Zuletzt bearbeitet am 20. März 2025
Nosferatu – Symphonie des Grauens ist ein klassischer Stummfilm aus dem Jahr 1922, der von Regisseur F.W. Murnau (Friedrich Wilhelm Murnau, hier der Link zur Murnau Stiftung) geschaffen wurde. Neu im Kino angelaufen ist die Neuauflage von Robert Eggers Nosferatu – Der Untote, die sich der größtenteils auf die Handlung der Vorlage stützt, allerdings einige Aktualisierungen vornimmt. Ich denke, diese sind größtenteils der Dramatik geschuldet. Wie dem auch sei, Murnaus Nosferatu und auch die Neuauflage basieren auf Bram Stokers Roman Dracula, obwohl einige Details verändert wurden, um Urheberrechtsprobleme zu vermeiden. Harker heißt Hutter, die Figur der Lucy entfällt bzw. finden sich Anteile von ihr in Ellen, der Angetrauten von Hutter, und auch der Name Dracula wird nicht genannt. Ich setze mich in diesem Beitrag mit der Symbolik und Deutung von einigen Szenen aus Murnaus Film auseinander und werde sie auch mit der Neuauflage in Beziehung setzen.
Nosferatu – Der Begriff stammt aus Bram Stokers Dracula
»Nosferatu« – dieser Begriff wird in Murnaus Film Nosferatu – Symphonie des Grauens sowie Nosferatu – Der Untote verwendet. Das mochte zu Murnaus Zeiten als Kaschierung durchgehen. In der Neuauflage ist dagegen einige Zeit ins Land gegangen, die Handlung geht direkt auf Murnaus Film zurück. Doch kommt der Begriff »Nosferatu« auch im Original vor, wenn der niederländische Intellektuelle Professor Van Helsing (bei Murnau und im neuen Film Professor Franz) von der Verbreitung des Vampirismus spricht.[1]
„Seit Urzeiten gibt es Untote, und seit Urzeiten gibt es Leute, die ihr Wirken erforschen. Wenn ein Mensch zu einem Untoten wird, trifft ihn damit der Fluch der Immoralität: Er kann nicht sterben, sondern muss durch die Jahrhunderte wandern, immer neue Opfer suchen und das Leid der Welt vermehren. Denn jeder, der durch einen Untoten stirbt, wird selbst einer und fällt seinerseits Menschen an. […] Freund Arthur, hätten Sie von Lucy den Kuss empfangen, damals, kurz bevor die Bedauernswerte starb – Sie erinnern sich -, oder letzte Nacht, als Sie ihr schon die Arme geöffnet hatten: Dann wären Sie nach Ihrem Tod ein nosferatu geworden, wie man in Südeuropa sagt. Das hätte Sie dazu verdammt, für alle Zeiten durch die Lande zu streifen und ständig mehr von jenen Untoten zu schaffen, die uns jetzt mit Grauen erfüllen.“[2]
Der Untote – Sexuelles Begehren stirbt nicht einfach
Es kann sehr interessant sein, der Frage nachzugehen, was genau wohl mit Untoten gemeint sein könnte. Darüber gibt es mittlerweile auch sehr viel Forschungsliteratur, die unter anderem den vor allem in ländlichen Gebieten weitreichenden Volks- und Aberglauben aufgreift, Ahnenkult und generationale Geheimnisse, die Menschen immer wieder umtreiben und nicht loslassen, sexuelles Begehren und Verlangen, das im gesellschaftlichen System vor allem bei Frauen nicht gern gesehen war, Unbewusstes und Geheimgehaltenes, Unterdrücktes und Ausgegrenztes – all das findet sich thematisiert in der Figur des Untoten, das vernichtet werden muss, weil es aus vielerlei Gründen gefährlich ist. Das ist in Murnaus Nosferatu so, das ist auch im aktuellen Nosferatu der Fall. Interessant wäre eine Adaption ins 21. Jahrhundert gewesen, aber das hätte dann die Handlung gesprengt und wahrscheinlich auch die düstere Atmosphäre zerstört. Es gibt den gesamten Film von Murnau auf YouTube.
Parallelen zwischen Murnaus Nosferatu und Bram Stokers Dracula
Jedenfalls sind die Parallelen in Murnaus Film Nosferatu und dem ersten Buchteil von Bram Stokers Dracula evident und nicht zu übersehen. Das haben andere ebenso wahrgenommen.
„Der Regisseur verfilmte das Buch ohne Einwilligung von Florence Stoker, der Witwe des Autors.“[3] Es gab ein Nachspiel für die nicht autorisierte Adaption. Verletzung der Urheberrechte wurde von Florence Stoker angeklagt bei der Berliner Produktionsfirma Prana-Film schon nach zwei Monate nach der Uraufführung wurde Berufung eingelegt, aber immer abgewiesen, schließlich erfolgte der Bankrott. Im Juli 1925 entschied das Gericht zugunsten von Stoker und verlangte die Vernichtung des Negativs und sämtlicher Kopien.[4] „Die Produzenten hatten jedoch das Negativ bereits verkauft, sodass der Film glücklicherweise erhalten blieb und somit als erster großer, künstlerischer Horrorfilm in die Geschichte einging.“[5] Murnau hatte mit Nosferatu den ersten wichtigen Erfolg in seiner Karriere. Zuvor hatte er bereits Filme gedreht, die im Bereich des Phantastischen gründeten. Nosferatu war sein neunter Film. Zumindest war der Grundstein für den Vampirfilm gelegt und dieses Thema ist seitdem auch nicht aus der Medienwelt verschwunden.
Nosferatu – Der Untote – Die Neuauflage eines Klassikers
Ich habe mir den Film jetzt auch angeschaut und kann direkt einen Vergleich zu meiner Analyse vornehmen. Hutter wird gespielt von Nicolas Hoult, der zuvor in der Horrorkomödie und ebenfalls Dracula-Ableger Renfield von 2023 den kriecherischen Lakaien des finsteren Fürsten der Nacht (dort Nicolas Cage) abgegeben hatte. Renfield heißt übrigens der psychopathische, fliegenfressende Irre, dem in Stokers Dracula die Rolle des wahnsinnigen Versuchsobjektes und Insassen einer Irrenanstalt oder Nervenklinik zukommt, der zugleich jedoch auch eine Art ‘Dracula-Radar’ ist. In der Neuauflage wird diese Rolle allerdings von dem Makler Knock eingenommen, der irgendwie verantwortlich für die Einreise des dunklen Fürsten ist. Jedenfalls ist der Film hochkarätig besetzt. Neben Nicolas Hoult sind auch Lily-Rose Melody Depp als Ellen, Bill Skarsgård als Graf Orlok und Willem Dafoe als Professor Albin Eberhart von Franz dabei. Dafoe hatte ja zuletzt auch in seiner Rolle als genialer sowie exzentrischer Arzt Dr. Godwin (God) Baxter und Frankenstein-Verschnitt die Tücken und Möglichkeiten der Forschung am lebenden Menschen verkörpert. Ich denke, ich kann jetzt schon sagen, dass das Original den Vergleich mit der Neuauflage nicht zu scheuen braucht. Überhaupt können solche Vergleiche recht interessant sein. Denn gute Filme benötigen gar nicht unbedingt die heute zur Verfügung stehenden technischen Neuerungen, sondern können grauenerregende Effekte und Beklemmung durch einfache Methoden mit dem präzisen Einsatz von Licht und Schatten, bestimmten Tönen und Überblendungen erreichen. Ich werde jetzt nacheinander die einzelnen Filme bezüglich ihrer Handlung zusammenfassen und dann einzelne Deutungen diverser Symboliken vornehmen und Vergleiche ziehen.
Worum geht es in Murnaus Nosferatu – Symphonie des Grauens?
Die Handlung dreht sich um den mysteriösen Grafen Orlok, der in Transsilvanien lebt und als Vampir bekannt ist. Er beschließt, nach Deutschland zu reisen, wo er das Leben einer jungen Frau namens Ellen gefährdet. Ellen ist die Frau von Thomas Hutter, einem Immobilienmakler, der von dem Grafen beauftragt wurde, ein Schloss in seiner Heimatstadt Wisborg zu kaufen. Hutter reist nach Transsylvanien und wird bereits im Gasthaus von Einheimischen vor dem Grafe gewarnt. Hutter reist weiter zum Schloss des Grafen und entdeckt dort nach und nach seine unheimlichen Geheimnisse, einschließlich seiner vampirischen Natur. Er entdeckt den Grafen schlafend in einem Sarg und erkennt die Gefahr, in der er sich befindet. Das ist in Nosferatu – Der Untote von Robert Eggers aus 2024 (der Film kam jüngst ins Kino) noch drastischer dargestellt – ich vermute auch hier einfach nur eine Anpassung an die heutzutage durch nichts mehr zu schockenden Menschen. Er versucht zu fliehen, während Orlok seine Reise nach Wisborg vorbereitet und schließlich auch mit dem Schiff abreist. Als Orlok in Deutschland ankommt, beginnt eine Schreckensherrschaft in der Wisborg, während er Ellens Nähe sucht. Ellen wird in der Zeit von Hutters Abwesenheit von dunklen Vorahnungen heimgesucht, und versucht, sich selbst und ihre Gemeinschaft vor der Bedrohung durch den Grafen zu schützen. Tatsächlich entdeckt sie einen Weg, den Nosferatu zu besiegen: Ein reines Herz muss ihn bis zum Morgengrauen ablenken.

Der Film erreicht seinen Höhepunkt, als Ellen eine gefährliche Entscheidung trifft, um die Stadt vor dem vampirischen Grafen zu retten. Am Ende gibt es eine dramatische Konfrontation zwischen dem Grafen und Ellen, die in einem triumphalen Sieg für das Gute endet, obwohl dies mit persönlichem Verlust verbunden ist.
Nosferatu gilt als Meisterwerk des deutschen expressionistischen Kinos und als einer der einflussreichsten Vampirfilme aller Zeiten. Die Darstellung des Grafen Orlok durch Max Schreck ist besonders bemerkenswert und hat das Bild des Vampirs in der Popkultur nachhaltig geprägt.
Zusammenfassung von Bram Stokers Dracula
Dracula von Bram Stoker ist ein klassischer Horrorroman, der erstmals 1897 veröffentlicht wurde. Die Handlung dreht sich um den Vampir Graf Dracula, der von Transsilvanien nach England reist, um frisches Blut zu suchen und seine Macht auszudehnen.
Der Roman wird in Form von Briefen, Tagebüchern, Zeitungsartikeln und Aufzeichnungen verschiedener Figuren erzählt. Jonathan Harker, ein junger Anwalt, reist nach Transsilvanien, um Dracula bei einer Immobilientransaktion zu beraten. Dort wird er von Dracula gefangen genommen und als Gefangener in seinem Schloss gehalten. Währenddessen macht sich Dracula auf den Weg nach England, wo er Lucy Westenra, eine junge Frau aus dem Kreis von Jonathans Verlobter Mina Murray und ihre beste Freundin, verfolgt und zu einem Vampir macht.
Jonathan kann schließlich mit letzter Kraft aus Draculas Schloss fliehen und kehrt kränklich nach England zurück. Gemeinsam mit dem Vampirjäger Professor Abraham Van Helsing versuchen sie, Lucy zu retten und Dracula zu besiegen. Sie entdecken, dass sie Knoblauch und Kreuze verwenden können, um sich vor Dracula zu schützen, und verfolgen ihn bis in seine Heimat, um ihn endgültig zu vernichten. Mina wird ebenfalls von Dracula angegriffen und beginnt, sich langsam in einen Vampir zu verwandeln. Die Gruppe setzt alles daran, sie zu retten und Dracula endgültig zu vernichten. Sie verfolgen ihn bis zu seinem Schloss in Transsilvanien, wo sie ihn schließlich töten, indem sie sein Herz durchbohren.
Dracula ist nicht nur ein klassischer Horrorroman, sondern auch eine Allegorie für die Angst vor dem Unbekannten und die Bedrohung durch das Fremde. Er behandelt Themen wie Sexualität, Religion, Wissenschaft und koloniale Ängste und hat einen nachhaltigen Einfluss auf die moderne Vampirmythologie und Popkultur.
Zusammenfassung der Handlung von Nosferatu – Der Untote
Robert Eggers’ Nosferatu – Der Untote ist eine moderne Neuinterpretation des legendären Stummfilmklassikers von 1922, der den Vampir-Mythos für die Leinwand prägte. In diesem düsteren, atmosphärisch dichten Horrorfilm verbindet Eggers seine charakteristische Bildsprache mit einer packenden Geschichte von Liebe, Obsession und Verderben. Im Mittelpunkt steht der junge und frisch vermählte Immobilienmakler Thomas Hutter, der von seinem Vorgesetzten Herr Knock den Auftrag erhält, ins abgelegene Transsilvanien zu reisen. Dort soll er einen Vertrag mit dem geheimnisvollen Grafen Orlok abschließen. Der Graf lebt in einem verfallenen Schloss und seine sonderbare Erscheinung – bleiche Haut, lange Klauen und ein durchdringender Blick und das ständige tiefe Atmen – lässt Hutter erschaudern. Als Hutter herausfindet, dass Orlok ein Vampir ist, der sich von menschlichem Blut ernährt, ist es bereits zu spät. Der Graf entwickelt eine bedrohliche Faszination für Hutters Ehefrau Ellen bzw. existiert bereits eine besondere und erotisch aufgeladene Beziehung zwischen ihnen.
Orlok begibt sich an Bord eines Schiffes und bringt nicht nur Tod und Zerstörung, sondern auch eine tödliche Seuche nach Wisborg. Während Hutter um sein Leben und seine Rückkehr kämpft, erkennt Ellen, dass sie eine entscheidende Rolle in der Konfrontation mit dem übernatürlichen Wesen spielen muss. Ihre Liebe und ihr Opfergeist werden zu einem zentralen Punkt im Kampf gegen das Böse. Eggers zeichnet ein erschreckendes, doch tief bewegendes Porträt von Verlangen, Verderben und dem ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, der sich übrigens sensationell in der Bildsprache wiederfindet. Der Film bleibt der Essenz des Originals treu, erweitert sie jedoch durch visuelle Tiefe und eine moderne Interpretation der Figuren. Einmal musste ich allerdings an einen Exorzismus denken, ein andermal hatte ich dann wieder die Filmadaption von Dracula im Kopf, dann wieder einen Zombiefilm. Das ist ja nun rein subjektiv. Nosferatu – Der Untote ist nicht nur ein Horrorfilm, sondern auch eine Studie über Menschlichkeit, Gendergrenzen, Tabus, Sexualität und Begehren.
Die Verbindung von Dracula und Nosferatu
“Whatever it is that Dracula is saying about sex, then, it is saying not in isolation but as part of a dialogue.“[6] Kathleen L. Spencers These bezieht sich auf Bram Stokers Dracula, kann jedoch auf die deutsche Adaption Nosferatu von F. W. Murnau von 1921/22 und gleichfalls auf die Neuauflage Nosferatu – Der Untote übertragen werden. Die Handlung von Murnaus Film folgt wie erwähnt grob der literarischen Vorlage, allerdings mit signifikanten Abweichungen. Für Murnau erwies sich Nosferatu als Meilenstein seiner Karriere, im Gegensatz zur Produktionsfirma Prana-Film, die nach dem verlorenen Rechtsstreit gegen Florence Stoker bankrott erlitt. Dennoch gilt das Werk als Beginn des Vampirfilms in Deutschland.[7]
In der Weimarer Republik, der Erscheinungszeit von Murnaus Werk, war das Thema Vampirismus wie auch das Medium Film neu, beides löste daher eine faszinierende Anziehungskraft auf die Menschen aus. Nosferatu – Symphonie des Grauens hat bei der Vorführung das Publikum regelrecht schockiert.[8] Damals herrschten andere Zeiten. Ich denke, das ist auch der Grund für die veränderten Szenen und Erzähleinschübe in der Neuauflage. Zum Beispiel sieht Orlok etwas verwest aus, während er bei Murnau etwas von einem abgemagerten Gru aus Ich, einfach unverbesserlich hat, der zu einem Stalker mutiert ist.
![Orlok beobachtet Ellen von Gegenüber. Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.](https://literarische-gedankenexperimente.de/wp-content/uploads/2024/07/begierde.jpg)
Nosferatu von Murnau und Nosferatu – Der Untote und der Umgang mit Sexualität
Folgend wird auf den in beiden Nosferatu-Adaptionen dargestellten Umgang mit Sexualität im gesellschaftlichen Kontext fokussiert, bei Murnau ist es die Weimarer Republik und in der Neuauflage scheint es sich um eine erweitere und psychologisch vertiefende Diagnose zu handeln, die mich teils auch an die Frau bei Freud zugesprochene Hysterie hat denken lassen. Das wäre tatsächlich auch interessant für eine genauere Betrachtung. Jedenfalls gehört unter anderem in die Zeit von Murnaus Nosferatu auch der Diskurs um die Neue Frau und damit einhergehend das Aufbrechen der gesellschaftlich gefestigten Normen um die traditionelle Rollenverteilung sowie dem kommunikativen und erzieherischen Umgang mit (ehelicher) Sexualität (erste Infos zum Thema Neue Frau gibt es hier). Da die Neuauflage Nosferatu – Der Untote größtenteils der Vorlage folgt, sind auch große Ähnlichkeiten hinsichtlich der Darstellung der Figuren im zeitgenössischen Kontext zu beobachten. Variationen werde ich aufzeigen und in Beziehung setzen sowie Vermutungen über eine variierte Darstellung schlussfolgern. Zur Verdeutlichung der psychologischen Vorgänge bezüglich der filmischen Umsetzung Murnaus werden Theorien des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan (1901-1981) einbezogen.
Ehe und Bürgertum – Ellen und Hutter als frisch vermähltes Paar
Auf den ersten Blick scheint die Beziehung von Ellen und Hutter intakt. Doch wirkt das Paar verkrampft. Das ist tatsächlich auch in Murnaus Werk und der Neuauflage zu beobachten. Insbesondere die Szene, in der Hutter Ellen die Blumen überreicht und sie traurig über die getöteten Blumen ist, ist aussagekräftig. Allegorisch können die Blumen für die sexuelle Unschuld beider Ehepartner stehen: Das ‘Töten’ der Blumen durch Hutter stünde im übertragenen Sinne für die Defloration (Entjungferung) Ellens sowie seine eigene (im Film Minute 4:40).

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Die Blumen werden besonders in der Neuauflage am Ende noch wichtig. Denn Ellen stirbt nach der körperlichen Vereinigung den Opfertod und ist umgeben von Blut und abgeschnittenen Blumen begraben unter dem unansehnlichen Körper des Vampirs, während dieser sich bei Murnau einfach auflöst wie nach einem Spuk. Der Schein einer glücklichen, jungen Ehe trügt also, denn das frisch vermählte Paar hat ein Problem mit Sexualität; Bettprobleme, könnte man auch sagen. Festgestellt werden kann, dass es trotz Heirat noch zu keiner geschlechtlichen Vereinigung gekommen ist.[9] In der Neuauflage wird dies zum Beispiel deutlich, wenn Ellen noch im Nachthemd im Bett liegen bleibt und Hutter bei seinem Aufbruch zu sich heranzieht, also eine Form der Initiative von ihr ausgeht, er dies jedoch abwehrt und das Haus seiner Arbeit wegen verlässt.
Von der gelehrten Unwissenheit von Sexualität um 1900
Im 19. Jahrhundert und in der Moderne kann von einer gelehrten Unwissenheit bezüglich Sexualität gesprochen werden. Im Bürgertum wurde öffentlich und größtenteils auch privat Schweigen über Intimität in der Ehe sowie über außerehelichen Verkehr bewahrt. Frauen begegneten der Hochzeitsnacht mit Schrecken bzw. wurden bis zum Vollzug völlig im Unklaren gelassen und vielerorts herrschte das Bild vom brutalen Mann, der erregt über seine Frau herfiel, wobei ein Bild vom Geschlechtsakt als Vergewaltigung aufgerufen wurde.[10] Aufgrund des vielerorts praktizierten Schweigens und fehlender Aufklärung kann davon ausgegangen werden, dass viele Paare sexuell unerfahren in die Ehe gingen und in der Hochzeitsnacht entsprechend unvorbereitet waren.[11] Eben dieses Bild zeichnet sich an Ellen und Hutter ab, das befreundete Ehepaar mit der schwangeren Anne und den beiden Töchtern in der Neuauflage stellt das Gegenteil dar. Eine kurze Anmerkung dazu: Die Kinder und die Schwangerschaft sind in der neuen Adaption hinzugekommen, ich denke, das soll den Schockfaktor bei späteren Szenen erhöhen und für noch mehr Dramatik sorgen (auch, wenn man sie meiner Meinung nach hätte weglassen können).
Tabuisierte Sexualität mit Lacans Begriff des Genießens erörtern
Eine psychologische Annäherung an diese Angst kann mit Berücksichtigung auf den von Lacan geprägten Begriff des ‘Genießens’ geschehen, der bei ihm für eine unmittelbare Befriedigung insbesondere der sexuellen Bedürfnisse steht. Bei Lacan ist die Identität des Menschen im historischen Kontext determiniert und von diesem in bestimmten ideologischen Aspekten abhängig, welche von der herrschenden Ideologie an den Menschen herangetragen werden.[12] Diese vorherrschende Ideologie kann mit dem Begriff des großen Anderen gleichgesetzt werden, nach dem bestimmte Regeln in der Gesellschaft konstituiert sind, wie etwa eine klare Rollenverteilung von Frau und Mann: Hutter als Mann ist der aktiven, außerhäuslichen Sphäre zugeordnet, Ellen ist als Frau und zukünftige Mutter an den häuslichen Bereich gebunden. Paradox ist jedoch, dass im bürgerlichen Gesellschaftssystem nicht über Sexualität gesprochen wird, an die tabuisierte Sexualität trotzdem Erwartungen (Zeugen von Nachkommen) gebunden sind.[13] Was muss nun geschehen, um die Erwartungen trotz gelehrtem Unwissen und Tabuisierung zu erfüllen?
![Frauen sollen sich mit Hausarbeit beschäftigen. Frauen sollten sittsam und häuslich sein. Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.](https://literarische-gedankenexperimente.de/wp-content/uploads/2024/07/Sticken.jpg)
„Das Begehren des Menschen ist das Begehren des Anderen“[14] lautet eine These von Lacan. Demnach ist einerseits das, was das Subjekt begehrt durch den ‘großen Anderen’ vorbestimmt sowie auch durch den symbolischen Raum des Subjekts. Das Begehren muss hier soziale Normen überschreiten. Andererseits konfrontiert der Andere in einem Menschen diesen nur mit ihm vermeintlich rätselhaftem Begehren, der Mensch selbst weiß nicht, was er wirklich begehrt.[15] Hutters Reise stellt diese Grenzüberschreitung der sozialen Normen im Dienst der bürgerlichen Institution Ehe dar, die es ihm ermöglicht die gesellschaftlich konstituierten Erwartungen im Sinne der Zeugung von Nachkommen zu erfüllen. Das wird weder im alten noch im neuen Film explizit dargestellt, man muss es sich dazu denken. Was aber deutlicher dargestellt ist – vor allem in der Neuauflage Nosferatu – der Untote wird es explizit gesagt – ist die Rolle von Ellen, die im Laufe des Films ihr Begehren, das sich im Schlagwandeln zeigt, klar als Lust und sexuelles Begehren benennen und artikulieren kann.
Ellen – Die Frau als (zukünftige) Mutter, Jungfrau und Geliebte
Eingeführt wird Ellen in beiden Filmen als typisch-bürgerliche Ehefrau. Im Beisein von Hutter zeigt sich jedoch eine Ambivalenz aus Begehren und Sittlichkeit: Einerseits begegnet ihr mit den abgetrennten Blumen die eigene Angst vor ihrer Entjungferung, andererseits scheint sie enttäuscht, dass Hutter die in ihr aufblühende Leidenschaft abtrennt, und vor der (letztlich unvermeidlichen) körperlichen Vereinigung flüchtet.

Dass der Film von Murnau ins Jahr 1838 verlegt wurde, könnte bei Murnau mit dem Generationenkonflikt in Verbindung gebracht werden, den junge Frauen der Weimarer Republik mit den aus dem 19. Jahrhundert stammenden älteren Generationen austrugen, indem sie für das Bild der neuen Frau plädierten.[16] Ellen könnte in diesem Kontext eine Frau darstellen, die ihr sexuelles Begehren in die Tat umsetzen will, was nach bürgerlicher Erziehung jedoch dem aktiven Part des Mannes zugehörig ist. Mit einer sexuellen Vereinigung wäre sie damit sowohl Opfer als auch Mittäterin.[17] Das ist aber bei Murnau verschleiert. Dagegen ist eben dieses der Frau zugeordnete Begehren, das Verlangen und die Wolllust bei Eggers in der Neuauflage deutlich und wird auch von den Figuren selbst angesprochen. Allerdings bin ich noch unschlüssig wie ich die Aussage des Professors bezüglich der dämonischen Besessenheit zu bewerten habe. Das scheint mir eher nicht modern, sondern angelehnt Filme, in denen Exorzismus betrieben wird, um Frauen ruhigzustellen. Die Misogyne Note wird dann bei der Neuauflage deutlicher, weil der Ekelfaktor aufgrund der Missgestalt und der tatsächlich dargestellten körperlichen Vereinigung von Vampir und Frau gezeigt wird. Das Verlangen ist also wirklich hässlich und todbringend! Vielleicht darf man das aber nicht zu eng sehen, sondern muss es einfach als eine Steigerung der dramatischen Effekte betrachten.
Ellens Hysterie und Schlafwandeln als Symptom für unerfülltes sexuelles Verlangen
Die durch das System gelehrte Unwissenheit steht entgegen dem Begehren Ellens und erzeugt ihre Hysterie (Schlafwandel u.a.). Nun ist Hysterie ja auch ein Begriff, der mit Sigmund Freud in Verbindung gebracht wird und wenn man will, könnten hier durch aus auch Parallelen zu modernen Werken wie Ein simpler Eingriff von Yael Inokai gezogen werden. Dafür ist nun hier aber leider nicht der thematische Platz vorhanden. Murnau hat dieses Paradox anhand eines Szenenwechsels zwischen Ellen, Orlok und Hutter dargestellt: Orloks „Biss“ löst indirekt Ellens hysterische Symptome aus. In der Neuauflage besteht die Verbindung zwischen dem Untoten und Ellen bereits schon länger und wird explizit in den sexuellen Raum gerückt, weil sie schon vor ihrer Heirat mit Hutter schlafwandelte und der Vater sie in eindeutig sexuell konnotierten Posen fand. Möglicherweise wird hier mit der kulturell tradierten Minderwertigkeit oder Unreinheit der Frau (immerhin fragt der Professor auch direkt nach der Menstruation Ellens) ein weites Feld aufgemacht.

Mit Lacan könnte hier bereits die „Auflösung der Symptome [durch] Identifizierung mit dem Phantasma“[18] angedeutet werden, die sich letztlich mit Ellens Opfertod erfüllt, der immerhin in beiden Filmen das Ende darstellt und bei Eggers auch von den Figuren immer wieder als Erlösung benannt wird. „In der Identifizierung mit dem (sozialen) Symptom durchqueren und unterminieren [Subjekte] den phantasmatischen Rahmen, der den Bereich sozialer Bedeutung, das ideologische Selbstverständnis einer bestimmten Sozietät definiert, d.h. präzise den Rahmen, innerhalb dessen das »Symptom« als fremdes, störendes Eindringen erscheint, und nicht als der Ort des Hervorbrechens der ansonst verborgenen Wahrheit der bestehenden sozialen Ordnung.“[19]

Der Orgasmus als Form der Erlösung und Opfertod für die Ehe
Nach Ankunft Orloks in der Stadt und der Ausrufung der Pest (die im zeitgenössischen Kontext als Epidemie im Sinne einer durch sexuelle Offenheit und eine aufgebrochene traditionelle Rollenverteilung mitunter als Degeneration bezeichnet werden könnte) findet Ellen bei Murnau das Vampirbuch. Einerseits scheint es so, als habe sie habe Angst vor dem Gelesenen, andererseits scheint sie auch vor Begehren auf die eigene Opferung zu vergehen.[20] Bei Eggers in Nosferatu – Der Untote weiß Ellen von selbst, was sie tun muss, opfert sich dem Begehren in Form des verwest aussehenden Orlok nicht im unschuldig-weißen Nachthemd, sondern im weißen Brautkleid! Überhaupt ist der Pakt, der zwischen dem Vampir und der Ehefrau Hutters geschlossen wurde, in diesem Sinne als Ehe zu betrachten. Wenn man weiterdenkt, und das gilt schließlich auch für Murnaus Version, dann ist aufgrund des Zusammentreffens von Hutter und Orlok in der Abgeschiedenheit Transsilvaniens das Tier im Manne erwacht, das Ellen ausreichend befriedigen kann (wie sie es tatsächlich auch in der Neuadaption von ihm fordert). Bei Murnau wird Ellen entsprechend sexuell aufgeladen dargestellt: Bekleidet mit einem durchsichtig-weißen Nachthemd lädt sie den Vampir zu sich ein, präsentiert sich ihm unter dem einfallenden Licht quasi nackt und stirbt letztlich den Liebestod (wobei hier auch wieder eine untergründige Motivik erkannt werden kann).

Mit Lacan kann festgestellt werden, dass Ellens Hysterie-Symptome sich nach der Integration in ihr eigenes Universum (durch ihre Hingabe gegenüber dem Vampir) auflösen.[21] Mit ihrer Opferung einhergehen könnte die Annahme, dass das neue Bild der Frau mit einer neuen Rollenverteilung auch zur Zeit der Weimarer Republik nicht angemessen war und weiter am traditionellen Frauenbild des Bürgertums mit seinem Schweigen über Sexualität festgehalten werden sollte. Gerade mit der ambivalenten Darstellung Ellens könnte ein Bruch des Schweigens über Sexualität evoziert werden, um für eine angemessenere Kommunikation zu sorgen und diverse Ängste vor sexueller Unerfahrenheit (auch im Einklang mit den Ergebnissen Siegmund Freuds) zu nehmen. Das ist schwierig einzuschätzen. Bedenkt man aber, dass die Menschen damals den Film eher mit Grauen anschauten, ist davon auszugehen, dass auch im Angesicht der vielen Ratten eher Ekel hervorgerufen wurde. Das ist auch der Fall in der Neuadaption Nosferatu – Der Untote, denn das Bilder schönen toten Ellen, die beim sexuellen Verkehr unter dem deformierten Vampir ausgesaugt wurde, ist nicht ansehnlich.
Hutter – Der Mann zwischen Mutterliebe und bedrohlicher Potenz
Hutter wird ebenfalls ambivalent eingeführt: Er ist fähig Blumen zu ‘töten’, ‘flüchtet֦’ aber vor seiner Frau auf eine Geschäftsreise, die sich im Nachhinein als Initiationsfahrt zu ebenjener letztendlichen sexuellen Vereinigung erweist, vor der er flieht. Die Blumen töten bzw. die Ehe körperlich vollziehen kann er nur in der deformierten Form des Vampirs, indem er der seiner braven bürgerlichen Rolle entflieht. Bei Murnau ist das nicht so deutlich, aber bei Eggers in der Neuauflage wird im Gespräch zwischen Orlok und Ellen konkret auf den Pakt hingewiesen, das Ehegelöbnis, das vollzogen werden muss. Möglicherweise ließe sich jetzt hier auch noch auf Luther und seine Ehegesetze hinweisen. Da würde ich jetzt aber ein Fass aufmachen, also lassen wir das lieber. Mit seiner Flucht wird Hutters sexuelle Unerfahrenheit deutlich und kann als Hinweis auf die zeitgenössisch verbreitete männliche Angst vor der eigenen animalischen Potenz bewertet werden.
Diese animalische Potenz wird in der Figur des Orlok offenkundig und findet sich auch stets variiert in nachfolgenden Vampiradaptionen. Der Vampir als Metapher für Sex „Den Anfang einer wissenschaftlichen Erklärung für Incubus und Succubus liefern die Theorien von Carano and Paracelsus im 16. Jahrhundert, die die Nachtgestalten erstmals als Wesen der Einbildung erkennen. Und auch wenn sie es nicht als solche bezeichneten, legten sie damit den Grundstein zum Verständnis von Incubus und Succubus als sexuelle Fantasien. Trotzdem dauerte es noch einige Jahrhunderte bis Sigmund Freud sie psychoanalytisch als sexuelle Fantasien erklärte, die aus dem menschlichen Konflikt zwischen Begehren und Unterdrückung resultieren. In beiden Nosferatu-Filmenwerden all diese Betrachtungen zu einem komplexen Gewebe aus mittelalterlicher Ikonografie, romantischen Schauervorstellungen und modernen Erkenntnissen der Psychoanalyse zusammengeführt.“[22]
Das Begehren im zeitgenössischen Kontext der Sexualreformen des 19. Jahrhunderts
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts verkündeten diverse Sexualreformen, dass „staatlich sanktionierte Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht […] eine Epidemie zu sein [schien].“[23] In den Texten kam auch das Opfer der Braut und ihre Kapitulation gegenüber dem Mann zur Sprache.[24]

Dabei war der Bräutigam in Zeiten der Weimarer Republik oft taktvoll und sexuell unerfahrener als die Frau.[25] Das Taktgefühl gründete sich auf der (meist unbewussten) Vorstellung, die Frau sei ebenso unantastbar wie die eigene Mutter.[26] Die Darstellung Hutters in der Pietá-Pose[27] in Murnaus Nosferatu kann in diesem Zusammenhang einmal als Erlösungstat aber auch als Mitleid mit dem zwischen Potenz und Erwartung gespaltenen Mann gedeutet werden. In Nosferatu – Der Untote fällt diese Symbolik komplett weg. Das Andachtsbild „dient der persönlichen Versenkung des Einzelnen“[28] und „der privaten Andacht, [wobei diese stets bestrebt ist,] der heiligen Person, der sie sich zuwendet, unmittelbar nahe zu sein [und] im Erlebnisbereich von Gefühl und Empfindung […] in ihr aufzugehen.“[29] Die inszenierte Erlösung kann somit als sexuelles Erwachen Hutters betrachtet werden, der auf dem Schloss zu seinem Begehren bzw. Ellens Begehren findet, wobei der Blutverlust am Finger als Samenerguss gedeutet werden könnte. Und laut Anke Steinborn findet sich das Pietá-Motiv auch bei Ellen, deren Märtyrertod ebenfalls über dieses Bild visualisiert wird.[30]

Das Begehren wecken – Visuelle und Olfaktorische Reize
Hutters Begehren ist bei Murnau geweckt durch Ellens Bild, das hier als Katalysator für die Grenzüberschreitung der gesellschaftlichen Normen steht, erfolgt eine Übertragung des Begehrens auf Hutters animalische Seite, Orlok, der den unbedarften Mann nachts „heimsucht“. In Nosferatu – Der Untote ist es kein Bild der geliebten Ellen, das Hutter bei sich trägt, sondern sie hat ihm eine Locke in ein Medaillon verpackt. An diesem riecht Orlok dann und erkennt den Flieder der abgeschnittenen Blumen. Die Symbolik der durch die getöteten Blumen transportierten Defloration in der Ehe wird hier vorweggenommen. Der Vampir kehrt daraufhin in beiden Filmen als Hutters monströser (und als Verkörperung der bisher verdrängten animalischen Potenz) Doppelgänger mit ihm nach Wisborg zurück. Orlok ist das Schattenbild des reisenden Hutter, eine Nacht-Projektion des Tag-Menschen.[31] Die Doppelgängerthematik wird unter anderem aufgerufen in der Montage der Parallel-Montage, in der die Hutter und Orlok aus Transsilvanien zurückreisen.[32] „Das macht Nosferatu insofern zum Doppelgänger Hutters, als Ellen den Liebhaber bekommt, der Hutter nicht sein will, und das ›Untotsein‹ des Begehrens wird auch in seinen sozialen Konsequenzen gezeigt: Nosferatu bringt die Pest mit sich, die selbst als Kehrseite des Handels gesehen werden kann oder zumindest dieser besonderen Art von Geschäft – Nosferatu ist sowohl Kapitän als auch Ladung, Produzent und Produkt.“[33] Orlok stellt das durch die Ideologisierung des ‘großen Anderen’ verdrängte sexuelle Begehren dar, dass nun die vorgegebenen sozialen Normen überschreitet.

Nach Lacan „muß eine sexuelle Beziehung, um zu funktionieren, durch irgendeine Phantasie maskiert werden“[34] da man im sexuellen Genießen einem anderen am nächsten kommt und diese Begegnung zugleich traumatisch und atemberaubend in ihrer Intensität ist.[35] Auch Hutter, der zu Beginn noch arglos sein Gesicht im Spiegel betrachtet, muss am Ende feststellen, dass der „Nächste … das (böse) Ding [ist], das potentiell hinter jedem einfachen menschlichen Gesicht lauert.“[36] Thomas Elsaesser sieht in Orlok eine kompensatorische Funktion, weil er dem Paar bringt, was ihm fehlt. „Im Kampf zwischen den Geschlechtern rufen beide, Hutter und Ellen, Nosferatu als ihren Zauberlehrling herbei, und beide bekommen sie am Ende mehr, als sie ursprünglich beabsichtigt hatten.“[37]
Licht und Schatten als besondere Effekte in Vampirfilmen wie Nosferatu
In Vampirfilmen, insbesondere in Nosferatu, erfüllen Licht und Schatten eine vielschichtige ästhetische und symbolische Funktion, die weit über die bloße Inszenierung von Atmosphäre hinausgeht. Das Spiel mit diesen Elementen stellt die Dualität von Leben und Tod, Gut und Böse sowie Macht und Ohnmacht dar. Der Vampir stellt dabei das Böse dar, während die Frauenfiguren das Gute darstellen, oft entsprechend in Weiß gekleidet sind wie es Ellen in beiden Nosferatu-Filmen ist. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass Orlok in beiden Filmen auch einen Anteil an dem unbewussten Verlangen und sexuellen Begehren beider Figuren hat. In Nosferatu – Der Untote gibt es eine Szene, in der diese eruptive Kraft auch als sexueller Akt durchgeführt wird – dies ist bei Murnau nicht der Fall.
Schatten werden in Nosferatu ikonisch eingesetzt, um die Bedrohung durch den Vampir zu verdeutlichen. Der berühmte Schatten des Grafen Orlok, der sich unabhängig von seiner physischen Präsenz bewegt, symbolisiert seine unheimliche und übernatürliche Macht.
![Der Schatten von Orlok kommt im Film von Murnau vor und ist auch in der neuen Adaption präsent. Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.](https://literarische-gedankenexperimente.de/wp-content/uploads/2024/07/er-kommt.jpg)
Diese visuelle Strategie erzeugt Spannung und lässt den Vampir allgegenwärtig wirken, als eine Kraft, die sich nicht an die physikalischen Gesetze bindet. Schatten werden so zu einer Erweiterung seines Wesens und verstärken seine mystische Aura.
Licht steht dem entgegen und fungiert als Symbol für Hoffnung, Menschlichkeit und Erlösung. Gleichzeitig ist es auch eine zerstörerische Macht, da es das Ende des Vampirs herbeiführen kann. Dieses Zusammenspiel von Licht und Schatten veranschaulicht die fragile Existenz des Vampirs, der zwischen seiner eigenen Macht und seiner Verwundbarkeit schwankt.
Die visuelle Ästhetik von Nosferatu nutzt das Wechselspiel von Licht und Schatten, um eine dichte, unheimliche Atmosphäre zu schaffen. Es betont die Isolation und den Schrecken, den der Vampir mit sich bringt, und hebt die Grenzen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten auf. Darüber hinaus spiegelt es die psychologische Spannung der Figuren wider, die sich zwischen Faszination und Abscheu gegenüber dem Vampir bewegen. In diesem Sinne sind die Kameraeinstellung in Eggers‘ Nosferatu sehr interessant zu beobachten, wenn Gesichter halb im Schatten verborgen sind oder Lichtpunkte nur auf bestimmte Körperregionen und Bereiche fallen. Licht und Schatten sind narrative Werkzeuge, die zentrale Themen wie Verfall, Unsterblichkeit und die Bedrohung des Menschlichen durch das Übernatürliche untermalen. Sie machen Nosferatu zu einem visuellen Meisterwerk und prägen bis heute die Bildsprache des Vampirgenres.
Schlussfolgerung für die Analyse von Murnaus Nosferatu – Symphonie des Grauens und Eggers‘ Nosferatu – Der Untote
Der Vampir in F. W. Murnaus Film Nosferatu kann im zeitgenössischen Kontext der Weimarer Republik mit dem neuen Bild der Frau und dem damit einhergehenden Aufbrechen traditioneller, bürgerlicher Rollenbilder sowie einem offeneren Umgang mit Erziehung bezüglich Sexualität und einer damit einhergehenden Kommunikation im privaten und öffentlichen Bereich betrachtet werden. Deutlich wird dies an Ellen und Hutter, die jeweils typisch-stereotype Rollenbilder des Bürgertums darstellen, wobei an ihnen das von der Gesellschaft vorgegebene Paradox bestehend aus tabuisiertem und erwartetem Umgang mit Sexualität inszeniert wird.

Bei der Analyse des Verhaltens des Ehepaares in Bezug auf das zeitgenössische Wissen über Sexualität hinsichtlich der traditionellen bürgerlichen Rollenverteilung wurde deutlich, dass die gesellschaftlich angelernte Unwissenheit über Sexualität besonders für neu verheiratete Paare ein beängstigendes Thema war und der Gedanke an die Hochzeitsnacht Ängste schürte, die bereits in Reinheitstrakten des 19. Jahrhunderts aufgezeigt wurden. In der bürgerlichen Gesellschaft galt das Thema Sexualität und die Kommunikation darüber als Tabu, der sexuelle Verkehr in der Ehe wurde aber aufgrund des Zeugens von Nachkommen aber gefordert. Es handelt sich um ein Paradoxon: Ellen ‘opfert’ sich ihrem Begehren, das durch das Begehren Hutters zu ihrem Liebestod und im übertragenen Sinne mit ihrer Entjungferung endet. Hutter verliert sein sittlich-bürgerliches Selbstbild, indem er (durch Orlok) seiner Frau die Unschuld nimmt, und sich damit gegen das Bild der Mutter als einer unantastbaren Frau wendet. Es verwischen hier subjektive und gesellschaftliche Identität, sozial erlernte Rollenbilder mit verzerrten und ebenfalls durch die betriebene institutionalisierte Bildung Sozialisierung hervorgerufenen Bilder über Sexualität, Mutterschaft und Tod der eigenen Identität, wenn nicht den gesellschaftlich geforderten Normen nachgegangen wird mit dem individuellen Begehren und Wunsch nach Liebe und Geborgenheit.

Die Unausweichlichkeit der sexuellen Vereinigung kann von den Figuren im zeitgenössischen Kontext mit Diskussionen um das Aufbrechen der traditionellen Geschlechterrollen sowie einer damit einhergehenden Veränderung im Umgang mit Sexualität und der männlichen Sicht darauf betrachtet werden. Weiterhin könnten (neben vielen anderen Aspekten) die in diesem Kontext ebenfalls latent im Film aufgezeigten Ängste bezüglich Homosexualität sowie eine mögliche Verbindung zu politischen Beschlüssen von 1918 die jüdische Einwanderung aus dem Osten betreffend untersucht werden. Die moderne Adaption von Eggers steigert den Ekelfaktor, verwebt die bereits bei Murnau genutzten Symboliken und setzt schlaglichtartige Verbindungsmotiviken ein, zudem wird das verwerfliche Begehren der Frau noch mehr hervorgehoben.
Verwendete Literatur
Quelle
Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
Robert Eggers: Nosferatu – Der Untote [Film]. Maiden Voyage Pictures, Studio 8, Birch Hill Road Entertainment. 2024.
Literatur
Brennicke, Ilona; Hembus, Joe: Klassiker des deutschen Stummfilms 1910-1930. Mit Bildern aus Kopien von Gerhard Ullmann und einem Vorwort von Xaver Schwarzenberger, München.
Gay, Peter: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986.
Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin 1999.
Prodolliet, Ernest: Nosferatu. Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog, Freiburg 1980.
Spencer, Kathleen L.: Purity and Danger: Dracula, the Urban Gothic, and the late Victorian Degeneracy Crisis, in: ELH 59/1 (1992), S. 197-225.
Steinborn, Anke: Nosferatu. Ein expressionistisches Bewegtbild-Bestiarium, in: komparatistik online 2013: Weltentwürfe des Fantastischen: Erzählen – Schreiben – Spielen, S. 229-243.
Stoker, Bram: Dracula. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier. Nachwort von Elmar Schenkel Stuttgart 2022, S. 324-325.
Volp, Rainer: s. v. Andachtsbild, in: TRE 2 (1978), S. 661-672.
Usborne, Cornelie: The New Woman and generational Conflict: Perceptions of young Women’s Sexual Mores in the Weimar Republic, in: Roseman, Mark (Hg.): Generations in Conflict: Youth Revolt and Generation Formation Germany 1770-1968, Cambridge 1995, S. 137-163.
Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2008.
Žižek, Slavoj: Mehr-Geniessen. Lacan in der Populärkultur. Wo Es war 1, Wien 1992.
[1] Prodolliet, Ernest: Nosferatu. Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog, Freiburg 1980, S. 33. [2] Stoker, Bram: Dracula. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier. Nachwort von Elmar Schenkel Stuttgart 2022, S. 324-325.[3] Prodolliet, Ernest: Nosferatu. Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog, Freiburg 1980, S. 34. [4] Ebd. [5] Ebd. [6] Spencer, Kathleen L.: Purity and Danger: Dracula, the Urban Gothic, and the late Victorian Degeneracy Crisis, in: ELH 59/1 (1992), S. 197-225. [7] Prodolliet, Ernest: Nosferatu. Die Entwicklung des Vampirfilms von Friedrich Wilhelm Murnau bis Werner Herzog, Freiburg 1980, S. 33-34. [8] Ebd., S. 41. [9] Dies könnte sich das Publikum bei den zaghaft und ungelenk wirkenden Küssen und der damit einhergehenden erkennbaren Unerfahrenheit beider zunächst denken und spätestens wissen, wenn Ellen beschließt sich als reine Jungfrau dem Vampir zu opfern. [10] Gay, Peter: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter, München 1986, S. 297. [11] Ebd, S. 190. [12] Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2008, S. 51. [13] Niemand kann seinem Schicksal entrinnen, erfährt Hutter auf der Straße. Der sexuelle Akt ist unvermeidlich. [14] Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2008, S. 59. [15] Ebd., S. 61. [16] Usborne, Cornelie: The New Woman and Generational Conflict: Perceptions of young Women’s Sexual mores in the Weimar Republic, in: Roseman, Mark (Hg.): Generations in Conflict: Youth Revolt and Generation Formation Germany 1770-1968, Cambridge 1995, S. 139. [17] Ebd., S. 144. [18] Žižek, Slavoj: Mehr-Geniessen. Lacan in der Populärkultur. Wo Es war 1, Wien 1992, S. 42. [19] Žižek: Mehr-Geniessen, S. 46. [20] Die Szene im Film kann hier ebenfalls als ambivalent betrachtet werden. [21] Žižek: Mehr-Geniessen, S. 75. [22] Steinborn, Anke: Nosferatu. Ein expressionistisches Bewegtbild-Bestiarium, in: komparatistik online 2013: Weltentwürfe des Fantastischen: Erzählen – Schreiben – Spielen, S. 229-243, S. 239. [23] Gay: Erziehung der Sinne, S. 298. [24] Ebd. [25] Ebd., S. 300. [26] Ebd., S. 298. [27] Es handelt sich bei der Pietá-Darstellung um ein Andachtsbild und insbesondere die Darstellung von Jesus und Maria, wobei das Leiden der Gottesmutter über dem vom Kreuz abgenommen Jesus gezeigt wird. Der Leichnam liegt dabei auf ihren Knien. Siehe auch: Volp, Rainer: s. v. Andachtsbild, in: TRE 2 (1978), S. 661-672. [28] Ebd., S. 662. [29] Ebd., S. 662-663. [30] Steinborn, Anke: Nosferatu. Ein expressionistisches Bewegtbild-Bestiarium, in: komparatistik online 2013: Weltentwürfe des Fantastischen: Erzählen – Schreiben – Spielen, S. 229-243, hier S. 242. [31] Brennicke, Ilona; Hembus, Joe: Klassiker des deutschen Stummfilms 1910-1930. Mit Bildern aus Kopien von Gerhard Ullmann und einem Vorwort von Xaver Schwarzenberger, München, S. 83. [32] Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin 1999, S. 173. [33] Ebd., S. 175. [34] Žižek: Mehr-Geniessen, S. 70. [35] Ebd. [36] Žižek: Lacan, S. 63. [37] Elsaesser, Thomas: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin 1999, S. 174.
Bildquellen
- orlok-Nosferatu: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- begierde: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- Hutter-Blumen: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- Sticken: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- Ellen-traurig: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- biss: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- ratten: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- nachthemd2: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- pieta-Nosferatu: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- sex: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- er-kommt: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- tod: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.
- orlok-löst-sich-auf: Friedrich Wilhelm Murnau: Nosferatu [Film]. Deutschland. Prana Film GmbH, 1922.