessiert, der kann sich auch die Adorno-Vorlesungen von 2021 auf Youtube ansehen. Ich stelle hier den ersten Teil der Aufzeichnung des Instituts für Sozialforschung ein.
Dagmar Herzog über ihre Studie und Untersuchung
In diesem Buch untersuche ich also die Entwicklung historischer Debatten über den Wert des Lebens behinderter Menschen. Eines meiner Schlüsselargumente ist, dass dieses Thema für die Geschichte der Medizin und Psychiatrie, der Theologie und Religion, der Wohlfahrt und Pädagogik, aber auch für die des Kapitalismus und der Arbeit sowie der Sexualität und Fortpflanzung relevant ist. Jedes Kapitel zeichnet weniger einen Paradigmenwechsel als vielmehr einen Paradigmenkampf nach: einen Konflikt über den Interpretationsrahmen für Fakten und die aus solchen Interpretationen zu ziehenden Konsequenzen. In dem sie darüber stritten, wie sie über ihre Mitmenschen mit einer großen Bandbreite geistiger Behinderungen und psychischer Erkrankungen denken, was sie ihnen gegenüber empfinden und welchen Umgang mit ihnen sie an den Tag legen sollten, arbeiteten die Deutschen in den letzten eineinhalb Jahrhunderten sehr viel über ihr Selbstverständnis als Nation heraus.
Herzog, Dagmar: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2021. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Berlin 2024, S. 24-25.
Ja – das ist hart zu lesen – unser Selbstverständnis als Nation. Dagmar Herzog kann „ihr“ schreiben, sie lebt in den USA. Gerade der Blick von außen kann heilsam, wenn auch schmerzhaft sein. Und Heilung beginnt mit dem Hinschauen, dem Annehmen, der Akzeptanz, der Übernahme von Verantwortung und der Reflexion über eigenes Handeln. Darum ist die Studie meines Erachtens so wichtig.
Inhalt der Studie Eugenische Phantasmen von Dagmar Herzog
Dagmar Herzog zeigt in Eugenische Phantasmen die tiefe Verwurzelung eugenischer Ideologien in der Geschichte Deutschlands und wie sie bis heute in medizinischen und sozialen Diskursen nachhallen. Ihre Studien erinnert daran, wie flüssig und leicht sich wissenschaftliche Theorien für die gesellschaftliche Diskriminierung und politische Zwecke instrumentalisieren lassen. Eine kritische Reflexion ist hinsichtlich der im Buch angesprochenen Thematik hinsichtlich Geburtenkontrolle, Frühvorsorge und Abtreibung relevant und im Diskurs über die Beziehung zwischen Wissenschaft, Macht und Ethik essenziell. Dagmar Herzog untersucht insbesondere im deutschen Kontext die Rolle der Eugenik in der Sexual- und Familienpolitik des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt, wie eugenische Ideen nicht isoliert in der Rassenpolitik, sondern tief in Sexualmoral, Gendernormen und gesellschaftliche Vorstellungen eingebettet waren.
Zu zentralen Inhalten Dagmar Herzogs Eugenische Phantasmen zählen:
Verknüpfung von Sexualpolitik und Eugenik
Analysiert wird, wie Eugenik über biologische Fragen hinausging und sich mit Themen wie Geburtenkontrolle, Abtreibung und Sexualaufklärung vermischte.
Fortwirken eugenischer Ideen nach 1945
Die Autorin zeigt, dass eugenische Denkweisen nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus verschwanden. Sie fanden in subtileren Formen, etwa in der Medizin und Familienplanung, weiterhin Anwendung. Sie sind auch heute noch in gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen sichtbar.
Ambivalenzen der Sexualreformbewegung
Herzog untersucht, wie die Sexualreformbewegung der Weimarer Republik einerseits progressive Ziele wie Geburtenkontrolle und Frauenrechte verfolgte, andererseits aber auch eugenische Ziele unterstützte.
Kulturelle Phantasmen und soziale Kontrolle
Der Begriff »Phantasmen« im Titel zielt darauf ab, die Eugenik nicht nur als wissenschaftliches, sondern auch als kulturelles und ideologisches Phänomen verstanden zu sehen.
Definition des Begriffs »Eugenik«
Eugenik ist eine Theorie und Praxis, die darauf abzielt, die genetische Qualität einer Bevölkerung zu verbessern. Sie entstand im 19. Jahrhundert, inspiriert von den evolutionstheoretischen Erkenntnissen Charles Darwins, und beinhaltete Maßnahmen wie die Förderung von Fortpflanzung bei als erbgesund definierten Menschen (positive Eugenik) und die Verhinderung von Fortpflanzung bei als minderwertig angesehenen Gruppen (negative Eugenik). Die Eugenik wurde als wissenschaftliche Grundlage zur Rechtfertigung sozialer Hierarchien genutzt und diente insbesondere während des Nationalsozialismus zur Legitimation von Zwangssterilisationen und Euthanasieprogrammen.
Man muss sich einmal vor Augen führen, welche Menschen zur der als minderwertig bezeichneten Gruppe angehörten:
- Ethnische und rassische Minderheiten
- Menschen mit Behinderungen:
- Sozial und wirtschaftlich Benachteiligte:
- Menschen mit psychischen Erkrankungen
- Menschen mit unkonventionellen Lebensweisen:
- Kriminelle oder als kriminell angesehene Menschen
Binding und Hoche und die Verbindung zur Eugenik
Im Zusammenhang mit der Eugenik als Wissenschaft und Praxis, mit der die genetische Zusammensetzung einer Bevölkerung optimiert werden sollte, ist das 1920 veröffentlichte Werk des Psychiaters Alfred Hoche und dem Juristen Karl Binding zu lesen. In Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens argumentierten sie für die gezielte Tötung von Menschen, die sie als »lebensunwert« betrachteten. Dazu zählten Schwerstbehinderte oder psychisch Kranke. Die Thesen von Binding und Hoche lieferten eine pseudowissenschaftliche Grundlage für die systematisch organisierten Krankenmorde im Nationalsozialismus. In Propagandakreisen wurde auch von Erlösung durch Euthanasie gesprochen, um den Mord als moralische Tat zu rechtfertigen und wirtschaftlich als legitim dazustellen. Die Umsetzung der Thesen war ein Beispiel für den Missbrauch von wissenschaftlicher Autorität zur Durchsetzung von menschenverachtenden Ideologien.
Verbindung von Eugenik, Binding/Hoche und Nationalsozialismus
Herzogs Arbeit zeigt, wie die Argumente von Binding und Hoche eine intellektuelle Grundlage für den nationalsozialistischen Eugenik- und Vernichtungsterror bildeten. Sie macht deutlich, dass Eugenik keine isolierte Ideologie des Nationalsozialismus war, sondern aus einem breiteren, bereits etablierten Diskurs erwuchs, der Wissenschaft, Politik und Gesellschaft durchdrang.
Durch die Analyse dieser Verbindungen trägt Eugenische Phantasmen dazu bei, die historische Tiefe und die Nachwirkungen eugenischer Ideen zu verstehen, die bis heute in Diskussionen über Reproduktionsmedizin und genetische Optimierung relevant sind.
Zur dringlichen Aktualität hinsichtlich der Thematik des werten und unwerten Lebens möchte ich auf eine Statista-Umfrage von 2023 verweisen: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/165216/umfrage/rechtsextreme-einstellungen-in-deutschland/
Zur Autorin Dagmar Herzog
Dagmar Herzog ist eine renommierte Historikerin, die sich auf die Geschichte der Sexualität, Psychoanalyse, Religion und Politik spezialisiert hat. Sie wurde 1961 geboren und lehrt an der City University of New York (CUNY). Herzog hat sich insbesondere mit der Verbindung von Wissenschaft, Ideologie und sozialen Bewegungen beschäftigt und ist bekannt für ihre Arbeiten zur Geschichte der Psychologie und der Sexualpolitik im 20. Jahrhundert, insbesondere in Europa. Ihre Forschung beleuchtet oft, wie historische und kulturelle Kontexte wissenschaftliche und gesellschaftliche Vorstellungen von Sexualität und Körperlichkeit geprägt haben. Einige ihrer bekannten Werke, wie Eugenische Phantasmen, analysieren kritisch, wie Wissenschaft und Politik miteinander verflochten waren, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus.
Ein Auszug aus der Einleitung von Eugenische Phantasmen von Dagmar Herzog
Die Wechselbeziehungen zwischen »Euthanasie« und Holocaust hervorzuheben, so asymmetrisch ihr Ausmaß auch war und obwohl die Zusammenhänge anfangs eher intuitiv als anhand tatsächlicher Verknüpfungen erfasst wurden, erfüllte in Deutschland in den Jahren und das Ende des Kalten Krieges jedoch weitere wichtige Funktionen. Dazu gehörte nicht zuletzt die unerlässliche Unterstützung, die solche Hinweise boten, um das – so lange zurückgewiesene – generelle Anliegen der Behindertenrechte voranzubringen. Denn in Bezug auf die Misshandlung und Ermordung von Menschen mit Behinderung hatte ein den Nachkriegsjahrzehnten eine (rückblickend schlicht erschütternde) breite öffentliche Unterstützung für die Täter gegeben, wohingegen die Opfer und ihre Familien weiterhin geschmäht wurden.
Zwischen Erinnerungspolitik, Pflegepraxis und den Einstellungen der breiten Öffentlichkeit gab es komplexe Überschneidungen, aber Fortschritte an allen Fronten erfolgten nur quälend langsam, und Bemühungen, Menschen mit Behinderung als gleichberechtig und Respekt verdienend anzuerkennen, stießen auf heftigen Widerstand. Nicht nur ehemalige Nazis mit ihrer unermüdlichen Findigkeit, die unmittelbare Vergangenheit umzuschreiben, sondern auch Nichtnazis und Nazigegner hatten erhebliche Schwierigkeiten sich dem zu stellen, was geschehen war. Nur weniger der an den Verbrechen beteiligten Ärzte wurden je zur Rechenschaft gezogen, vielmehr macht sie in der Nachkriegszeit brillante Karrieren und fungierten häufig weiterhin als Experten, die zu unzähligen Fragen rund um den Themenkomplex Behinderung ihr Urteil abgaben. Nach wie vor grassierten Vorurteile und Verachtung. Bis weit in die Nachkriegszeit hinein wurden Personen mit allen möglichen – körperlichen, geistigen und psychischen – Beeinträchtigungen ganz offensichtlich nicht als Menschen im vollen Sinn angesehen, und ihr Leben, ihr Körper und ihre Seele galten als weniger wertvoll als die Leben, Köper und Seelen ihrer Mitmenschen ohne Beeinträchtigungen.
[…]
Es dauerte bis in die 1980er und 1990er Jahre, bis nicht nur die »Euthanasie«-Morde als Massenmord ernst genommen wurden, sondern auch die annährend 400000 »eugenischen« Zwangssterilisationen – die meisten vorgenommen an Personen, die man als »schwachsinnig« bezeichnete – überhaupt als Unrecht offiziell anerkannt wurden und man den Zigtausenden (oft zutiefst traumatisierten) Überlebenden auch nur ein beleidigend geringes Maß an Anerkennung und Entschädigung zugestand. Erst nach der Wiedervereinigung wurde Mitte der 1990er Jahre der Zusatz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf, in das deutsche Grundgesetz aufgenommen. Nahezu ebenso lang dauerte es, bis sich eine neue, wenn auch fragile Vereinbarung durchsetzte, auch Personen mit schwersten Beeinträchtigungen als gleichberechtigt anzusehen, mit allem, was ein derartig verändertes Verständnis für die erforderlichen Finanz- und Infrastrukturinvestitionen in das Bildungswesen und die Wohlfahrtspflege auf allen Ebenen nach und sich ziehen sollte. Und er ist im 21. Jahrhundert wurde die Anerkennung aller Verbrechen an Menschen mit Behinderung umfassender in staatliche Erklärungen, Gesetze und die nationale Erinnerungskultur einbezogen. Die Eugenik zu verlernen, erwies sich als ungemein langwieriger postfaschistischer Prozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Das Ringen mit um würdevoller, respektvolle Behandlungen im Alltag einschließlich qualitativ hochwertiger pädagogischer und unterstützender Dienste, aber auch um das Rech, »draußen« sichtbar zu sein und an allen Aspekten des Gemeinschaftslebens umfassend teilzuhaben, geht weiter.
Aus: Herzog, Dagmar: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2021. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Berlin 2024, S. 9-10.
Bildquellen
- Eugenische-Phantasmen: Suhrkamp