Tür 7 – Ulrike Draesner mit zu lieben

7. Dezember – Literarischer Adventskalender 2024

Tada – hinter dieser Tür verbirgt sich zu lieben von Ulrike Draesner. Die 1962 in München geborene Autorin gehört zu den kraftvollsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur; ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet und übersetzt, zudem ist sie „Grenzgängerin zwischen den Genres, zwischen Fiktion und Wissenschaft, Okzident und Orient“[1]. Romane, Gedichte, Erzählungen, Übersetzungen, Essays, intermediale Projekte und mehr – Ulrike Draesner ist in allen Genres und damit in allen Epochen zu Hause. Und ihr aktuelles Werk zu lieben ist wohl ihr persönlichstes. Darum ist auf dem Titel auch der Begriff Roman durchgestrichen. Es sind bedeutungsvolle Erinnerungen, die eine wahre Geschichte erzählen inmitten gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher, alltäglicher Erfahrungen, die uns alle betreffen, die wir alle kennen, in denen wir uns gerade aufgrund dessen wiedererkennen können und darum auch mitfühlen können.

Ulrike Draesner zu lieben

Worum geht es in zu lieben von Ulrike Draesner?

Vor allem geht es – wie der Titel schon sagt – um Liebe, und zwar um die Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Das ist die Essenz, der Kern, die Basis. Und drumherum wird vom Leben um diese Liebe erzählt. Von Adoptionsverfahren, Todgeburten, Kinderwunsch, literarischem Schaffen, Elternschaft, Trennungen, Gemeinsamkeiten und Differenzen, Rechtssystemen, Bürokratie, Trauer, Bangen, Hoffnung, Begegnungen, Fremdheit, Familie, von Liebe. Die kurzen Kapitel könnten auch für sich alleine stehen, sind anekdotische Zeugnisse für Erinnerungen, die festhalten, was wichtig ist – denn wer würde Unwichtiges festhalten? – sind auch Erweiterungen dieses Wichtigen, weil vielleicht Wichtiges gefehlt hat.

Was macht Ulrike Draesners zu lieben lesenswert?

Zu lieben von Ulrike Draesner ist ein eindringlicher Roman, der die Fragilität und Intensität menschlicher Beziehungen beleuchtet. Mit poetischer Sprache und psychologischer Tiefe lädt Draesner dazu ein, über Liebe, Verlust und die komplexen Verflechtungen des Lebens nachzudenken. Dieses Buch ist perfekt für alle, die literarische Werke schätzen, die Kopf und Herz gleichermaßen ansprechen.

Eckdaten zur Autorin Ulrike Draesner

„Die gegenwärtige Lebenswelt und ihre Wahrnehmung durch das Individuum stehen im Zentrum von Ulrike Draesners Gedichten, die körperliches und geistiges Empfinden sprachreflexiv verarbeiten.“[2] So heißt es im Kindler Literatur Lexikon. Dabei ist ihr wichtig, auch das, worüber nicht gesprochen wird, zu thematisierten und in Sprache umzuwandeln:  »Ich schreibe, um hörbar zu machen, in Sprache zu übersetzen, was gemeinhin nicht gesprochen wird, nicht sprechbar scheint.«[3] So lautet das Zitat, das auf ihrer Webseite zu finden ist. Bekannte Werke sind neben vielen anderen Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014), Eine Frau wird älter. Ein Aufbruch (2018), Schwitters (2020) oder Die Verwandelten (2023). Hervorheben möchte ich die Übersetzungen Averno und Wilde Iris der US-amerikanischen Nobelpreisträgerin Louise Glück. Interessant ist, zumindest meine ich das zu sehen, dass die Reflexion mit dem Schreiben, der Schreibhandlung und der damit einhergehenden schlaglichtartigen Erinnerungsthematik einher geht immer irgendwie mitschwingt; das ist aber möglicherweise auch immer so. Jedenfalls ist dies auch in zu lieben der Fall, wie folgendes Zitat zeigt.

Hunter sagt, dass ich unsere Geschichte nicht aufschreiben kann, dass niemand das kann, weil immer etwas verloren geht.
Ich schreibe es auf, etwas geht verloren und etwas anderes erscheint, vielleicht weiß Hunter das nicht, das täte mir leid für ihn, aber das Kind ist auch erschienen und die Liebe zu ihm.
Draesner, Ulrike: zu lieben. München 2024, S. 163.

Was macht Zu lieben von Ulrike Draesner so einzigartig?

Bei Ulrike Draesner liest man nicht einfach nur fiebernd und erwartungsvoll mit, sondern man lernt auch unheimlich viel, was so zwischen den Zeilen an Wissen aus eigenem Erfahrungsschatz oder in passender Weise neben den autofiktionalen bzw. biografischen Elementen mit angeboten wird. Und Wissen mittels Poesie neben bekannten Wahrheiten und individuellen Erlebnisse zu vermitteln, das ist wunderbar.

Serendipity – Sri Lanka – Schicksal in zu lieben von Ulrike Draesner

Serendipity ist eines meiner Lieblingswörter. Es ist so schön rund, voll, und glänzt, es schmeckt nach Glück, nach Zukunft. Und es kommt auch in Ulrike Draesners zu lieben vor. Serendipität bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch das Stolpern über eine Sache, nach der man nicht gesucht hat – die aber ein Problem auf überraschende Weise löst. Dafür kommt es auch darauf an, dass man empfänglich für zufällige Beobachtungen, Begegnungen und Verbindungen ist. Aber – und das ruft Ulrike Draesner in ihrem Werk in Verbindung mit dem Herkunftsland ihrer Tochter auf – gibt es weitere Bedeutungsebenen. Dazu die passende Textpassage.
Alles war klein und vorzüglich sauber, nachhaltig zudem, die Fruchtschalen wurden weiterverfüttert, die Angestellten nahmen verformte Teilchen mit nach Hause, zu ihren Familien, Ingwer, Zimt, Kardamon wurden den Hörnchen großzügig zugesetzt […]. Bereits nach dem zweiten Löffelchen warmklebriger Paste konnte ich nicht mehr. Er sah mein Gesicht, grinste und sagte: seren-gurgel-ity-ekke-
Ich verstand – wie soll ich sagen – Zuckertopf. […]
Serendipity-ekke also? Höflich versuchte ich, so großzügig zu lächeln wie der Junge. Zurück in Heidis Wohnzimmer schlug ich in Sri Lanka and ist History nach, einem abgegriffenen Inselband, während wir auf das Abendessen warteten. […]
Ptolemäus ließ es auf seiner berühmten Karte als Gewürz-Eiland und Gesamtindien unter dem asiatischen Kontinent schwimmen. Ekke wurde angehängt, um »eines« zu bedeuten. Das englische »serendipity« hingegen verdankte sich, so das Buch, dem persischen Namen für den Zimtbaum, »silan« oder »sarandib«. Sprachen-Mischmasch rundum, angeblich begleitet von entspanntem Wohlbefinden in sublimer Bergeshöhe. Teeblatt, Weitung der Poren. Liebe.
Draesner, Ulrike: zu lieben. München 2024, S. 137-138.

Interessant ist, dass damit gerade in Ulrike Draesners Werk über dieses Wort verschiedene Bedeutungsebenen aufgemacht werden können. Serendipity bedeutet also ursprünglich Sri Lanka, es steht für das Land, in dem Mary, die Tochter der Erzählerin, geboren wurde. Serendib ist der alte Name für Sri Lanka, aus dem später Serendip wurde. Die Bedeutung hat sich aber gerade im Westen gewandelt, wie ich ja gerade schon aufgezeigt habe. Es gibt da auch diese Anekdote +über die drei Prinzen von Serendip aus einem alten persischen Märchen. In der Geschichte machen die Prinzen während ihrer Reisen fortwährend glückliche Entdeckungen, indem sie aufmerksam und scharfsinnig die Welt um sich herum beobachten. Der englische Begriff »Serendipity« geht auf den englischen Schriftsteller Horace Walpole zurück, der ihn 1754 in einem Brief prägte und sich von dem besagten Märchen inspirieren ließ. So trägt der Begriff »Serendipity« indirekt den kulturellen und geografischen Bezug zu Sri Lanka in sich. Die Verbindung zeigt, wie sprachliche und kulturelle Einflüsse sich über Jahrhunderte in der westlichen Welt niedergeschlagen haben, oft durch die Faszination für exotische Erzählungen.

Über den Begriff »Serendipity« werden in zu lieben also Bedeutungsebenen von individueller Herkunft und Zusammenkunft über die geglückte Adoption und die dorthin führenden Umstände gemacht. Dazu noch ein weiterer Auszug aus dem gleichnamigen Kapitel, in dem Herkunft thematisiert wird:

Wir haben begriffen, sage ich, dass diese Welt, allemal die Welt der Nähe, komplizierter ist, als wir sie uns einst träumen wollen. Wir haben begriffen, dass sie Elemente enthält, von denen wir nichts wissen und für die wir keine Wörter haben. Wir haben begriffen, dass diese Elemente oder Dinge oder Verbindungen wirklich sind, auch wenn wir sie kaum zu fassen oder zu benennen mögen. Wir haben sie genießen gelernt, wir haben sei fühlen gelernt, wir haben das Gewebe gesehen, wir wissen, dass wir Fragmente sind, dass wir vergehen und dass wir kommen und dass wir nicht wissen, wie wir zusammengehören, und es wieder und wieder »nur« neu erfinden müssen. Dass wir nicht unsere Herkunft sind. Unsre Herkunft mag Teil von uns sein, doch was sie bedeutet, bestimmten wir mit. Denn wir sind es, die sich und anderen die Geschichte dessen erzählen, wer wir sind. Indem wir werden, wer wir sein können – um nicht bleiben zu müssen, als wen andere uns immer schon Erzählte haben oder weiterhin zu erzählen versuchen.

Draesner, Ulrike: zu lieben. München 2024, S. 311-312.


[1] https://www.draesner.de/autorin/. [2] Noël, Indra: Ulrike Draesner. In: C. Freudenstein-Arnold, Kindler Kompakt Deutsche Literatur der Gegenwart, online unter: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-476-05532-3_10, © 2016 J.B. Metzler Verlag GmbH, S. 80. [3] https://www.draesner.de/autorin/

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