Emily Brontës Sturmhöhe (Originaltitel: Wuthering Heights) ist so anders, als die Romane der Zeit. Wer Sturmhöhe in eine Reihe mit Jane Eyre von ihrer Schwester Charlotte oder mit Jane Austens Stolz und Vorurteil stellt, der wird enttäuscht. Rache, Wildheit, Kritik an der gesellschaftlichen Scheinheiligkeit und dem Verstecken hinter religiösen Traditionen und Gepflogenheiten, Heimsuchungen unterschiedlichster Natur, der Wahnsinn, die dem Menschen eigene Absurdität seiner Natur – das sind die Themen, die in Sturmhöhe schonungslos an den Figuren offenbart werden. Woran mag das liegen?
Fragen an Emily Brontës Sturmhöhe
War Emily Brontë, die ihren Roman unter dem Pseudonym Ellis Bell 1847 veröffentlichte, hellsichtiger als ihre Zeitgenossen, hatte einen intuitiveren Blick auf die verborgenen Wahrheiten ihrer Zeit? Geht es um Liebe oder um Rache? Was könnte die Handlung mit den biblischen Geboten zu tun haben? Sind die Figuren überhaupt gläubig? Ließen sich Beweise an ihrem Reden und Handeln festmachen? Ist Heathcliff ein Werkzeug Gottes, um böse Menschen zu bestrafen und heimzusuchen? Oder ist er ein Werkzeug des Teufels? Die im Titel genannten Begriffe Vergebung, Gespenster, Heimsuchungen dienen mir als Ankerpunkte für den roten Faden dieses Beitrags, in dem letztlich versucht werden soll, Licht zur Funktion von mehr und weniger gespenstischen Heimsuchungen in Emily Brontës Sturmhöhe zu bringen. Die Einführung, Inhaltsangabe und Zusammenfassung sowie eine Auflistung der wichtigsten Figuren sind im Beitrag zu Heathcliffs Rache in Sturmhöhe zu finden.
Worum geht es in Emily Brontës Roman Sturmhöhe?
Die Geschichte spielt in den düsteren Mooren von Yorkshire, deren Beklemmung, Finsternis und Melancholie sich in dem Charakter des jungen Findelkindes Heathcliff im Hause Earnshaw spiegelt. Die zerstörerische, doch leidenschaftliche Beziehung zwischen Heathcliff und der Tochter des Hauses Catherine ist oberflächlich betrachtet Dreh- und Angelpunkt. Doch brodeln weitere Aspekte unter dem oftmals als dramatische Liebesgeschichte ausgelegten Roman. Heathcliff wächst zusammen mit den Kindern seines Ziehvaters Mr. Earnshaw auf, Hindley und Catherine. Hindley verachtet Heathcliff und lässt es ihn bei jeder Gelegenheit spüren, woraufhin das dunkelhäutige Findelkind bereits in seiner Kindheit Rache plant. Dagegen entwickelt sich zwischen Heathcliff und Catherine eine tiefe, aber komplizierte Bindung. Nach Mr. Earnshaws Tod übernimmt Hindley das Anwesen, degradiert Heathcliff zum Diener. Catherine heiratet schließlich den wohlhabenden Nachbarn Edgar Linton, obwohl sie Heathcliff liebt. Gekränkt und voller Rachegefühle verlässt Heathcliff die Gegend und kehrt Jahre später als wohlhabender Mann zurück. Langsam aber stetig setzt er seine Rache in die Tat um. Heathcliffs Rachepläne setzen eine tragische Reaktionskette in Gang, die das Leben der Earnshaws und Lintons über Generationen hinweg beeinflussen. Emily Brontës Sturmhöhe endet mit einer gewissen Hoffnung. Denn die nächste Generation beginnt, die Fehler der Vergangenheit zu überwinden.
Eine mögliche Funktion von Emily Brontës Sturmhöhe
Insofern knallt Emily Brontëihren Leserinnern und Lesern die eigenen gesellschaftlichen Verfehlungen schonungslos mittels der rachsüchtigen, neidenden und nachtragenden Figuren ins Gesicht und zeigt am Ende auf, wie es besser gehen könnte. Sturmhöhe ist ein Roman, in dem auch generationales Schweigen und Tabuisierung eine Rolle spielen. Im übertragenen Sinne geht es auch um menschenverachtende Handlungen während der Kolonialisierung, lässt sich je nach Lesart auch imperialistisches Gedankengut an den Handlungen der Figuren ausmachen, Machtmissbrauch und ein konsequentes Niederdrücken der vermeintlich Schwächeren. In dem Fall ist Sturmhöhe eine Kritik am Empire schlechthin. Lernen durch Lesen – das funktioniert schon. Aber wenn niemand von seinen eigenen Fehlern lesen und hören will, kann oder sie gar versteht, die Botin sogar verdammt wird – wie dann die Botschaft umsetzen? Das ist eine Frage für ein andermal.
Glaube und Religion in Emily Brontës Sturmhöhe
„[A]ber du mußt es doch als eine Gabe Gottes hinnehmen, wenn es auch fast so schwarz ist, als käme es vom Teufel.« (Emily Brontë: Sturmhöhe. Aus dem Englischen von Gisela Etzel. Berlin 2005, S. 46) Mit diesen Worten von Mr. Earnshaw wird Heathcliff (im Zitat als „es“ bezeichnet) als Findelkind in seine neue Familie eingeführt. Der Hausherr hat den Jungen in den Straßen Liverpools aufgelesen, das damals ein Umschlagplatz für Menschen aus aller Welt, Seeleute, Sklaven, Kaufmänner und mehr war. Welcher Nationalität Heathcliff angehört, wird nicht geklärt, aber er besitzt eine dunkle Hautfarbe, schwarze Augen und spricht unverständliches Kauderwelsch bei seiner Ankunft – alles Anzeichen für seine Fremdheit, die ihn nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in der Gesellschaft zum Außenseitern machen. Interessant finde ich, dass an seiner Person durch Mr. Earnshaw die Dichotomie zwischen Himmel und Hölle, Gott und Teufel aufgemacht wird. Heathcliff ist einmal eine Gabe Gottes, sieht aber aus, als käme er vom Teufel. Letzter Vergleich ist auf das das fremde Aussehen bezogen. Fremdheit wird übrigens häufig mit dem Teufel und der Hölle assoziiert. Der schwarze Geiger in Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe ist beispielsweise ein Heimatloser, der im Wald mit anderen Heimatlosen abseits der Gesellschaft lebt und dessen Tanz durch die Nacht auch mit dem mittelalterlichen Totentanz verbunden werden kann. Die weibliche Hauptfigur in Kellers Novelle, Vreni, wird ebenfalls als Teufel und Hexe bezeichnet. Dass Frauen verteufelt werden ist allerdings nicht neu. So auch im mittelalterlichen Nibelungenlied, in dem die unnatürlich starke Brünhild ihrer Status als Jungfrau gegen König Gunther und Held Siegfried verteidigt und aufgrund ihrer exorbitanten Kräfte von den Männern ebenfalls in Teufelsnähe gerückt wird. Mit Eindringen Heathcliffs in die Familie geht es also um weitaus mehr, als um die sich bereits in Kindertagen anbahnende Liebesgeschichte zwischen ihm und Catherine.
Ist eine Botschaft in Emily Brontës Sturmhöhe, Verzeihen zu lernen?!
Immerhin gibt es eine zu dieser Frage passende Passage, in der Nelly Dean den bereits in Kindertagen seine Rache planenden Heathcliff zurechtweist, als dieser von Rache spricht:
»Ich überlege, wie ich es Hindley heimzahlen werde. Es ist mir gleich, wie lange ich warten muß, wenn ich’s ihm nur endlich geben kann. Ich hoffe, er wird nicht vorher sterben.«
»Schäme dich, Heathcliff«, sagte ich. »Es ist Gottes Sache, böse Menschen zu bestrafen; wir sollten lernen zu verzeihen.«
»Nein, Gott würde nicht die Genugtuung haben, die ich haben werde«, erwiderte er. »Wenn ich nur den besten Weg wüßte! Laß mich in Frieden, und ich werde es schon herauskriegen; solange ich daran denke, fühle ich keinen Schmerz.« (Sturmhöhe, S. 76)
Heathcliff wird seine Rache über Generationsgrenzen hinweg umsetzen und hat letztlich doch nicht die Genugtuung, die er sich gewünscht hat. Kann Heathcliff überhaupt Gottes Werkzeug sein, wenn er laut Nelly Dean eher nicht in Gottes Sinne handelt, sich seiner Worte schämen sollte? Wen würde er wegen böser Taten überhaupt bestrafen? Und wenn er Gottes strafendes Werkzeug wäre, warum bleibt ihm Genugtuung verwehrt? Und wieso erkennen ihn die anderen Figuren als einen Teufel, Satan, Dämon, eben den Gegenspieler Gottes? Könnte es sogar sein, dass Emily in ihren Roman Kritik an der Scheinhaftigkeit göttlichen Glaubens der Figuren verbaut hat? Sind dann nicht alle Sünder, die bestraft werden müssen und die in Heathcliff eben nicht die Strafe Gottes aufgrund ihrer eigenen Sündhaftigkeit erkennen? Oder ist die Botschaft vielleicht noch einfacher, wie sie ja tatsächlich auch im soeben genannten Zitat von Nelly Dean ausgesprochen wurde: Lernt, zu verzeihen!?
Ist Heathcliff eine Heimsuchung Gottes oder ein Werkzeug des Teufels?
Heathcliff wird sehr häufig als Teufel bezeichnet, deutlich einer dunklen und bösen Sphäre zugeordnet, sogar als Dämon benannt oder mit Attributen bestückt, die ihn in Nähe von teuflischen Kreaturen rücken. Im Zuge seiner Rache scheint diese Verteufelung angemessen. Er erlangt durch Hindleys Spielschulden die Kontrolle über Wuthering Heights, degradiert Hindleys Sohn Hareton zum ungebildeten Diener, zwingt Catherine Lintons Tochter Cathy in eine Ehe mit seinem kränklichen Sohn Linton, um nach dessen Tod auch Thrushcross Grange zu übernehmen, und macht so die Kinder seines ehemaligen Peinigers zu denselben hilflosen und erniedrigten Geschöpfen, die er einst selbst war. Isabella Linton beispielsweise, die nach ihrer Heirat unter seinen psychischen und physischen Misshandlungen leidet, beschreibt seine Stirn als „teuflisch“ (S. 221), seine Augen als „Basiliskenaugen“. (S. 221) Isabella Linton schwört selbst Rache an Heathcliff zu nehmen und erfreut sich an seinem Elend, nachdem seine Lebensliebe Catherine verstorben ist. Nelly Dean rügt ihr Verhalten.
»Pfui, pfui, Miß!« unterbrach ich sie [Nelly Dean unterbricht Isabella]. »Man könnte denken, Sie hätten nie in Ihrem Leben eine Bibel geöffnet. Wenn Gott Ihre Feinde heimsucht, so sollte Ihnen das doch genügen. Es ist sowohl boshaft als vermessen, zu den Plagen, die er schickt, noch etwas dazuzutun.« »Das mag im großen und ganzen zutreffend sein, Ellen«, fuhr sie fort, »doch welches Elend, das Heathcliff befiele, könnte mich befriedigen, wenn ich nicht selbst die Hand dabei im Spiele hätte? Da wäre es mir sogar lieber, er litte weniger, aber dies Leiden käme von mir und er wisse, daß ich die Veranlassung sei. O, ich schulde ihm so viel! Und nur eine Möglichkeit gibt es, unter der ich ihm vergeben könnte. Das ist, wenn ich Auge um Auge, Zahn um Zahn nehmen, für jeden Hieb und Stoß ihm Hieb und Stoß zurückversetzen könnte. So wie er bislang triumphierte, müßte er jetzt um Gnade betteln, und dann, Ellen, dann – könnte ich vielleicht großmütig sein. Doch es ist ganz und gar unmöglich, daß ich je gerächt sein könnte, und darum kann ich ihm nicht vergeben. (S. 221-222)
Auch hier geht es letztlich um Vergebung, die anstatt von nie enden wollender und sich gegenseitig bedingender Rache gerade nicht stattfindet, doch im literarischen Raum steht. Es ist daher wichtig, die im Roman narrativ inszenierte Rache, den Begriff Vergebung und die von den Figuren genannten biblischen Zitate vor einer möglichen Bestrafung der Figuren mit dem optionalen Werkzeug Heathcliff einordnen zu können. Verzeihen und Vergebung werden im Alltag oft auch synonym verwendet. Allerdings gibt es feine Unterschiede: Während Verzeihung eher ein äußerer Akt der Nachsicht ist, stellt Vergebung einen tieferen, inneren Prozess der Aussöhnung und des Loslassens dar. Ich werde daher folgen die Begriffe auch annähernd synonym verwenden.
Der strafende Gott im Alten Testament und der verzeihende Jesus im Neuen Testament in narrativer Diskussion in Sturmhöhe
Auge um Auge, Zahn um Zahn – das ist eine Redewendung, mit der ausufernde Rachehandlungen begrenzt werden sollen. Sie stammt aus dem 2. Buch Mose und gehört ins Alte Testament:
Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule.[1]
Der Gott des Alten Testaments ist nicht nachsichtig, er straft Ungläubige mit Plagen, Naturkatastrophen und kennt keine Gnade. Er ist rachsüchtig! Erst mit seinem Sohn Jesus beginnt eine neue Zeit, etabliert dieser mit dem Aufbau seiner auf dem Fels Petrus fußenden Kirche neue Richtlinien. In der Bergpredigt geht Jesus auf die alte Redewendung aus dem Alten Testament ein und nimmt Korrekturen vor:
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.[2]
Rache wird im Alten und im Neuen Testament also verschiedenartig gehandhabt. Diese gegensätzlichen Prinzipien sind auch im Roman und an den Figuren ablesbar. Siedenken und handeln nämlich nicht gerade neutestamentarisch christlich, wie an Isabellas Aussage, die ja auf Rache aus ist, deutlich wird. Auch Nelly, die hier immer wieder auf die Bibel zu sprechen kommt, ist nicht gerade ein Ausbund christlicher Tugenden. Der junge Hindley hasst seinen Ziehbruder Heathcliff und Nelly hasst ihn ebenso. „Wir quälten ihn, wo wir nur konnten und behandelten ihn schändlich, denn ich war nicht vernünftig genug, meine Ungerechtigkeit einzusehen, und die Herrin sagte nie ein Wort, wenn sie sag, daß ihm ein Unrecht geschah.“ (S. 48) Darüber hinaus verfällt Hindley als Erwachsener dem Alkohol und wird spielsüchtig, diese nicht gerade gottgefälligen Laster sind gleichfalls mit den Todsünden verknüpft.
Mr. Lockwoods Predigtraum in Sturmhöhe: Siebzig mal sieben verzeihen üben
Im Rahmen der getätigten Überlegungen zur narrativen Diskussion zwischen dem alttestamentarischen Racheakt, der gleiches mit gleichem vergilt und der neutestamentarischen Aktualisierung durch Verzeihen bzw. Vergebung interessant ist Mr. Lockwoods Traum, der als fremder Pächter Initiator des Erzählens der Geschichte von Wuthering Heights ist. Er muss wegen dem Wetter dort übernachten und wird in einem Raum einquartiert, in dem es spukt. Dazu gleich mehr. In seinem Traum, der auch als Karikatur für die religiöse Scheinheiligkeit verstanden werden könnte, wird über Siebzig mal sieben gepredigt. Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf das Thema der Vergebung, wie Jesus es Petrus im Evangelium nach Matthäus erklärt:
Da trat Petrus hinzu und sprach zu ihm: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.[3]
Es gibt also neben der bereits aufgezeigten Textpassage zur Auge-um-Auge-Thematik des Alten Testaments eine zweite Textpassage, die sich mit der konträren Handlungsweise auseinandersetzt. Interessant ist mit Blick auf den Traum von Mr. Lockwood auch, dass er durch ein Klopfen am Fenster aufwacht und dem Geist von Catherine begegnet, die das Zimmer heimsucht. In diesem Sinne muss das Wort Heimsuchung genauer erörtert werden.
Verschiedene Bedeutungen des Begriffs Heimsuchung
Heimsuchung ist ein Wort, das je nach Situation und Kontext positiv oder negativ mit verschiedenen Bedeutungen gelesen werden. „Wenn Gott Ihre Feinde heimsucht“, hatte Nelly Dean zu Isabella Linton gesagt – hier ist Heimsuchung als Bestrafung durch Gott gemeint für Menschen, die gesündigt haben. Insofern ist der Begriff in der fiktionalen Gesprächssituation eher negativ und bedrohlich aufgeladen. Das Wort Heimsuchung wird durch die Verbindung mit Gott gänzlich in den religiösen Kontext gesetzt. Tatsächlich sehe ich den Begriff außerhalb dieses literarischen Gesprächskontextes aber weniger in diesem Bereich. Für mich persönlich fällt er unter anderem auch in das Spektrum der unangenehmen Erinnerungen, jener Erinnerungen, die mit Scham behaftet sind oder wehtun. Man schiebt sie weg und sie sind aus den Augen aus dem Sinn, aber dann passiert eines Tages etwas, was in irgendeiner Weise mit dieser alten Erinnerung zusammenhängt. Erst einmal. Dann zweimal. Dann öfter – immer wieder – immer wieder – immer wieder – bis man sich der Sache annimmt. In diesem Sinne ist eine Heimsuchung für mich psychologischer Akt der Aufarbeitung unangenehmer Erinnerungen. Dann sind schmerzhaften Erinnerungen wie Gespenster oder Geister, die ihr Heim suchen – den Wirt der Erinnerungen, an denen sie sich näheren. Es gibt noch konkretere Definitionen zu derartigen Spukgestalten.
Eine Definition des Begriffs Gespenster
„Gespenst, aus ahd. gispanst, mhd. gespanst, gespenste: Eingebung, Beredung, Verlokkung,
Verführung‘, verändert seine Bedeutung zu ,Spukgestalt, Geist, Geistererscheinung‘. Der Sprachgebrauch setzt G. mit Geist und Spuk gleich und bezeichnet damit schreckende Erscheinungen häufig anthropomorphen Charakters.“[4] So lautet die Definition aus der Enzyklopädie des Märchens.
Was ist eigentlich ein Spuk?
Ein Spuk, das ist etwas, das vermeintlich in der Gegenwart nicht erklärt werden kann und doch mit der Vergangenheit eng verbunden ist. Ein Gespenst ist insofern manifestierte Vergangenheit, die in vielfältigen Formen in der Gegenwart auftauchen kann. Meist werden Geister und Gespenster eher mit der unheimlichen Art des Spuks, einer Heimsuchung, die auch im religiösen Kontext wurzelt, in Verbindung gebracht. Das Wort Heimsuchung lenkt aber auch auf eine andere Fährte und – wie ich finde – weg vom Unheimlichen und hin zum Verständlichen. Das Wort besteht immerhin aus Heim und Suche. Ein Geist, ein Gespenst ist also auf der Suche nach seinem Heim, wie auch immer geartet dies aussehen mag. Das Gespenst ist eine ruhelose Seele, die ihren ersehnten Ankunftsort also auch im Tod nicht erreichen konnte. Sehnsucht – so könnte mitunter ein Motiv für die Ursache eines Spuks lauten. Rache ist auch ein Motiv wie in Hamlet. Unerledigtes muss erledigt werden, bevor die Seele Ruhe finden kann. Das kennt man auch von sich selbst. Gespenster können aber auch wirkmächtige Ideen, Werte, Verhaltensmuster und Ansichten aus der eigenen oder der familiären Vergangenheit sein, die in der Gegenwart entweder den Nachkommen oder derselben Person nachwirken. Gespenster sind unsichtbare Fesseln, Gespenster gehören auch zu den Traumata der transgenerationalen Übertragung. Gespenster sind auch fremd in dieser Welt. Gespenster gehören ins Metaphysische, nicht ins Materielle. Gespenster können auch intuitive Ahnungen sein, plötzliche Gedankenblitze, die aus dem Nichts auftauchen und für Unruhe sorgen.
Catherine – ein heimsuchendes Gespenst in Emily Brontës Sturmhöhe
Catherine ist durch Kate Bushs Song Wuthering Heights von 1978 auch der breiteren Masse bekannt: Heathcliff, its me–Cathy. I’ve Come home. Im so cold! Let me in your window– so lautet der Refrain der Heimsuchung Catherines, die in der Binnenhandlung bereit verstorben ist. Wir erleben den Spuk gemeinsam mit Mr. Lockwood, der als Figur in der Rahmenhandlung auftaucht und als Katalysator zum Erzählen der tatsächlichen Geschichte um Wuthering Heights dient. Dieser schreckt durch ein plötzliches Geräusch aus seinem Predigttraum hoch. Immer wieder klopft ein vermeintlicher Ast gegen das Fenster, er öffnet es und sieht sich der Geistererscheinung gegenüber.
„ … Mich überkam das grauenhafte Entsetzen eines Albtraumes: ich versuchte, den Arm zurückzuziehen, aber die Hand umklammerte fest die meine, und eine höchste traurige Stimme schluchzte: »Laß mich ein – laß mich ein!« – »Wer bist du?« fragte ich und mühte mich, nicht von dem Griff zu befreien. »Catherine Linton«, antwortete es frostig. (Warum dachte ich gerade Linton? Ich hatte Earnshaw wohl zwanzigmal mehr gelesen als Linton.) »Ich bin nach Hause gekommen, ich hatte im Moor den Weg verloren!« Während es sprach, erkannte ich die schwachen Umrisse eines Kindergesichtes, das durch das offene Fenster blickte.“ (S. 37)
Heathcliff kommt durch den Schreckensschrei von Mr. Lockwood ins Zimmer erst nach Verschwinden des Geistes hinzu und ruft die Geliebte zurück – erfolglos. Erst im Tod sind ihre Seelen, die einander gleich sind, vereint.
Die gespenstische Ruhelosigkeit der Toten und Lebenden in Sturmhöhe
Ruhelosigkeit wird häufig im Zusammenhang mit dem Gespensterdasein erwähnt. In Sturmhöhe sind zunächst die Lebenden aus verschiedenen Gründen ruhelos. Heathcliff ist zeit seines Lebens ein ruheloser Geist. Da ist das Wort wieder – Geist. Das gilt nicht nur für die Verstorbenen, sondern auch für die Lebenden. Catherine hat bereits vor ihrem Tod eine Ahnung von ihrem ruhelosen Gespensterdasein.
[Catherine berichtet Nelly jetzt von ihrem Traum]
›Wenn ich im Himmel wäre, Nelly, ich würde ungeheuer unglücklich sein.‹
›Weil Sie dafür noch nicht reif sind‹, antwortete ich. ›Alle Sünder würden sich unglücklich fühlen im Himmel.‹
[…]
›Ich wollte ja nur sagen‹, rief sie, ›daß es mir dort im Himmel nicht heimatlich vorkam und daß mir fast das Herz brach vor Sehnsucht, wieder auf Erden zu sein. Und die Engel waren so zornig über mich, daß sie mich hinunterwarfen auf die Heide hinunter, auf die Höhe von Wuthering Heights; und da erwachte ich, schluchzend vor Freude. (S. 102)
Catherines Ruhelosigkeit wird von ihr vorhergesehen und tritt letztlich auch ein. Sie irrt heimsuchend als Gespenst in der Moorlandschaft umher. Nelly kommt im Gespräch auch wieder auf Sündhaftigkeit zu sprechen. Das bekannte Zitat von Catherine über Heathcliff entstammt gleichfalls diesem Gespräch: „… weil er mehr mein Ich ist, als ich selber es bin. Woraus auch unsere Seelen geschaffen sein mögen: seine und meine Seele gleichen sich völlig …“ (S. 102) So verwundert es nicht, dass beide am Ende auch in ihrer gespensterhaften Ruhelosigkeit vereint sind. Es ist diese Ruhelosigkeit und die Sehnsucht nach Catherine, die Heathcliff noch zu Lebzeiten ihre Leiche ausgraben lässt – erst mit ihrem Anblick ist er ruhig. Ein wenig warten muss er zu dem Zeitpunkt noch.
Erinnerungen als Heimsuchungen in Sturmhöhe – Haretons Ähnlichkeit zu Catherine
Hareton ist der Sohn von Catherines Bruder Hindley, wird von Heathcliff aufgenommen und ohne Bildung wie ein Diener erzogen, so wie dessen Vater ihn nach dem Tod von Mr. Earnshaw behandelt hat. Hareton ist damit eine Figur, an der Heathcliff seine Rache in der nächsten Generation ausübt. Tragisch ist jedoch, dass Hareton ihn aufgrund seiner Ähnlichkeit zu Catherine einmal an sie erinnert. Und zum anderen erinnert Hareton ihn auch an sich selbst, weil er selbst genau die gleiche Behandlung erfahren hatte wie er sie nun dem Jungen angedeihen lässt. Diese Gleichzeitigkeit, die bereits von Catherine hinsichtlich ihrer gleichen Seelen ausgesprochen wurde, manifestiert sich konkret in der Figur des Hareton, in der nächsten Generation. Heathcliff wird es selbst aussprechen und auch Gespenster erwähnen.
Eben, vor fünf Minuten, erschien mir Hareton wie die Personifikation meiner Jugend, nicht wie ein menschliches Wesen. Mein Empfinden zu ihm war so vielfältig. Zunächst war es seine erschreckende Ähnlichkeit mit Catherin. Doch das berührt mich vielleicht am wenigsten. Denn was erinnerte mich nicht an sie? Ich kann nicht zu Boden schauen, ohne dort ihre Züge zu erkennen. In jeder Wolke, in jedem Baum finde ich sie; des Nachts ist sie überall im Dunkel, und bei Tag erscheint sie mir wie ein Blitz in allen Menschen und Dingen. Die dümmsten, stupidesten Gesichter von Männern und Frauen – meine eigenen Züge sogar – zeigen mir Ähnlichkeit mit ihr. Die ganze Welt ist wie eine furchtbare Anhäufung von Erinnerungen, die mir von ihrem Dasein spricht, und davon, daß ich sie verloren habe! Haretons Anblick war das Gespenst meiner unsterblichen Liebe, meiner verzweifelten Bemühungen, mir Recht zu verschaffen, meiner Erniedrigung, meines Stolzes, meines Glücklichseins und meiner Sehnsucht –. (S. 381-382)
Erinnerungen und Gespenster als Heimsuchungen
Es kommt hier neben der Heimsuchung durch Erinnerungen, durch Gespenster, ungelebte Sehnsüchte und Rachegedanken noch eine weitere Ebene hinzu. Es handelt sich dabei um die in die nächste Generation mehr und weniger weitergegebenen Bürden der Vorfahren, die auf dem Rücken der jüngeren abgeladen und von diesen getragen werden müssen. Es gibt schließlich keinen Grund, warum Hareton ohne Bildung und als Diener gehalten werden soll. Einzig Heathcliffs Rachepläne, sogar über den Tod hinaus, die er wegen der Behandlung durch Hindley als Haretons Vater ertragen musste sind hier Katalysator für die Taten, aus denen Gespenster, Rache und Heimsuchungen hervorgehen. Hareton trägt also das Aussehen der vorangegangenen Generation und muss deren Streitigkeiten als unschuldiges Opfer der Umstände austragen. Wie anders hätte alles aussehen können, wenn sich die Figuren in Verzeihen und Vergebung geübt hätten, wie es schließlich Jesus in seiner Bergpredigt und vielen anderen Gleichnissen im Neuen Testament darlegt. Die im Titel dieses Beitrags aufgeführten Begriffe Heimsuchung, Gespenster und Vergebung lassen sich mit der erzählerischen Inszenierung der Figurenhandlungen und ihren Gesprächen sogar mit der Bibel verbinden. Ist das also die Quintessenz von Emily Brontës Sturmhöhe – Vergebung? Ist die abschreckende und dunkel-leidenschaftliche Rache- und Liebeshandlung in diesem Sinne notwendig, um gerade die Notwendigkeit einer neutestamentarischen Vergebungspolitik innerhalb von Familien, Gemeinschaften, der Gesellschaft und sogar im Zuge der Kolonialisierung hervorzuheben? Inwieweit das mit der Thematik der transgenerationalen Übertragung oder weitergehend auch kolonialen Diskurse einhergeht, müsste differenzierter betrachtet werden. Ich bin sicher, dazu gibt es auch Forschungsliteratur – doch ist gerade das Wort Vergebung oder Verzeihen mit Blick auf die Gräueltaten der Kolonialisierung mindestens ambivalent zu betrachten. Es tun sich viele Fragen mit einer solchen Behauptung auf, die ich hier keinesfalls beantworten kann und auch der Raum, diese ausgreifender zu erörtern ist nicht vorhanden.
Vergebung in Sturmhöhe – und was ist mit den Gespenstern?
Im Vater Unser des Neuen Testaments ist im christlichen Sinne klar vorgegeben, wie mit Verfehlungen böser Menschen umgegangen werden soll:
Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.] Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.[5]
Nun wissen wir aber bereits, dass Catherine nicht im Himmel verweilen wollte, sie wieder auf die Heide zurückgeschleudert wurde und als Gespenst ihre alte Heimat heimsucht auf der Suche nach dem Halbteil ihrer Seele – Heathcliff. Der stirbt später mit einem Lächeln auf dem Gesicht bei offenem Fenster. Die Binnenhandlung holt die Erzählung der Rahmenhandlung ein und endet wie begonnen mit Mr. Lockwood. Der wohnt Heathcliffs Beerdigung bei und erwähnt noch seltsame Ereignisse in der Gegend. Etwa schwören die Leute aus der Gegend, dass Heathcliff umgehe, man habe in jeder Regennacht zwei Gestalten aus Heathcliffs Fenster schauen sehen. Als er eines Tages hinter den Hügeln auf dem Weg nach Thruscross Grange einen weinenden Jungen mit einem Schaf und zwei kleinen Lämmchen trifft.
›Was fehlt dir, kleiner Mann‹, fragte ich.
›Da ist der Heathcliff und eine Frau, da drunten‹, schluchzte er. ›Ich habe so Angst, an ihnen vorbeizugehen.‹ (S. 397)
Obwohl Mr. Lockwood nicht sehen kann, wollen weder die Schafe noch der Junge weitergehen. Als Nelly Dean ihm beim Abschied sagt, sie glaube, die Toten ruhen in Frieden, ist er skeptisch. Er „konnte nicht verstehen, wie jemand auch nur annehmen konnte, daß diejenigen, die in dieser stillen Erde ruhen, schlaflos sein sollten.“ (S.398).
Abschließende Worte zu Heimsuchungen, Gespenstern und Vergebung in Emily Brontës Sturmhöhe
Eine klare Antwort auf meine anfangs gestellten Fragen kann ich hier nicht geben. Das ist aber auch nicht schlimm. Denn beim Verfassen dieses Beitrags und den unternommenen Ausführungen zu den Figuren in Sturmhöhe und der Inszenierung der Erzählung von Heimsuchungen, Gespenstern und Vergebung sind in mir weitere Fragen aufgetaucht, nicht allein zum Buch, sondern auch zum Leben an sich. Im allerbesten Fall dient solch ein Essay also dem reflektierenden Anschubsen nicht nur des gelesenen Inhalts, sondern auch weiterführenden Fragestellungen zu den textinhärenten Darstellungen. Heißt: Macht Lust auf mehr und ist Katalysator für nachträgliche Reflexionen. Kritische Stimmen zum Roman gab es auch zu Emilys Zeiten schon. Und was ist mit der Liebe zwischen Catherine und Heathcliff? Wie die letzten Zitate zeigen, scheinen sie immerhin letztlich im Tod zueinander gefunden zu haben und als Gespenster in der Moorlandschaft umzugehen. Wenn dem aber so ist, so sind sie nicht im Himmel und gibt es keine Vergebung durch Gott für sie. Dann kann Heathcliff auch kein Werkzeug für Gottes Rache gewesen sein. Ist Sturmhöhe darum doch keine Geschichte über Rache, wie ich vormals dachte, sondern eine Liebesgeschichte, in der es nur um die Wiedervereinigung beider im Tod geht mit einer Liebe, die sich wehrt gegen die Hölle und den Himmel? Wie Heathcliff beim Gedanken an die tote Catherine darüber denkt, soll in einem abschließenden Zitat deutlich werden:
„Ich sage dir, ich habe meinen Himmel fast erreicht; und der Himmel der anderen ist mir ganz wertlos und gleichgültig.“ (S. 394)
Verwendete Literatur
Emily Brontë: Sturmhöhe. Aus dem Englischen von Gisela Etzel. Berlin 2005.
[1] 2. Mose 21,2-25, in: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Die Verwendung des Textes erfolgt mit Genehmigung der Deutschen Bibelgesellschaft. online unter: https://www.bibleserver.com/LUT/2.Mose21,24 (zuletzt aufgerufen am 09.10.2024).
[2] Mt 5,38-40, in: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Die Verwendung des Textes erfolgt mit Genehmigung der Deutschen Bibelgesellschaft. online unter: https://www.bibleserver.com/LUT/Matth%C3%A4us5 (zuletzt aufgerufen am 09.10.2024).
[3] Mt 18.21-23, in: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Die Verwendung des Textes erfolgt mit Genehmigung der Deutschen Bibelgesellschaft, online unter: https://www.bibleserver.com/LUT/Matth%C3%A4us18,22 (zuletzt aufgerufen am 09.10.2024).
[4] Fischer, Helmut: Gespenst. In: EM 5. Hg. von Wilhelm Brednich. Berlin/New York 1987, Sp. 1187-1194, hier Sp. 1187.
[5] Mt 6,9-15 in: Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. Die Verwendung des Textes erfolgt mit Genehmigung der Deutschen Bibelgesellschaft, online unter: https://www.bibleserver.com/LUT/Matth%C3%A4us6 (zuletzt aufgerufen am 11.10.2024).
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